Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
von dem Transport kaum etwas verspürt. Ekelerregend sah sie aus. Martin kämpfte gegen das Übelkeitsgefühl an. Und er musste auch dagegen ankämpfen, ihr einfach einen Kübel Wasser überzuschütten.
»Das kommt in den besten Familien vor«, hatte Herr Reimer tröstend zum Abschied gesagt. Für Martin war es kein Trost. Er wusste nicht einmal, wie er sich verhalten sollte, wenn Hella wieder nüchtern geworden war. Aber das Schlimmste war, dass er nicht aus dem Hause gehen konnte, bevor man einigermaßen normal mit ihr reden konnte. Und wie sollte er das Stefan klarmachen, der doch nur darauf wartete, Kerstin zu besuchen.
Aber er durfte ja auch nicht nur an den heutigen Tag denken. Was sollte denn mit Stefan werden? Er konnte ihn nie und nimmer auch nur einen Tag länger mit Hella in einem Haus lassen. Wenn es schon so weit mit ihr gekommen war, dass sie sich in aller Öffentlichkeit betrank, war sie auch zu Schlimmeren fähig. Und wenn sie nun so enthemmt war, dass sie sagte, er hätte sie dazu getrieben?
Er konnte doch nicht preisgeben, dass er mit Irene das gleiche Drama erlebt hatte.
Als er Hellas Zimmer verließ, stand Stefan plötzlich vor ihm. Entsetzt sah ihn der Junge an, und dieser Blick, in dem tausend bange, schreckensvolle Fragen standen, ließ Martin zu sich selbst zurückfinden.
»Tante Hella ist krank, Stefan«, sagte er. »Ich glaube, wir müssen sie in ein Sanatorium bringen.«
»Bestell doch einen Krankenwagen, Papi«, sagte Stefan. »Ruf doch gleich an.«
»Ich muss erst überlegen«, sagte Martin leise. »Machen wir uns einen Kaffee?«
Stefan trabte neben ihm her in die Küche. »Was fehlt ihr denn überhaupt? Grippe?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht so genau«, erwiderte Martin ausweichend.
»Ist wohl nicht dein Gebiet?«, fragte Stefan. »Ruf doch Dr. Norden an, der weiß alles«, sagte er. »Mit Grippe weiß er ganz gut Bescheid, aber was meinst du, was die Leute alles haben, die in seine Sprechstunde kommen. Er weiß sogar ein Sanatorium. Das gehört ihm sogar. Ihr habt euch doch auch darüber unterhalten.«
Die Insel der Hoffnung! Nun, da war wohl kein Platz für Hella, und man konnte es Dr. Cornelius nicht zumuten, sich mit einer Alkoholikerin zu befassen. Aber Dr. Norden war ein Mann, mit dem man ohne Scheu und ganz offen reden konnte. Allein fühlte sich Martin augenblicklich einfach hilflos.
»Das andere Problem bist du, Stefan«, sagte er nachdenklich.
»Wieso bin ich ein Problem?«, fragte der Junge.
»Ich kann dich doch nicht allein im Haus lassen und so schnell werde ich sicher niemanden finden, der für dich sorgt.«
»Tante Hella hat auch nicht für mich gesorgt. Ich habe mir immer ein Brötchen und eine Tüte Milch morgens gekauft. Und mittags kann ich auch zu Lenchen gehen. Sie freut sich, wenn jemand ihr Essen isst. Sie kocht sehr gut. Und nachmittag gehe ich zu Kerstin. Ist das nicht zu machen?«
Für Stefan waren es keine Probleme. Und diese wollte Martin jetzt auch erst mal beiseiteschieben. Hella musste aus dem Haus, das war klar.
Heute noch musste er sie wegbringen, und wenn es auch demütigend für ihn war, er musste jemanden einweihen, von dem man einen Rat erhoffen konnte. Er wusste tatsächlich nur Dr. Norden.
Er trank Kaffee und rauchte eine Pfeife. Stefan war der Appetit glücklicherweise nicht verdorben. Er aß, was noch vorhanden war, auf.
»Da siehst du es ja, nicht mal einkaufen kann Tante Hella«, sagte er. »Möchte nur wissen, was sie mit dem vielen Geld macht, das du ihr immer gibst.«
Martin wusste es jetzt. Er machte sich aber auch Vorwürfe, dass er sich nicht früher darum gekümmert hatte.
»Hat dir Hella zu essen gegeben, wenn ich nicht zu Hause war?«, fragte er den Jungen beklommen.
»Nö, das nicht, aber Geld hat sie mir gegeben, dass ich mir was kaufen konnte. Das war noch das Beste an ihr.«
»Und warum hast du mir das nie gesagt, Stefan?«
»Du hast genug Ärger, und außerdem hätte sie mir doch bloß eins ausgewischt«, erklärte Stefan. »Hoffentlich bleibt sie jetzt lange weg und noch besser wär’s, wenn sie gar nicht mehr wiederkommen würde.« Er überlegte ein paar Minuten, und Martin störte ihn nicht bei diesen Überlegungen. »Weißt du, Papi, eigentlich wäre es doch schön, wenn Kerstin zu uns kommen könnte. Geht das nicht?«, fragte er.
»Sie hat ihren Beruf«, erwiderte Martin heiser.
Stefan sah ihn nachdenklich an. »Ich überlege ja, ob es ihr gefallen würde. Aber wenn du sie schön findest und auch magst, dann könntest du sie heiraten. Dann braucht sie keinen Beruf mehr.«
»Zum Heiraten gehören zwei, Stefan. Ich glaube nicht, dass Kerstin auf ihren Beruf verzichten würde.«
»Na, den könnte sie dann doch auch weitermachen«, erklärte der Junge. »Ich würde sie nicht stören. Ich würde mich ganz still neben sie setzen und zuschauen. Kerstin ist die einzige Frau, die ich mag. – Na ja, Frau Norden und Lenchen mag ich auch, aber die können wir ja nicht heiraten, und Kerstin mag ich nicht nur, Kerstin habe ich wahnsinnig lieb.«
»Für dich ist alles einfach, Stefan«, sagte Martin.
Der Junge versank in Schweigen. Stefan brütete etwas aus, aber Martin wurde sich dessen nicht bewusst, da er jetzt vor allem daran dachte, was mit Hella geschehen sollte. Es war Viertel nach neun Uhr, und noch recht früh für den Sonntagmorgen eines geplagten Arztes, aber dennoch entschloss er sich, Daniel Norden anzurufen.
*
»Es war der Kollege Albrecht«, sagte Daniel, als er sich wieder am Frühstückstisch niederließ. »Scheint schwere Sorgen zu haben.«
»Mit Frau Torstensen?«, fragte Fee aufhorchend.
»Nein, mit seiner Schwägerin. Ich werde nachher mal schnell vorbeifahren.«
Fee protestierte nicht. »Falls es um Stefan geht, soll er doch den Jungen zu uns bringen. Dann hat Lenchen Gesellschaft. Von uns hat sie sowieso nicht viel. Er ist ein lieber kleiner Junge. Die Tante Hella scheint ja ein rechter Drache zu sein.«
»Und außerdem den Alkohol sehr zu lieben. Er hat sich zwar sehr vorsichtig ausgedrückt, wahrscheinlich auch, weil Stefan neben ihm stand. Jedenfalls beherrscht er vom Lateinischen nicht nur die Fachausdrücke, und er hat Glück, dass ich nicht alles verlernt habe. Ich kann diesen netten Menschen nicht im Stich lassen, Fee.«
»Nein, das können wir nicht, aber wenn es so ist, wird es besser sein, wenn Stefan aus dem Haus kommt. Du lieber Himmel, was es so alles gibt.«
»Was gibt es alles?«, fragte Jürgen, der nach einer Nacht, in der er nur wenig geschlafen hatte, recht angeschlagen daherkam.
»Kennst du eine vornehme Trinkerheilanstalt?«, fragte Daniel unverblümt.
Jürgen sah ihn verwirrt an. »Eine vornehme was?«, fragte er stockend.
»Du hast schon richtig verstanden. Ich meine ein Sanatorium, dem nicht gleich aufs Türschild geschrieben wird, welcher Art die Patienten sind.«
»Schloss Riebling«, erwiderte Jürgen trocken. »Nicht Riesling, sondern Riebling, aber es passt doch recht gut.«
»Waaas?«, fragte Daniel gedehnt.
»Der Name«, sagte Jürgen lächelnd.
»Ich bin erstaunt«, sagte Daniel. »Das wusste ich nicht. Es ist doch ein stinkfeines Sanatorium.«
»Danach hast du mich doch gefragt. Man bezeichnet es als Heilstätte für Zivilisationskrankheiten. Man ist diskret, aber das kostet auch allerhand. Du bist doch nicht etwa dem Alkohol verfallen?«
»Mach keine Späße. Wir müssen einem guten Freund helfen. Hast du persönliche Verbindung dorthin?«
»Wir haben schon bei manchen Patienten, die dort entwöhnt worden sind, den Rest besorgt und glücklicherweise