Gegen die Spielregeln. Philea Baker

Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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großen runden Tische waren mit feinstem Porzellan und Silber gedeckt, in denen sich das Licht der pompösen Kronleuchter spiegelte. Gebinde aus roten Rosen verströmten einen betörend sinnlichen Duft. Im hinteren Teil des Raumes spielte ein Orchester einen Walzer von Strauß. Die Töne schwebten leise über dem Murmeln der Menge dahin. Noch war das Spiel der Musiker verhalten, bald schon aber, nach dem Essen, würde die Musik den Abend dominieren. Die Abendsonne warf ihre Strahlen durch die großen Balkonfenster und ließ das Kirschholzparkett feurig aufleuchten.

      »Mr. Bridgetown, Mrs. Bridgetown.« Ein junger Mann trat auf sie zu. Der blassen, sommersprossigen Haut nach zu urteilen, ein Ire. Alessa schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre. Interessiert betrachtete sie ihn. Auch er warf ihr einen neugierigen Blick zu.

      »Mr. Carlisle!« Ihr Onkel lächelte erfreut auf, während er ihm die Hand schüttelte. »Meine Frau Beth und meine Nichte Alessa Arlington, wenn ich vorstellen darf.«

      Alexander Carlisle! Verblüfft hielt Alessa die Luft an. Natürlich hatte sie von dem Ausnahme-Ingenieur gehört, der für die White Star Line arbeitete. Carlisle nahm ihre Hand. Formvollendet verbeugte er sich, einen Kuss andeutend, wie es sich schickte. Als er sie wieder anblickte, lächelte er.

      »Wo sitzen Sie, Mr. Carlisle?«, nahm Richard Bridgetown den Faden wieder auf, nachdem Carlisle auch Beth seine Aufwartung gemacht hatte.

      »Ich sitze in der Mitte.« Carlisle deutete auf die erste Reihe. Sie verabredeten sich für ein späteres Gespräch und Carlisle erbat sich von Alessa und Beth die Erlaubnis, sie später zum Tanz auffordern zu dürfen. Einer der Diener führte sie zu ihrem Tisch. Das freudige Gefühl, das sie bis eben erfüllt hatte, schwand schnell, als sie sah, wer sie dort erwartete. Natürlich hatte sie gewusst, dass er dem Ball beiwohnen würde. Aber sie hatte es bis auf die letzte Sekunde verdrängt. Wieder wurde ihr bewusst, wie sehr er sie anwiderte.

      »Alessa! Onkel Richard, Tante Beth!« Gerald Bonniers stand sogleich auf, um sie zu begrüßen. Er war von mittelgroßer Statur und somit fast mit ihr auf Augenhöhe. Sein Gesicht, das unterhalb der Wangenknochen leicht eingefallen war, erinnerte ein wenig an einen Vogel, was durch die eng beieinanderstehenden Augen und die leicht gekrümmte Nase noch unterstützt wurde. Als Franzose trug er ausschließlich Haute Couture de Paris. Die braunen Haare teilte ein weit seitlich gezogener Scheitel. Alles an ihm wirkte seltsam übertrieben. Sie zuckte heftig zusammen als er seine feuchten Lippen auf ihren Handrücken drückte. Über seinen gebeugten Rücken hinweg warf sie ihrem Onkel einen verzweifelten Blick zu. Aber dieser zeigte sich unbeteiligt. Weil Bonniers ihre Hand länger als nötig für sich beanspruchte, zog sie sie schließlich entschlossen zurück. Gerald Bonniers sah sie einen Moment lang überrascht an, fasste sich aber schnell wieder und wandte sich Richard und Beth zu.

      Das Essen an Bonniers Seite schien Alessa schier endlos und gestaltete sich umso unerträglicher, als dieser die Unterhaltung mit Selbstkomplimenten zu spicken verstand. Sie entfernte sich schließlich von der Tischrunde, um ein wenig mit Eliza Berett zu plaudern, die mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Nachbartisch saß. Gespannt blickte sie sich während des Gespräches um. Von ihrem Onkel hatte sie in Erfahrung bringen können, dass einige spanische Schiffsoffiziere anwesend sein würden. Gerade die Spanier hatten sich beim letztjährigen Ball als die besten Tänzer erwiesen. Außerdem gab es noch eine andere Person, nach der sie Ausschau hielt. Aber er war nirgends zu sehen. Ihren Onkel hatte sie nicht zu fragen gewagt, ob dieser Jemand kommen würde. Auch wenn es irrational war, so befürchtete sie doch, allein das Aussprechen seines Namens könne etwas in ihr verfestigen, was sich auf keinen Fall verfestigen sollte.

      »Suchst du die spanischen Schiffsoffiziere?«, fragte Eliza augenzwinkernd.

      »Erwischt!« Sie lachte. Eliza war ihre engste Vertraute; sie kannten sich seit Kindertagen. Sie hatte Esprit, Witz und Charme. Zudem war sie sehr attraktiv. Stets wurde sie von Männern umschwärmt. An diesem Abend würde es genauso sein, spätestens, wenn die Tanzfläche freigegeben würde. Ihr Blick glitt bewundernd über ihre Freundin. Eliza hatte ihre dunkle Haarpracht zu einem mit Zöpfen durchwobenen Dutt aufgesteckt. Ihr lindgrünes Satinkleid bestach durch seine Schlichtheit und brachte ihre perfekte Figur deutlich zur Geltung. Eliza war schlank, ihre Haut weiß wie Schnee – ganz im Gegensatz zu der ihren.

      »Dort drüben, sieh nur! Das ist ja der reinste Augenschmaus.« Eliza deutete mit dem Kinn auf den hinteren Bereich des Raumes. Ja, sie sahen wirklich hinreißend aus, diese Spanier. Wenn auch nicht so gut wie John. Oder Ryon Buchanan. Augenblicklich verkrampfte sie sich. Ryon Buchanan hatte nichts in ihrem Leben verloren. Dennoch hatte er ihr Herz berührt und sich in ihren Gedanken verankert – sie konnte die Begegnung auf der Bothnia nicht vergessen. Ohne Unterlass spukte er in ihrem Kopf herum. Die letzten zwei Tage war sie mit Florence zu einem Informationsaustausch zum Thema Gesundheitswesen in einem anderen Krankenhaus gewesen. Die Gedanken wieder einmal bei den Geschehnissen auf der Bothnia, hatte sie dem Fachgespräch kaum zu folgen vermocht. Als Florence sich schließlich zu ihr gebeugt und gefragt hatte, ob ihr der Kaffee schmecke, war sie überhaupt nicht in der Lage gewesen, zu verstehen, was diese von ihr wollte. »Er schmeckt vorzüglich«, hatte sie deshalb geantwortet. Florence hatte daraufhin mit säuerlichem Blick erwidert: »Dann ist es ja gut, Alessa. Die Schülerinnen werden sich in der nächsten Stunde sicherlich freuen, wenn du über die Kaffeequalität berichten wirst.« Sie hatte sich über Florences sarkastische Art geärgert, obwohl sie deren Unmut in jenem Moment nachvollziehen konnte. Florence nahm sie nicht mit, damit sie träumend dabeisaß, wenn es galt, etwas zu lernen. Ryon Buchanan bestimmte ihr Denken und sie ließ es geschehen. Wieder und wieder. Am vorangegangenen Abend hatte sie die Skizzen überarbeitet, die sie im Kreißsaal angefertigt hatte. Auch hier hatte er sich in ihre Gedanken gedrängt, denn sie hatte die Skizzen beiseitegeschoben, um ihn zu zeichnen. Sie hatte ihn so klar vor sich gesehen, als stünde er vor ihr. Dabei war ihr wieder bewusst geworden, wie groß er war: Er überragte sie um Kopfeslänge – und sie war keineswegs klein. Sein Körperbau war feingliedrig und schlank. Anders als bei den meisten Männern war sein Kehlkopf nur eine schwache Andeutung. Das verlieh seiner Erscheinung zusammen mit dem streng geflochtenen, hüftlangen Zopf sowie der vollen, wie von Meisterhand geschaffenen Oberlippe und den nach oben hinauslaufenden Mundwinkeln etwas Feminines. Die melancholisch wirkenden schwarzen Augen, umrahmt von dichten Wimpern, hatten etwas Magisches an sich, als bärgen sie das Leben aller vorangegangenen Generationen, eine verborgene Geschichte in sich. Überhaupt war alles an ihm sehr eigen. Seine Hand in der ihren zu fühlen war wie ein Schock gewesen, und sie erinnerte sich genau, wie bemüht sie gewesen war, konzentriert seine Brandblasen zu versorgen, sich abzulenken. Fast hatte es sie gefreut, dass sie einen Makel an ihm gefunden hatte: die wilde Braue über seinem linken Auge. Vermutlich lag eine Narbe unter dieser verborgen. Nein, er war nicht perfekt, kein außerirdisches Wesen, sondern ein Mensch wie jeder andere auch! Diese Erkenntnis hatte jedoch nicht ausgereicht, ihn aus ihren Träumen zu bannen. Dabei war sie doch in John verliebt! Ihr zukünftiger Mann konnte nichts anderes sein als ein Mediziner. Sie blickte sich erneut um. Ryon war wirklich nicht hier. Vielleicht blieb er dem Ball fern, weil er in Trauer war. Es gab so viele Menschen um sie herum: Wer brauchte ausgerechnet ihn? Sie spürte, wie sich ihre Unterlippe vorschob, auf die Fiodora zu gerne starrte, wenn sie wütend auf sie war. Vor Jahren hatte sie einmal den Satz »Ihr steht der Trotz ins Gesicht geschrieben – immer diese vorgeschobene Unterlippe!« fallen lassen. Seitdem kam ihr diese Bemerkung stets in den Sinn, wenn ihr bewusst wurde, dass ihre Lippen einen Schmollmund formten. Es ärgerte sie. Fiodora war nicht da. Sie hatte nichts in ihren Gedanken zu suchen. Nicht heute Abend.

      Endlich war es soweit und die Musik spielte zum Tanz auf. Alessa sah, wie Onkel Richard Tante Beth zur Tanzfläche führte. Die beiden gaben ein bemerkenswertes Paar ab. Ein beklemmendes Gefühl legte sich um ihre Brust.

      »Alessa? Was ist?« Eliza kniff sie in den Unterarm.

      Alessa schüttelte den Kopf, als könne sie damit die Gedanken und Gefühle, die gerade in ihr aufstiegen, abschütteln. »Nichts. Es ist gar nichts.«

      Eliza lächelte sie aufmunternd an. Vermutlich wusste ihre Freundin, was in ihr vorging. Es war nicht nötig, darüber zu sprechen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn ihre Mutter und ihr Vater noch lebten und sie es wären, die dort tanzten. Und die glücklich miteinander wären.

      »Alessa?«


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