Tarmac. Nicolas Dickner
Elektrogeräten und einer Couch, die, in Abwesenheit eines Fernsehers, dem Betrachter vollkommen überflüssig erschien.
Hope beteuerte, noch keine zweiundsiebzig Stunden hier zu sein, doch stapelten sich in allen Ecken unglaubliche Mengen an Lebensmitteln: säckeweise Mehl und japanische Ramen-Nudeln, Wasser und Öl in Fässern, allerlei Konservendosen. Genau genommen war im näheren Umfeld das Einzige, was nicht zum Verzehr bestimmt war, ein Stapel von Russisch zu Hause lernen (die Bände 8, 14 und 17), auf den Hope vorsichtig den Band Nummer 13 legte, den sie mit ins Stadtstadion genommen hatte.
»Hast du Durst?«
Ich nickte. Während sie mir ein Glas Wasser einschenkte, schaute ich mich in der Zoohandlung neugierig nach angrenzenden Zimmern um. Abgesehen von einem auffällig geräumigen Badezimmer – zweifellos dem ehemaligen Reptilienraum – gab es offenbar kein weiteres Zimmer. Aber wo schliefen sie dann? Hope, die meine Frage erahnte, deutete auf die Couch:
»Die kann man ausziehen. Und ich schlafe im Bad, bei geschlossener Tür. In weniger als drei Metern Abstand von meiner Mutter kriegt man kein Auge zu.«
»Schnarcht sie?«
»Nein, sie redet im Schlaf.«
»Aha?«
Ich trank einen Schluck Wasser. Ein bedenklich metallischer Geschmack:
»Und was erzählt sie so?«
Besorgt begann Hope an ihrem Daumennagel zu kauen:
»Keine Ahnung. Irgendwas auf Assyrisch.«
»Auf Assyrisch?«
»Assyrisch oder Armenisch, was weiß ich. Von toten Sprachen habe ich keine Ahnung.«
Mit einem Biss kaute sie einen schmalen Nagelstreifen ab und spuckte ihn weg:
»Ich komme aus einer mehrsprachigen Familie.«
»Ganz offensichtlich«, sagte ich und deutete mit dem Fuß auf die Russischlehrbücher.
»Ich hatte auch mit Deutsch angefangen, musste aber einen Teil meiner Bücher in Yarmouth zurücklassen, weil sie nicht mehr ins Auto passten.«
»Zurücklassen?«
»Ja. Wir sind nachts aufgebrochen, weil …«
Sie seufzte:
»Okay. Fangen wir lieber am Anfang an.«
3. Die Randalls
Mary Hope Juliet Randall, genannt Hope, war die jüngste Vertreterin einer Familie, die seit einem nicht mehr genau bestimmbaren Moment – einige sprachen von sieben Generationen – an schweren Weltuntergangsvorstellungen litt.
Die Randins, eine Familie wohl weitestgehend akadischer Herkunft, waren 1755 von den Briten deportiert worden. Nach ihrer Aussetzung auf Maryland änderten sie den Familiennamen in Randall, ohne sich jedoch assimilieren zu lassen, und kehrten nach Neuschottland zurück, wo sie Jahrzehnte darauf verwandten, sich karges Torfland anzueignen.
Man könnte nun glauben, dass die familiäre Obsession für die Apokalypse in diesem geopolitischen Trauma ihren Ursprung fand. Denn war es nicht nachvollziehbar, wenn nicht gar unvermeidlich, dass die Nachkommen deportierter Bauern gegenüber städtischen Ballungsgebieten, großen Katastrophen und einem normalen Verlauf der Geschichte gewisse Vorbehalte hegten? Doch fand diese Theorie keinen Konsens, so dass schließlich einige Genealogen die Weltuntergangsvorstellungen einer Erbkrankheit zuschrieben, die sich aufgrund blutsverwandter Ehen entwickelt habe (die Randalls waren recht häuslich veranlagt).
Fest stand, dass dieselben Symptome sich mit choreographischer Präzision von Generation zu Generation wiederholten: Sobald ein Mitglied der Randall’schen Familie, egal ob männlich oder weiblich, die Pubertät erreichte, wurde es auf übernatürliche Weise und sehr detailgenau über den künftigen Weltuntergang in Kenntnis gesetzt: über Datum, Uhrzeit und Hergang.
In aller Regel kam diese Vision in der Nacht. Genau genommen handelte es sich dabei nicht wirklich um eine Vision – diese hätte man als einen gewöhnlichen Albtraum abtun können. Nein, die Randalls erlebten das Weltende in Echtzeit und 3D. Sie spürten das Regenprasseln und die Verbrennungen auf ihrer eigenen Haut, sie erstickten in Feuersbrünsten, schmeckten die Asche, hörten die Schreie, rochen den Gestank verwesender Leichen.
Die Randalls nannten dieses Phänomen die »nächtliche Offenbarung«, das »Licht«, die »Prophezeiung« oder gemeinhin »die kleine Höllentour«.
Jeder Randall bekam übrigens ein anderes Datum offenbart, was es gehörig erschwerte, mit dem jeweils eigenen Weltuntergang ernst genommen zu werden. Wenn ein Randall dann den Tag seines Weltuntergangs überlebte, zeigte sich bei ihm zumeist plötzliches seelisches Ungleichgewicht oder ein Hang zur Beschädigung öffentlichen Eigentums. Die Geschichte endete üblicherweise in der Irrenanstalt oder in sonstigen einschlägigen Einrichtungen.
Der Familienstammbaum der Randalls wäre bestens dafür geeignet, an ihm die Geschichte der nordamerikanischen Psychiatrie über die letzten einhundertfünfzig Jahre aufzuzeigen, vom eiskalten Duschen über die Lobotomie, die Beschäftigungstherapie, die Zwangsjacke und das Lithium bis zur offenen Psychiatrie.
1. Fall: Harry Randall Truman, Urvater der Familie, verlor den Verstand im Herbst 1835, kurz nachdem der Halleysche Komet an der Erde vorbeigeflogen war. Er hatte die Rückkehr Moses’ auf einem strahlend weißen Walfänger verkündet und dann in der Scheune eines presbyterianischen Pfarrers Feuer gelegt. Nachbarn hatten ihn überwältigen und fesseln können und ins Halifax Mental Asylum verfrachtet, wo er den Rest seines Lebens in der Abteilung für Pyromanen und andere Soziopathen verbrachte.
37. Fall: Gary Randall hatte sich fünfzehn Jahre lang in einer Sperrholz-Hütte verschanzt, durch deren Fenster er die – in diesem Landstrich äußerst seltenen – Psychotherapeuten mit seinem Zwölfer-Kaliber begrüßte. Man fand ihn erfroren an sein Gewehr geklammert, nachdem die Temperatur eines Morgens plötzlich auf minus vierzig Grad gefallen war: steif und blau und endlich von seinem Wahn erlöst.
53. Fall: Henry Randall jr., Hopes Großvater, der noch die große Wirtschaftskrise miterlebt hatte, zeigte sich weniger destruktiv. Er kanalisierte seine Ängste, indem er die Reformierte Minoritätenkirche des Siebten Wiederkäuers gründete, eine parachristliche Sekte, die das Armageddon für den 12. Juni 1977 angekündigt hatte. Eine vergleichsweise durchaus gesunde Art, seine Zeit totzuschlagen. Die Kirche existierte bis zu besagtem Datum, nach dessen Verstreichen sich Henry das Leben nahm, er schluckte eine Handvoll Dachnägel.
Ähnlich erging es Gary Randall, Harry Randall, Harriet Randall, Hanna Randall, Henry Randall, Randolph Randall, Handy Randall, Hans Randall, Hank Randall, Annabel Thibodeau (geborene Randall), Henryette Leblanc Randall, Hattie Randall, Pattie Randall und anderen – während die Tage friedlich und unbeirrbar verstrichen und der Planet beharrlich wie ein schlechter Witz seine Kreise zog.
4. Produkt des Zufalls
Ann Randall erblickte das Licht der Welt in Yarmouth im März 1954, genau an dem Tag, als die Amerikaner auf den Marschall-Inseln eine neuartige Wasserstoffbombe testeten.
Das schüchterne kleine Mädchen war von ebenso strahlender wie frühreifer Schönheit und zeigte ein wundersames Talent beim Erlernen von Sprachen: Im Alter von zehn Jahren sprach sie bereits Englisch und Französisch und lernte Latein mit Hilfe einer alten Vulgata, die sie in der Sakristei hatte mitgehen lassen – ein Diebstahl pädagogischer Art. Der Pfarrer gab vor, es nicht bemerkt zu haben.
Sie verlebte eine einsame Kindheit zwischen einem Vater, der vollkommen von seinen Pflichten als Führer der Reformierten Minoritätenkirche des Siebten Wiederkäuers in Beschlag genommen war, und einer launischen Mutter – die sie allerdings im Sommer ihres zwölften Lebensjahres verlor. Die Mutter, die vergeblich auf eine apokalyptische Feuersbrunst gewartet hatte, schluckte den gesamten Inhalt der Hausapotheke: Tabletten, Säfte und Tinkturen. Nach Auspumpen des Magens wurde sie in die psychiatrische Notaufnahme nach Halifax gebracht, von wo sie niemals zurückkehrte.
Am frühen Morgen des 1. September 1966 wachte Ann Randall,