DAS VERGESSENE TAL. William Meikle
wir rauf«, behauptete Noble.
»Das ist viel zu steil«, widersprach ihm Gus. »Außerdem liegt Ihre Endstation deutlich oberhalb der Schneegrenze und der Weg ist selbst zu dieser Jahreszeit absolut unpassierbar. Dort oben lebt nichts, also geht dort auch niemand auf die Jagd. Ich kenne keinen, der je versucht hat, dort hinaufzukommen. Wahrscheinlich war dort noch nie irgendjemand.«
Noble grinste triumphierend. »Doch! Die besagte Expedition vor knapp hundertfünfzig Jahren. Mit unserer Ausrüstung und Ihrer Erfahrung schaffen wir diese Strecke auch.«
»Sie haben vorher nie etwas davon gesagt, dass Sie so hoch rauf wollen«, protestierte Gus. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Auftrag gar nicht erst akzeptiert. So etwas ist selbst für Leute, die oft in den Bergen sind, äußerst riskant. In dieser Höhe kann ich einfach nicht für Ihre Sicherheit garantieren.«
»Ich verrate Ihnen etwas«, erwiderte Noble. »Wenn Sie uns in das Tal bringen, haben Sie für Jahre finanziell ausgesorgt, denn wenn wir finden, was wir suchen, werden die Leute scharenweise dort hoch und runter wollen … und für diese Leute ist ein versierter Bergführer von Ihrem Format absolut unentbehrlich.«
Jess konnte die Registrierkasse, die in Gus Gehirn losratterte, fast hörten. Noble bekleidete nicht umsonst den Chefposten in der Verkaufsabteilung. Er konnte einem Trottel das letzte Hemd abschwatzen, oder auch einen Bergführer dazu überreden, ein Wagnis einzugehen, auf das er sich normalerweise nie einlassen würde.
»Was meinst du, Danny?«, fragte Gus. »Bist du bereit für ein Himmelfahrtskommando? Für dich würden vierzig Prozent rausspringen.«
Der Jüngere der beiden Bergführer lächelte. »Mehr Kohle für Bier hat doch noch niemandem geschadet.«
Geht doch, dachte Jess.
***
Nachdem sie den schwer verdaulichen Eintopf gegessen und einiges mehr an Kaffee heruntergeschüttet hatten, schien Gus immer noch über den Deal nachzugrübeln.
»Okay«, sagte er schließlich. »Wir klettern da hoch, aber dann muss ich auch wissen, wieso. Was gibt es dort so gottverdammt Wichtiges, dass ihr Städter ein so gefährliches Abenteuer in der Wildnis wagen wollt?«
Mike öffnete daraufhin den Reisebericht und las eine Passage vor, die Jess schon beinahe auswendig kannte.
An der Stelle, an der die Goldader am Eingang des Stollens zutage tritt, ist sie fast zwei Meter dick und sie scheint tiefer im Felsen noch mehr anzuschwellen. Mit dem richtigen Werkzeug und tauglicher Ausrüstung könnten wir einen Reichtum erlangen, der sogar den legendären Krösus armselig wirken lässt.
Gus dröhnendes Lachen hallte von den Wänden wider. »Und ich habe gedacht, ihr wollt Bigfoot einfangen. Hier in den Bergen gibt es mehr vergessene Minen, als ich in meinem Leben an Mahlzeiten verputzt habe.« Er tätschelte seinen Bauch. »Und das waren etliche, wie ihr sehen könnt.«
»Der Bericht ist wahr«, insistierte Noble trotzig. »Wir haben ihn zur Genüge überprüft.«
Gus lachte wieder. »Sie wiederholen sich. Vielleicht ist er das ja auch, aber der Kerl, der ihn geschrieben hat, hatte im Hirnkästchen eindeutig einige Schrauben locker. In den Bergen haben schon etliche Männer den Verstand verloren. Wer weiß denn, ob er nicht einfach irgendwelche Hirngespinste in sein Buch gekritzelt hat … irgendwelche verrückten Einbildungen.«
»Die Mine ist real«, beharrte Noble.
Die Aussicht auf Reichtum verdrängte alle anderen Gedanken in Nobles Kopf. Jess war sich hingegen durchaus im Klaren darüber, dass der Bericht auch andere Passagen enthielt, die Gus Skeptizismus untermauerten. Derart verrückt, wie diese waren, hatten sie sich in einer Endlosschleife in ihrem Gedächtnis eingenistet und weigerten sich nun von dort zu verschwinden.
Der Tiger hat letzte Nacht Franks geholt, während er gemeinsam mit Jeffries Wache geschoben hat, obwohl die beiden ein beachtliches Lagerfeuer entfacht hatten. Die Bestie scheint keinerlei Angst zu fühlen, weder vor uns noch vor den Flammen. Sie hat Franks einfach gepackt und ihn in die Finsternis der Nacht gezerrt, bevor Jeffries ihr Auftauchen überhaupt bemerkt hat. Franks laute Schreie und deren Echo von den Bergwänden raubten uns allen den Schlaf. Seine Leiden währten aber glücklicherweise nur kurz.
»Das muss ein Berglöwe gewesen sein«, hatte Noble damals behauptet. »In der Dunkelheit hat sie halt das große Nervenflattern überfallen, das ist alles.« Im Anschluss daran hatte er sich die Lektüre der merkwürdigen Inhalte der Notizen einfach gespart und sich sogar geweigert, darüber zu diskutieren.
Sobald Noble weg gewesen war, hatten Jess, Mike und Erik neugierig darin gelesen und versucht die reale Bedeutung der ihrer Meinung nach fantastischen Begebenheiten zu erfassen. Lediglich die Tatsache, dass Mike die Lage des Tals punktgenau hatte bestimmen können und die Kohärenz der vorderen Seiten des Berichts, erlaubten es Jess, ihre Zuversicht aufrechtzuerhalten. Denn die hinteren Seiten, die mit einer Mischung aus zusammenhanglosen Fragmenten mit wenigen Sätzen und selbst angefertigten Skizzen des Autors vollgeschmiert waren, boten genug Gründe, trübe Gedanken zu wälzen.
Johnson will die Höhle nicht mehr verlassen. Das Goldfieber hat ihn vollständig erfasst, aber er fürchtet auch die Schrecken, die das Tal für uns bereithält. Wir müssen ihn zurücklassen. Wir sind hier unerwünscht.
Sie haben Williamson aufgefressen. Er hat noch gelebt, als sie seine Leber herausgerissen haben. Ich konnte ihm nicht helfen. Ich bin einfach davongerannt. Gott vergib mir.
Der Tiger hat mittlerweile meine Witterung aufgenommen. Ich kann hören, wie er mir folgt. Ich habe mich mit dem Kot der Waldelefanten beschmiert, um meinen Geruch zu überdecken. Großer Gott, ist das ekelhaft.
Mir bleibt wenig anderes übrig, als zu klettern und mich zu verstecken … klettern … und … verstecken. Es ist bitterkalt und über mir kreisen unentwegt die Adler und beobachten mich. Zumindest sind mir die anderen Bestien nicht nach hier oben gefolgt. Bis jetzt zumindest … noch haben sie unten genug Fleisch zum Fressen. Gott verzeih mir, denn ich habe sie im Stich gelassen.
Damals
Ich kann kaum glauben, dass wir uns nur aufgrund einer Legende und aus einer Laune heraus bis zu solchen Höhen hinaufgekämpft haben. Johnson vertraut immer noch eisern auf die Wahrhaftigkeit der Geschichte, die ihm der Indianer erzählt hat. Nun sind wir also hier – weit abseits aller gangbaren Wege und werden auf Gedeih und Verderb weiter klettern, geleitet von einem alten Indianer, der seine Sinne vielleicht gar nicht mehr ganz beisammen hat.
Trotz seines Alters zeigte er uns jüngeren Männern, wie eine richtige Bergbesteigung vonstattengeht. Er legte dabei ein Tempo vor, bei dem wir kaum mithalten konnten. Nach den Anstrengungen des heutigen Tages, bin ich mir ungewiss, ob meine Beine mich morgen auch nur noch einen einzigen Schritt weiter zu tragen vermögen. Doch die verdiente Nachtruhe in unserem Zelt mag dem vielleicht Abhilfe verschaffen. In der Mitte unserer im Kreis aufgebauten Zelte flackert ein starkes Feuer. Die Brise ist genauso kalt wie befürchtet. Die pelzgefütterte Jacke, die ich in Banff erworben habe, leistet mir gute Dienste, dennoch wünschte ich mir ein zusätzliches Paar Socken herbei, denn meine Füße gleichen mittlerweile Eiszapfen.
Wir alle sitzen im selben Boot, deshalb besteht auch kein Grund zur Klage. Unser Aufenthalt hier ist für uns alle aufregend und eine gegenseitige Kameradschaft und Freude herrscht vor, die uns den Erfolg gestatten wird, trotz unserer Wehwehchen.
Der greise, indianische Führer beförderte uns zur ersten Zwischenstation und wir dankten ihm herzlich dafür. Doch nun besteht er darauf, nicht weiter vordringen zu wollen. Er glaubt, dass das Tal der träumenden Indianer ein heiliger, seinen Göttern geweihter Ort ist, dessen Störung ihn zu Unglück auf der Jagd