Techno der Jaguare. Nino Haratischwili

Techno der Jaguare - Nino Haratischwili


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völlig Neues für sie. Misstrauisch beäugte sie den Mann. Bestimmt waren seine Machenschaften die Ursache dafür, dass in ihrem Kopf Bücher sprossen, beschloss sie. Sie beobachtete ihn lange, und schließlich stöckelte sie zu ihm hinüber.

      »Ähm, wie soll ich sagen … Wissen Sie … Welches Buch würden Sie mir empfehlen?«

      »Werteste junge Freundin, Sie sollten Don Quijote lesen!« Seine Augen lächelten sie an. Das Gleiche hatte übrigens ein berühmter Chirurg geantwortet, auf die Frage eines Studienanfängers, der wissen wollte, wie man Arzt wird.

      Dieser seltsame Mann war keinesfalls langweilig, aber im Wind schlugen Tinos Bücher wie wild mit den Seiten, und es gab keinen Unterschied zwischen ihnen, weil sich auch der Buchhändler mit beiden Händen zu schützen versuchte. Wehende Winde und sich drehende Windmühlenflügel verstärkten nicht gerade ihren Kampfgeist.

      »Kaufen Sie auch Bücher an?«, fragte Tino und fasste sich an den Kopf.

      »Je nachdem, um was es sich handelt.« Die Melancholie des Buchhändlers war grenzenlos, wie die äußere Hülle des Leviathan. Tino ließ ihren Blick pro forma über die Auslage schweifen. »Ich schaue in den nächsten Tagen noch mal vorbei«, murmelte sie, dem Stand zugewandt, denn die Augen des Händlers flößten ihr Furcht ein.

      »Ich erwarte Sie morgen, bei Tagesanbruch.« Der Buchhändler benahm sich wirklich verdächtig.

      Der Taxifahrer hatte seinen Schlagersender eingeschaltet und war in der Musik versunken wie die rote Sonne im Meer bei Capri. Erst als sie ausstieg, wandte er sich seiner Kundin zu: »Das sehe ich zum ersten Mal, dass so eine hübsche junge Frau wie Sie einen Malerhut aus Zeitungspapier trägt!«

      Die Straße war gesperrt. Tino hatte Mühe, sich den Weg durch die Demonstranten zu bahnen. Manch einem schien sie einen Papyrus auf dem Kopf zu tragen, manch einem einen verstaubten und altmodischen Folianten, die Mehrheit aber nahm sie als eine Apologetin wahr, der die Memoiren Tausender demokratischer und überparteilicher Führer als Kopfbedeckung dienten.

      »Als wessen Text werde ich hier eigentlich gelesen?« Aufgebracht setzte Tino die Ellenbogen zu ihrer Verteidigung ein. Die Bücher entflammten, als hätte man sie ins Kaminfeuer geworfen, wurden zu Asche und stiegen dann wieder auf wie ein Phönix: wieder in DIN-A5-Größe, 120 mg, gelbes Papier, Fadenheftung, mit einem farbigen, festen Einband, laminiert, reich verziert, mit verschnörkelten Beschlägen und Goldprägung.

      Bei einer Wechselstube bog sie ein, und bald darauf mischte sie sich unter die Trauergäste.

      Die Angehörigen schauten missbilligend auf ihre weinroten Bücher. Tino erstarrte. Sie war in ein Fettnäpfchen getreten.

      So stellte sie sich verschämt in den Hauseingang. Ihr flehender Blick musterte die Besucher, fand aber kein einziges bekanntes Gesicht. Mit gesenktem Kopf und auf ihr Handy konzentriert, harrte sie noch die obligatorischen zehn Minuten aus, dann verschwand sie in Windeseile.

      »Warten Sie doch!«, rief jemand von oben hinter ihr her. »So einen spannenden Krimi findet man nicht auf dem Markt …«

      Tino ging umso schneller weiter.

      »Tja, wie immer: an der interessantesten Stelle …«, seufzte der Liebhaber kostenfreier Lesesäle.

      Von der Fülle der Eindrücke überwältigt, beschloss Tino, sich erst einmal hinzulegen. Im Schlaf leerte sich ihre Festplatte wieder. Gut erholt wachte sie auf, gerade rechtzeitig, um die Einladung zur Party wahrzunehmen.

      Ein Kleid mit Schlangenhautmuster, figurbetont, rückenfrei und hochgeschlossen, knöchellang und breit ausgestellt, Handtasche und Schuhe aus vergoldetem Krokoleder, das einseitig gescheitelte Buch diamantbesetzt und das kleinere im Nacken wie eine Jubiläumsausgabe in Kängurufell gebunden – ihretwegen brauchte sich ihr Geliebter wirklich nicht zu schämen.

      Sie verriegelte das goldene Schlösschen des Buchs in ihrem Nacken: niemand sollte in ihren Büchern etwas lesen können. Sie war die Inkarnation des Mysteriösen.

      ›Belesenheit‹ in Bewegung

      Der Geliebte kam mit einem offenen weißen Cabrio herangerauscht wie ein Playboy, »machen wir die Nacht zum Tage« usw., öffnete galant zuerst die Tür seines fahrenden Fetischs, dann die der Bar darin, und taramtaram turumturum …

      Das Restaurant hieß Ein weites grünes Feld – der Rasen war feucht, der Springbrunnen weiß, daneben antike Säulen und bengalische Feuer, »Nein, so viel kann ich nicht trinken!« usw., mit Bandmusik und Jazz und »Hat doch alles keinen Sinn!« und taramtaram und turumturumtaram …

      Mit Messer und Gabel und Sektglas und schwarzem Kaviar. Mit trockenem Obst und Nüssen und aufgespießten Oliven und taramtaram turumturum …

      Mit Saxophon und Fagott und Fagott und Flöte und Gartenbank, mit Bussi links und Bussi rechts und Gesellschaftsdrama. Mit Charme und Flirt, Flüstern und Taxieren. Was will man mehr? Taramtaram turumturum …

      Oh, was das gegenseitige Taxieren angeht … Die Frisuren der anwesenden Damen … taramtaram …

      Auch sie hatten ihre Bücher festlich toupiert …

      Zum Beispiel die eindrucksvoll wirkende junge, rundliche, fröhlich lächelnde Frau mit einem Zopfkranz und wie Kopfhörer um die Ohren gelegten Büchern.

      Oder die stattlich aussehende, strenge, schmalgesichtige Dame, die ihre Bücher siebenfach auf dem Nacken gestapelt hatte.

      Besondere Aufmerksamkeit erregte die Tangotänzerin mit dem papierfreien Nacken und dem wie ein Pony in die Stirn fallenden Titelblatt.

      Auch bei der Kleidung dominierten die Bücher. Wie die Adelsfrauen der Renaissance trugen einige einen hochgeschlossenen, königlichen Buchkragen, so dass man meinte, das Buch wachse ihnen direkt aus dem Hals …

      Die Männerfrisuren waren meist in schwarze Businessmappen gehüllt, mit ebenso schwarzen, schmalen Lederbändchen als Lesezeichen – very busy eben.

      Von den Kreativen hatten manche Schubladen in der Stirn, im Nacken oder im Scheitel: zog man an einer davon, sprang ein Buch heraus, bei der nächsten eine Zeitschrift. Manche waren Unilibristen, manche Multilibristen, es gab auflagenstarke und auflagenschwache … Auf manchen Köpfen lagen die Bücher schlicht und ordentlich, abgestaubt, vorsichtig angehaucht und mit einem Seidentuch poliert, ohne Fingerabdrücke. Aus den Brusttaschen ihrer Besitzer ragten Brieföffner statt Einstecktüchern, für den Fall, dass jemand in ihren druckfrischen, jungfräulichen Büchern zu blättern anfinge. Andere trugen ihre Bücher umhüllt von Staub- und Wortwolken.

      Tinos Geliebter vertiefte sich in ein Gespräch mit einer Dame, die mit ihrem Fremdwörterbuch kokettierte; Arm in Arm führte er sie zu einem entfernten, verdunkelten Pavillon, so dass Tino nur noch ihre Schatten sehen konnte, während sie sich gegenseitig ihre Seiten wild durchwühlten … vielleicht, um die Druckfarbe tiefer einatmen zu können. Tataramtaram turumturum … Jaaah.

      Die Musik wurde wieder lauter.

      Das verlassen wirkende, rundum verglaste Restaurant, die blühenden Mandelbäume, die weiß behandschuhten Hände, die Lupen und Monokel hielten; die im Mondschein leuchtenden Marmorbüsten und Torsi, die tanzenden, glitzernden Wellen im Springbrunnen, die Senioren in ihren weißen Fracks, die Damen und die Ober; die muschelförmigen Sessel, die Tische, die weißen Fliesen, die Musen, die hochhackigen Tanzschuhe und die High Heels, der weiße Flügel, die Dramen und so weiter – Tino beobachtete alles von der Seite, wipipiwipipiwi … Jaaah.

      Ein junger, stattlicher Mann kam auf sie zu. Er trug seine Bücher prächtig gewellt.

      »Na, was steht denn darin?« Tino gab ihre geheimnisvolle Strenge auf und streckte ihm den Kopf entgegen.

      »Ah, du bist ein Fan von mir? Das ist ja mein Meisterwerk! Vermutlich kennst du auch die ganzen Zitate auswendig, oder, Süße?«

      Natürlich konnte sie ihn jetzt weder nach seinem Vornamen noch nach seinem Nachnamen fragen. Deswegen sagte sie:

      »Was für eine narzissenfarbige Zartheit, nicht wahr? Ich bin vor dem


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