Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Laurentis weigerte sich nicht mehr. Eine solche Abfuhr hatte er in seinem Leben noch nicht erfahren, eine solche Demütigung weckte nur noch Rachegefühle in ihm. Er ging an Ruth vorbei, als wäre sie gar nicht vorhanden, und ihr verschloss die Angst den Mund.
»Was ist, Kerstin?«, fragte Martin Albrecht leise. »Ganz ruhig sein. Stefan würde einen schönen Schrecken bekommen, wenn sich Ihr Zustand verschlimmert.«
Schwester Petra kam schon mit der Injektion, und Kerstin spürte fast nichts, als die feine Nadel in ihre Armvene glitt. Selbst in dieser erregenden Situation, ließ Professor Albrecht nichts von seiner Sicherheit vermissen.
»Es tut mir sehr leid«, sagte er. »Ich war nicht im Hause. Den Verantwortlichen werde ich zur Rechenschaft ziehen.«
»Nein, nicht, er erreicht doch, was er will. Er erträgt nicht, wenn man ihm Widerstand entgegensetzt. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.«
Eine innere Stimme hatte ihn hergetrieben. Wie war das nur zu begreifen? Er fragte es sich, als er sie betrachtete. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen zuckten.
Ja, wie ist das nur zu begreifen, fragte er sich wieder. Es gab doch keine Bindung zwischen ihnen. Sie hatten kaum ein paar Worte miteinander gewechselt. Die Brücke zwischen ihnen hieß Stefan, aber Vertraulichkeit wie zwischen ihr und dem Jungen gab es nicht.
Aber war nicht allein das schon bindend, dass sie sich selbst in Gefahr gebracht hatte, um das Leben seines Jungen zu retten, dass sie sich schützend vor ihn stellte und alle Schuld auf sich nehmen wollte?
»Herr Professor«, begann sie leise, langsam die Augen öffnend.
»Bitte nicht so formell! Stefan würde das gar nicht gefallen«, sagte er sanft. »Sie haben sein Herz im Sturm erobert. Er hat die ganze Zeit nur von Ihnen gesprochen.«
»Er ist so lieb. Nur von einem Kind kann man ehrliche Zuneigung erwarten. Es macht glücklich.«
»Ja, es macht glücklich, aber ist es Ihre Überzeugung, dass nur ein Kind ehrlicher Zuneigung fähig ist?«
»Kinder können sich nicht verstellen.« Nun sah sie ihn voll an. »Wie haben Sie Herrn Laurentis eingeschätzt, vor diesem Zwischenfall? Darf ich Sie das fragen?«
»Aber gewiss. Ich halte ihn für einen eitlen, selbstherrlichen Mann.«
»Er ist ein genialer Architekt«, sagte sie leise. »Man kann es ihm nicht absprechen.«
»Das mag sein. Es gibt auch geniale Ärzte, die eitel und selbstherrlich sind. Es gibt sie in jedem Beruf. Und es gibt auch Frauen, die ihnen da nicht nachstehen.«
»Ich habe Tonio falsch eingeschätzt«, sagte sie. »Ich möchte Ihnen mein Verhalten damit erklären. Früher habe ich sehr viel von ihm gehalten, auch für einen Gentleman.«
»Und er hat sich nicht als solcher benommen«, sagte Martin nachdenklich. »Ich kann mir das gut vorstellen.«
»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle. Es ist doch meine ganz eigene Angelegenheit. Verzeihen Sie.«
»Manchmal braucht man einfach einen Menschen, dem man sich mitteilen kann. Jeder braucht das mal, und es ist schlimm, wenn man den Menschen nicht findet, dem man vertrauen kann. Ich bin dankbar, dass Sie mich Ihres Vertrauens für würdig befinden.«
Feine Röte stieg in ihre blassen Wangen.
»Ich raube Ihnen Ihre kostbare Zeit«, flüsterte sie.
»Sie rauben mir gar nichts. Heute Nachmittag hätte ich hier eigentlich gar nichts zu tun. Wissen Sie, meine Assistenten sind schwer beleidigt, wenn ich dauernd da bin.«
»Und warum sind Sie doch hier. Doch nicht meinetwegen? Oder wartet Stefan?«
»Nein, er ist zu Hause. Er erträgt seine Tante Hella, damit er Sie morgen besuchen darf.«
»Warum ist die Tante Hella für ihn so ein Schreckmittel?«, entfuhr es Kerstin.
»Nicht nur für ihn. Für mich auch«, erwiderte Martin mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber wir wollen jetzt nicht davon sprechen. Ich war mit Stefan zum Essen gefahren. Zum Jagdhof. Wenn Sie wieder gesund sind, werden wir dort einmal gemeinsam essen, einverstanden?«
»Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird«, sagte sie verhalten.
»Warum nicht?«
»Ich bin stellungslos und werde meine Wohnung wieder verkaufen müssen. Aber reden wir nicht davon.«
»Doch, davon reden wir auch. Das müssen Sie mir schon zubilligen, damit ich nicht noch mehr Schuldgefühle bekomme.«
»Sie trifft überhaupt keine Schuld«, widersprach Kerstin.
»Ich bin Stefans Vater und verantwortlich für ihn.«
»Stefan hat seine kleine Unüberlegtheit längst wiedergutgemacht«, sagte Kerstin.
»Jetzt lenken Sie nicht ab. Sie haben Ihre Stellung doch nicht nur wegen des Unfalls verloren.«
»Nein, ich hatte mit Herrn Laurentis eine schwere Auseinandersetzung. Und er hat in unseren Berufskreisen auch großen Einfluss.«
»Er ist also auch rachsüchtig. Das passt ins Bild. Von Frau Dr. Norden hörte ich, dass Sie eine sehr begabte Architektin sind. Sie müssen verzeihen, dass ich nicht so auf dem Laufenden bin, aber ich habe einfach keine Zeit, und mein Haus steht und ist komplett eingerichtet.« Es gelang ihm, seiner Stimme einen leichten Klang und seinen Worten einen humorvollen Anstrich zu geben. Sein Mienenspiel faszinierte Kerstin. Erst in dem Vergleich zwischen Martin Albrecht und Tonio Laurentis begriff sie, wie wenig Gefühl der Letztere besaß. Martin Albrechts Gesicht war markant und sensibel zugleich. Eine seltsame Mischung.
»Frau Dr. Norden«, sagte sie, sich gewaltsam auf andere Gedanken bringend. »Sie ist mir nicht bekannt. Nur Stefan hat den Namen erwähnt.«
»Sie ist reizend und hat sich Stefans sehr angenommen.« Unter Kerstins forschendem Blick wurde er etwas verlegen. »Dr. Norden ist der Sohn eines berühmten Arztes. Haben Sie schon mal etwas von der Insel der Hoffnung gehört?«
Jetzt war Kerstin ganz da. »Aber natürlich. Das ist doch dieses Sanatorium auf der Roseninsel.« Sie hätte sich selbst nicht eingestanden, wie erleichtert sie war, dass die reizende Frau Dr. Norden auch einen Mann hatte. Kerstin war sich über ihre Gefühle im Augenblick überhaupt nicht im Klaren, und das war gut so, denn plötzlich konnten sie ohne jede Hemmung miteinander sprechen, als sei ein Zauberwort gefallen.
Und dann kam Martin darauf zurück, wie er an diesem Nachmittag doch in die Klinik gelangt war.
»Manchmal habe ich Intuitionen. Es ist wie ein Zwang«, erklärte er. »Ich kann nicht mehr tun, was ich eigentlich vorhatte, sondern muss das tun, was mir meine innere Stimme befiehlt. Sie befahl mir, in die Klinik zu fahren, und als ich diese betrat, wusste ich, dass bei Ihnen etwas nicht stimmte. Nun lachen Sie mal über mich.«
»Nein, ich lache nicht. Sie sind mein Schutzengel.«
Er betrachtete sie mit einem ganz eigentümlichen Blick, der ihr das Blut schneller durch die Adern jagte. Erst jetzt gestattete er sich die Feststellung, dass sie wirklich schön war, und von einer bezaubernden, mädchenhaften, reinen Anmut. Und er ahnte auch, welche Differenzen es zwischen ihr und Tonio Laurentis gegeben hatte. Er hatte nicht bekommen, was er wollte. Aber warum ihn das so froh machte, war ihm augenblicklich ein Rätsel.
»Stellen wir uns doch einmal vor, ich wäre vom lieben Herrgott zu Ihrem Schutzengel bestellt gewesen«, sagte er mit einem tiefen, humorvollen Lächeln, das auch seine Augen widerspiegelte. »Ich hätte wahrhaftig nichts dagegen. Aber als Wechselwirkung sind Sie dann wahrscheinlich zum Schutzengel von Stefan bestellt.«
»Dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden«, sagte sie. »Ich kann mir aber vorstellen, dass Stefan sehr auf seinen Papi wartet.«
Er fasste es so auf, dass sie jetzt allein sein wollte, und in gewisser Beziehung stimmte das auch, denn Kerstins Innenleben war von Gefühlen