Techno der Jaguare. Nino Haratischwili
sich ebenso daran wie an alles Gewohnte.
Der gewohnte Liebhaber rief an, aufgeregt hechelnd. Er sabberte vor Lust. »Schnell, ich habe eine halbe Stunde frei, in fünf Minuten bin ich bei dir und kann zwanzig Minuten bleiben. Dann muss ich wieder weg.« Atemlos fuhr er fort: »Und heute Abend steigt eine grandiose Party, echt lebenswichtig, da müssen wir einfach hin! Springbrunnen und Feuerwerk, ein Riesen-Tamtam, ganz nach deinem Geschmack. Die Location schlechthin! Wirf dich in Schale, da ist cooles Outfit angesagt, Mensch!«
Die Nachbarin kam vorbei – »Hast du zufällig einen Löffel Kaffee zu Hause?« – und zündete sich gemächlich eine Zigarette an.
»Wow, krass! Wo hast du das denn her?« Sie deutete auf das Buch.
»Aus einem Antiquariat.« Tino drehte ihr den Nacken zu, um ihr einen genaueren Blick auf das Buch zu ermöglichen. »Kannst du mir sagen, was drinsteht?«
»Komm, zeig mal her …« Gleichgültig blätterte die Nachbarin die Seiten durch. Sie gehörte zu den Menschen, die ein Buch in erster Linie nach seinem Cover beurteilten.
Mit klopfendem Herzen wartete unser Buchköpfchen auf die Antwort, sie wartete ebenso sehnsüchtig darauf wie auf einen Anruf des Geliebten im grauen Alltag, wie auf das Verschwinden der Nachbarin vor dem Erscheinen des Geliebten.
»Da steht gar nichts.« Die Entwicklungsperspektive der Unterhaltung schrumpfte auf null.
»Wie, nichts? Überhaupt nichts?« Tino bekam es mit der Angst zu tun – und wie!
»Überhaupt nichts.«
»Aha …« Jetzt wünschte sie sich umso mehr, dass die Nachbarin endlich ginge.
Der Kaffee in den Tassen dümpelte fade, halb ausgetrunken.
Die Nachbarin spürte Tinos Gereiztheit. Irritiert stand sie auf, um sich zu verabschieden.
»Das Cover ist echt stark …«, versuchte sie ihre Taktlosigkeit zu überspielen.
»Mit einem Softcover würde ich mich auch gar nicht erst abgeben!«, erwiderte Tino schnippisch.
Die Nachbarin verschwand.
Tino zog sich schnell noch um, bevor ihr Liebhaber kam. Sie schlüpfte in ein Kleid, das er ihr geschenkt hatte, und bemerkte, dass sich die Bücher der Farbe des Kleides anpassten.
Das Kleid – feuerrotes Tuch – lud zum Ausziehen ein. Begeistert ging ihr Liebhaber darauf los wie ein Stier und spießte Tino auf die Hörner, die er seiner Frau aufsetzte.
Danach hechelte er wie ein Hund und entdeckte nun auch das Buch auf Tinos Kopf, aber er wollte seine Atlasschulter, auf der bereits die gesamte Geschäftswelt ruhte, nicht noch zusätzlich belasten.
»Kannst du mir sagen, was da drinsteht?« Tino schmiegte sich an ihren Liebhaber, der wie durch Herakles’ List der Geschäftswelt entrückt schien, und raschelte vor seiner Nase mit den Seiten des Buches.
»Ich hab doch gesagt, du siehst toll aus«, brummte er.
»Aber was steht denn nun drin?« Sie tippte sich an den Kopf.
Der Liebhaber warf einen kurzen Blick in das Buch und gähnte.
»Jährliche Berechnung des Einkommens, Kredite, Bilanzen – alles Excel-Tabellen. Sonst nichts.«
Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. ›Dann muss ich ja ziemlich klug aussehen …‹, dachte sie geschmeichelt.
»Ich muss jetzt los!« Hastig sprang er zu dem Stuhl, auf den er seine Socken und die Krawatte geworfen hatte, und streifte beides umgehend über, während seine Partnerin taktvoll auf ihre Armbanduhr schaute, um sich nicht anmerken zu lassen, dass der Anblick eines nur mit Socken und Schlips bekleideten Mannes nicht gerade ein Augenschmaus war.
»Punkt elf heute Abend musst du fertig sein!« Sie küssten sich flüchtig in der Tür. »Und wirf dich in Schale: cooles Outfit!«, mahnte er noch.
»Tino, du bist vielleicht ein Glückspilz!« Eine Freundin kam herein, wie immer up to date. »Und …? Will er dich heiraten?«
Mit Krediten und Bilanzen war diese Freundin nicht zu beeindrucken.
»Wieso heiraten? Das würde ich nicht gerade Glück nennen! Wer braucht schon solche ausgeleierten Beziehungen? Ach, was! Er kommt, macht mich glücklich und geht wieder; er kommt und geht einfach. Gerade jetzt ist er wieder gegangen. Er trennt sich nicht von ihr und wird sich auch nicht von ihr trennen. Dann eben nicht, ist mir doch egal!« Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder seine Socken über dem Stuhl hängen, und so versuchte sie es mit einem angenehmeren Gesprächsthema.
»Schau mal hier!« Sie fasste sich an den Kopf, um die Blätter zu ordnen.
»Hast du etwa Läääuseeee?« Die Freundin kreischte entsetzt auf, und Tino kreischte mit, aber dann kam sie wieder zu sich.
»Bist du verrückt? Das fehlte mir noch! Nein, nur einen Bücherwurm!«
Die Freundin vertiefte sich in das Buch. Mit Tränen in den Augen rasselte sie vor Tino den Inhalt einer Seifenopern-Folge herunter, als handelte es sich um einen Auszug aus der Sonntagszeitung oder aus einem Groschenroman. Es klang ungefähr so:
»Hand in Hand spazierten sie die Allee entlang. Er, Don Juan, deklamierte inbrünstig, dass er bis jetzt noch keiner Frau seine Liebe erklärt hätte. Dona Silvia schwieg. Der Mann wandte sich ihr mit wilder Entschlossenheit zu und eroberte ihre heißen Lippen. Ihr Körper sehnte sich mehr und mehr nach dem seinen, und sie versuchte, sich zur Vernunft zu rufen. Ihr Ruf blieb ohne Antwort. Die Hand des Geliebten aber schlängelte sich schon in ihr Dekolleté. Plötzlich öffnete sich die Truhe ihrer Erinnerungen und leerte sich über ihr aus, die Ermahnungen ihres Erziehers überschwemmten sie.
›Nein, Don Juan! Nein!‹, rief sie vieldeutig aus. ›Du hast mich verraten!‹
›Nicht nein, ja!‹ – Der feurige Macho war wie von Sinnen.
›Genau das sage ich doch!‹, empörte sich Dona. ›Verräter!‹ – Klatsch!
Sein Blick wanderte nach oben, zum Mond, der sorglos in den Zweigen der Birken schaukelte.
›Du wirst mich niemals wiedersehen!‹, rief er pathetisch und jagte sich seine Machete in die linke Brust. Natürlich besaß er eine Machete, Macho, der er war.
›Don-Juan-Giacomo-José-Carlos-Carrera-Alejandro! O nein! Ich bin für immer … dein!‹
Der Don gab seine Seele Gott zurück und seinen Leib der Fazenda.«
Die Tränen der beiden Freundinnen flossen wie Bäche, und als das Schluchzen nachgelassen hatte, sagte Tino: »Ja, das ist viel besser.« Sie warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu. »Mit dem Inhalt kann man sich getrost überall blicken lassen. Komm, lass uns gehen. Ich muss noch kurz bei einer Totenmesse vorbeischauen. Steht es mir, wenn ich das Buch geschlossen trage?«
»Sieht super aus! Dir steht sowieso alles!« Die Freundin beäugte das kleine Buch in ihrem Nacken.
»Das lass ich dich ein andermal lesen!« Tino versuchte, sich herauszumanövrieren. Ihr sechster Sinn sagte ihr, dass dieses Büchlein besser ihr Geheimnis bleiben sollte.
Der Weg zur Totenmesse folgte der Marschroute der Gewerkschaftsdemonstration, vielleicht folgten auch die Gewerkschafter selbst der Straße zum Friedhof, und mit ihrem Marsch produzierten sie unentwegt Verkehrsstaus.
In Vorbereitung auf die Totenmesse, so um sieben Uhr am Abend, zeigte sich das Buch in einer akademisch-strengen weinroten Färbung unter einer Goldprägung; das Buch in ihrem Nacken bevorzugte eine zarte Blässe mit einem Silbertouch.
Trotz ihrer hohen Absätze fing sie an zu laufen – um einen Ausweg zu finden. Sie hatte Angst vor den Leuten, und so verließ sie den selbstsicheren Strom der Straße, wurde aber auf dem Gehsteig von einem quer gestellten, selbstgezimmerten Verkaufsstand aufgehalten, auf dem sich Bücher stapelten.
Der rüstige, elegante Verkäufer in seinem abgetragenen