Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
hatte sie ihm nur gesagt, in welcher Situation sie war? Musste er jetzt nicht denken, dass dies eine versteckte, gut bemäntelte Erpressung sein könnte?
Heiß und kalt wurde es Kerstin. Ihre Nerven vibrierten. An einschlafen war nicht mehr zu denken.
Sie bekam Durst, tastete nach der Teetasse. Versehentlich traf ihre Hand aber die Klingel, die schon bei der geringsten Berührung anschlug, ohne dass es im Zimmer zu hören war.
Ganz erschrocken war Kerstin, als die Nachtschwester plötzlich eintrat.
»Sie haben geläutet«, sagte Schwester Anna freundlich, als sie Kerstins verwirrten Blick gewahrte.
Sie war eine nette, abgehärtete Person und nicht so hektisch wie Schwester Martha, die in der vergangenen Nacht Dienst gehabt hatte.
»Es war ein Versehen. Es tut mir leid«, sagte Kerstin leise. »Ich hatte nur Durst.«
»Soll ich Ihnen nicht frischen Tee bringen?«, fragte Schwester Anna.
»Nein, ich trinke ihn gern kühl«, erwiderte Kerstin.
Schwester Anna stützte sie. »Wozu bin ich sonst da«, sagte sie mütterlich.
»Sie haben doch nachts genug zu tun«, meinte Kerstin.
»Samstag zum Sonntag geht es«, erwiderte Schwester Anna lächelnd. »Da bereiten sich alle schon auf die Besuche vor und sind sehr friedlich aus Angst, es könnten ihnen Besuche verboten werden.«
»Geschieht das öfter?«, fragte Kerstin.
»Manchmal muss es sein. Sie ahnen ja nicht, wie anstrengend und aufregend Angehörige manchmal sein können. Am Montag ist dann wieder der Teufel los. Besonders schlimm ist es, wenn der Chef am Sonntag nicht bei der Visite zugegen ist. Dann kann er sich am Montag zerreißen.«
»Er ist wohl sehr beliebt?«, fragte Kerstin tastend.
»Und wie«, erwiderte Schwester Anna. »Er ist ja auch ein feiner Mann. Hat für alles Verständnis, hat für jeden Zeit. Solchen Chef haben wir noch nicht gehabt, solange ich an dieser Klinik bin. Da gibt man gern noch ein paar Jahre zu, obgleich ich schon im Ruhestand sein sollte.«
»Aber es ist wohl immer noch Schwesternmangel?«, fragte Kerstin.
»Das kann man eigentlich nicht sagen, aber was haben die jungen Dinger denn schon im Kopf? Sie meinen partout, sich einen Arzt angeln zu können, und manchmal ist es ja auch ein Patient, aber ihr Leben wollen sie nicht in der Klinik verbringen und so ist denn ein Kommen und Gehen. So, nun denken Sie wohl, dass ich eine rechte Klatschbase bin, anstatt Sie in Ruhe zu lassen.«
»Nein, Sie sind nett. Ich kann nicht schlafen«, sagte Kerstin.
»Haben Sie Schmerzen, dann wecke ich den Oberarzt.«
»Nein, das nicht. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dauernd zu schlafen. Und krank war ich noch nie.«
Sie hoffte, dass Schwester Anna noch mehr von Professor Albrecht erzählen würde, aber das geschah nicht. Schwester Anna wurde nun doch in einem anderen Zimmer gebraucht.
Und nun dachte Kerstin an Stefan und daran, dass er sie morgen besuchen wolle. Da musste sie ausgeruht sein, und sie wollte keinen kranken Eindruck machen.
Sieben Jahre ist er. Er könnte mein Sohn sein, dachte sie. Wie schön wäre es doch, ein Kind zu haben. Aber das hatte sie auch früher schon manchmal gedacht. Doch zu einem Kind gehörte auch ein Vater und das musste der richtige Mann sein. Der Einzige, den sie sich als Vater ihres Kindes vorstellen konnte.
Der Schlummer überkam sie, und sie sank in das Reich der Träume, aller Sorgen enthoben, schwebend auf weichen Wolken.
*
Martin Albrecht wurde vom Läuten des Telefones geweckt. Er begriff es nicht gleich, denn es war Sonntag, und da war es ganz ungewöhnlich, dass er so früh in die Klinik gerufen wurde, denn mit einem Blick auf die Uhr überzeugte er sich, dass es noch nicht einmal sechs Uhr war.
Er glaubte nicht richtig zu hören, als sich ein Polizeirevier meldete. Sie hätten eine total betrunkene Frau aufgegriffen, die behauptet hätte, seine Schwägerin zu sein, wurde ihm gesagt.
Martin war sogleich hellwach. Unmöglich, dachte er, aber er brachte kein Wort über die Lippen.
Ob er eine Schwägerin hätte, wurde er gefragt.
»Ja«, erwiderte er geistesabwesend, aber sie sei sicher daheim.
Dann solle er sich erst davon überzeugen. Martin sprang aus dem Bett und lief in Hellas Zimmer. Das Bett war nicht benutzt. Seine Gedanken überstürzten sich. Er dachte an Irene, die auch zu oft nach der Flasche gegriffen hatte. O mein Gott, dachte er, Hella will mich ruinieren.
»Ich komme sofort«, sagte er in den Apparat hinein, aber ihm war einfach jämmerlich zumute.
Hella hatte doch immer mit Abscheu von Irenes Alkoholsüchtigkeit gesprochen. Hatte sie ihn nur so gut zu täuschen verstanden wie Irene auch? Waren ihre Migräneanfälle auch nur ganz schlicht gesagt Kater gewesen?
Er kleidete sich an und ganz gedankenlos ging er nochmals in Hellas Zimmer. Er öffnete die Schränke, entdeckte dort ganze Batterien von Flaschen und war augenblicklich wieder wie gelähmt.
Guter Gott, dieser Frau hatte er seinen Jungen anvertraut.
Er brauchte Minuten, um seine Fassung zurückzuerlangen. Dann ging er leise in Stefans Zimmer. Er schlief, seinen Teddy im Arm, den er von seiner Omi bekommen hatte.
»Stefan«, flüsterte Martin.
»Papi, was ist denn? Habe ich verschlafen?«, fragte er Junge.
»Nein, schlaf weiter. Ich wollte dir nur sagen, dass ich in die Klinik muss. Weck Tante Hella nicht auf. Ich bin bald zurück.«
»Ich werde mich hüten, sie zu wecken«, murmelte Stefan. Dann richtete er sich auf. »Es ist doch nichts mit Kerstin?«, fragte er ängstlich.
»Nein, nein«, sagte Martin beruhigend. »Schlaf weiter. Ich wollte nur nicht, dass du mich suchst.«
Und was nun, dachte er, als er zu dem Polizeirevier fuhr. Morgen würde es vielleicht schon in den Zeitungen stehen, dass man seine Schwägerin volltrunken aufgegriffen hatte.
Vielleicht ging es ihm bald ebenso wie Kerstin, und er würde auf der Straße sitzen, untragbar für einen solchen Posten.
Nur konnte er es finanziell verkraften, aber was würde es ihm nützen, wenn sein Ruf ruiniert war. Er konnte sich vorstellen, dass Hella es in ihrer maßlosen Wut darauf abgesehen hatte.
Man empfing ihn mit sichtlichem Mitgefühl. Lallend saß Hella in einem kleinen Raum. Sie sah entsetzlich aus und erkannte ihn gar nicht.
»Wir haben gedacht, dass Sie wohl am besten wüssten, wohin man sie bringen kann, Herr Professor«, sagte ein junger Polizist. »Kennen Sie mich nicht mehr?«, fragte er dann, als Martin ihn verwirrt anblickte. »Sie haben doch mein Bein in Ordnung gebracht, als ich beim Skifahren verunglückt war.«
»Eine peinliche Geschichte«, murmelte Martin.
»Sie hat viel getankt«, sagte der junge Polizist.
»Heißen Sie nicht Reimer?«, fragte Martin gedankenvoll.
»Genau. Sie haben ein gutes Gedächtnis. Ist schon drei Jahre her. Sie haben mein Bein prima hingekriegt, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Damals war gerade Ihre Frau Mutter gestorben.«
»Ja, und damit fing alles Elend an«, sagte Martin geistesabwesend. »Es wird einige Zeit dauern, bis sie nüchtern ist«, fuhr er mit einem langen Blick zu Hella fort. »Ich nehme sie mit nach Hause. Im Augenblick weiß ich wirklich nicht, wohin ich sie sonst bringen könnte.«
Herr Reimer fuhr mit. Er fühlte sich dazu verpflichtet. Von Amts wegen konnte er es ja auch verantworten.
Er versicherte auch, dass von ihnen niemand etwas von diesem Zwischenfall erfahren würde.
»Jeder