Tarmac. Nicolas Dickner
Nachrichten der CBC News zu sehen, alte Filme aus dem Spätprogramm und vor allem, unverzichtbar, The Nature of Things mit David Suzuki. Astronomie, Genetik, Chemie – sie interessierte sich für alles. Jeden Freitagabend durchquerte die frohe Botschaft, von Vancouver in Britisch-Kolumbien kommend, den Kontinent von Transponder zu Transponder, bis sie schließlich einen jämmerlichen Fernseher in der hintersten Ecke eines Kleiderschranks im neuschottischen Yarmouth erreichte und das Gehirn eines kleinen, wissensdurstigen Mädchens zum Glühen brachte.
Der Kalte Krieg neigte sich dem Ende zu. Der Amtsantritt von Michael Gorbatschow war ein gutes Vorzeichen. Die Perestroika war ein sehr gutes Vorzeichen und die Glasnost ein sehr, sehr gutes Vorzeichen. Fortan war keine Rede mehr vom nuklearen Holocaust: Man fragte sich, wann es wohl den ersten McDonald’s auf dem Roten Platz geben würde.
Mit ihrem besonderen Gespür für künftige Entwicklungen hatte Hope auf der Suche nach einem Lehrbuch für Russisch per R-Gespräch alle Buchhandlungen in Halifax angerufen. Bei Book Room wurde sie schließlich fündig. Eine Woche später brachte der (fluchende) Postbote drei riesige, in braunes Packpapier eingeschlagene und gut verschnürte Pakete mit 17 Bänden Russisch zu Hause lernen.
Während sich ihre Mutter in der Küche die Nägel abkaute, verbarrikadierte sich Hope im Kleiderschrank, schaltete den Fernseher im Undercovermodus ein und lernte im stroboskopartigen Schein des Bildschirms alles über Personalpronomen, Konjunktionen und Konjugationen.
Sie war gerade bei den ersten unregelmäßigen Verben angelangt, als sich der Zwischenfall in Tschernobyl ereignete.
Ein einfacher Wartungsfehler, dreißig winzige Sekunden Unachtsamkeit, und ein Atomkraftwerk in der weit entfernten Ukraine zerschmolz so leicht wie ein Karamellbonbon auf einer heißen Herdplatte. Hope saß drei Tage lang wie angewachsen vor dem Fernseher. Zum ersten Mal konnte die Welt Stunde um Stunde eine Katastrophe mitverfolgen, die auf sowjetischem Gebiet stattfand – eine Situation, die zwei oder drei Jahre früher an Science-Fiction gegrenzt hätte.
Für Ann Randall hingegen war Tschernobyl eines der Vorzeichen – bis zum Sommer 1989 waren es immerhin nur noch drei Jahre –, und sie litt erneut unter Angstzuständen, begleitet von Schlaflosigkeit und Phasen plötzlicher und unerklärlicher Fiebrigkeit. Etwas Neues kam allerdings hinzu: Seit kurzem sprach sie im Schlaf auf Assyrisch.
Hope tippte darauf, dass es Assyrisch, Hebräisch oder Sumerisch war, auch wenn sie ehrlich gesagt nur wenige Anhaltspunkte hatte. Ihre Mutter schlief jeden Abend beim Lesen einer dicken mehrsprachigen Bibel ein. Vielleicht vollzog sich hier eine Art Kontaminierung? Immerhin stand es fest, dass es bestimmt kein Russisch war.
Für Hope, die Hüterin des häuslichen Gleichgewichts, waren diese apokalyptischen Psychosen nicht einfach ein archaisches Familienerbe, sondern ein echtes Problem. Sie schleppte ihre Erzeugerin also zum Psychiater, der bestätigte, dass die Dosierung des Clozapins, mit der sie über viele Jahre gut gefahren waren, nunmehr erhöht werden musste. Neue Dosierung, neuer Trott.
Woher kam dieser plötzliche Wirkungsabfall? Der Arzt konnte keine genaue Erklärung dafür geben. Er nannte mehrere mögliche Gründe: Fortschreiten der Krankheit, Veränderungen im Metabolismus, Gewöhnungseffekt. Hope dachte bei sich, dass vielleicht eine von der Wissenschaft noch nicht erkannte Unverträglichkeit zwischen Clozapin und den internationalen Nachrichten bestünde.
Doch ganz egal, woran es lag, sie würde von nun an ihre Anstrengungen vervielfachen müssen, um den Kern der Familie stabil zu halten. Ihre Einsamkeit wie auch die Anzahl der wöchentlich im Schrank verbrachten Stunden würde also zunehmen.
Sie fühlte sich von der Situation überfordert, aber wen hätte sie schon um Hilfe bitten können? Gewiss nicht die anderen Randalls, die sie eher tolerierten, als sie wirklich zu akzeptieren. Der Grund dafür lag auf der Hand: Hope hatte ihre kleine Höllentour noch nicht gehabt – und was galt schon eine Randall, die ihr Weltuntergangsdatum nicht kannte? Eine Unter-Randall, ein Wurm, ein Fremdkörper im Orbit des Familienstammbaums.
Hope bewegte sich im Niemandsland zwischen zwei Welten, die ihr jedoch beide verschlossen blieben. Glücklicherweise gab es David Suzuki.
7. Vom Schicksal getroffen
Der Sommer 1989 rückte unaufhaltsam näher.
Hopes Mutter litt unter unbeschreiblicher Angst, verschlimmert durch die Ungewissheit, nicht genau zu wissen, was auf sie zukam. Schon seit einiger Zeit hatte sie damit aufgehört, auch nur die kleinste Pille zu schlucken, und die unangebrochenen Clozapin-Fläschchen stapelten sich in der Hausapotheke. Ergebnis: Sie verbrachte ihre Abende Solitaire spielend am Küchentisch und zuckte beim leisesten Fliegengesumm zusammen, das in ihrer Phantasie sofort zu einer herannahenden Katastrophe wurde.
Durch die Wand war unablässig der Fernseher des Nachbarn zu hören, eine Mischung aus The Price Is Right, Three’s Company und Wok With Yan, untermalt von gelegentlichen Wutausbrüchen, die einem übermäßigen Bierkonsum zugerechnet werden konnten. Das Theater begann täglich um sechs Uhr morgens und dauerte bis Mitternacht – was jeden in den Wahnsinn getrieben hätte –, und Ann Randall baumelte nur noch an einem Finger über dem Abgrund, wie eine Zeichentrickfigur, die am Felsvorsprung hängt.
Ihre Angst schwoll unablässig an, bis eines Nachts im Juli das Fass überlief.
Hope befand sich gerade zwischen zwei Schlafphasen, als ein Porzellanklappern sie weckte. Jemand durchwühlte die Schränke. Sie schlich zur Küche, die aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mit fiebrigem Blick war ihre Mutter dabei, den Kühlschrank leerzuräumen.
»Was machst du da, Mama?«
Ann Randall fuhr erschreckt herum, wie eine auf frischer Tat ertappte Einbrecherin. Sie musterte ihre Tochter einige Zeit, ohne sie zu erkennen, und räumte dann weiter den Kühlschrank aus.
»Ich packe.«
»Wo willst du hin?«
»Nach Westen.«
Ann Randall glaubte tatsächlich, mit ihrer Flucht nach Westen Zeit zu gewinnen, vielleicht, weil sie die abnehmenden Zeitzonen einkalkulierte. Aber mit größerer Wahrscheinlichkeit beruhte ihre Entscheidung auf einer obskuren biblischen Auslegung der vier Himmelsrichtungen oder einem Song von Led Zeppelin, den sie an diesem Abend im Radio gehört hatte. Wer weiß.
Hope resignierte, stieg aus ihrem Schlafanzug und warf sich die erstbesten Kleider über, die sie greifen konnte. Eine uralte, löchrige Jeans, ein T-Shirt und eine Baseballmütze der New York Mets. Seufzend packte sie ihre Tasche und stopfte auch ein halbes Dutzend ihrer Russischlehrbücher mit hinein. Sie warf einen letzten Blick in den Kleiderschrank – in ihren Kokon mit den Büchern, ihrem Fernseher, ihren Kissen und den David-Suzuki-Postern. Hope wusste bereits, dass sie nicht zurückkehren würden. Sie seufzte erneut. Warum war sie nicht in eine Familie hineingeboren worden, die auf Hirschjagd, Super Bowl oder Lokalpolitik versessen war?
In der Küche räumte ihre Mutter die letzten Vorräte aus dem Kühlschrank. Sie drückte Hope eine Tüte mit Proviant in die Arme.
»Hier, bring das ins Auto.«
Hope gehorchte widerwillig. Vor dem Haus wartete der alte Lada mit weit geöffneten Türen – eine klapprige Kiste, die im Vorjahr als Gebrauchtwagen von den mageren Familienersparnissen angeschafft worden war. Der Kofferraum quoll über vor Taschen, Krimskrams, Kleidern. Sogar den Ersatzreifen hatte Ann Randall herausgenommen, um Platz für ihre Bibelsammlung zu schaffen. Außer dem Fahrersitz waren alle Sitze mit Kisten vollgestellt, und auf dem Boden stapelten sich Mehlsäcke, Kisten mit Ramen-Nudeln, Flaschen mit Relish, Ketchup und Essig, Sojasoße sowie ein paar Senfgläser.
Hope besah sich den armen Lada, der schwer auf seine Stoßdämpfer drückte. Konnte er so überhaupt auf mehr als dreißig Stundenkilometer kommen?
Sie kehrte ins Haus zurück, griff sich im Vorbeigehen ihre Tasche und verschwand rasch im Badezimmer. Ein Stapel mit etwa zwanzig Gläschen Clozapin-Pillen wartete dort in der Hausapotheke. Plötzlich hörte man eine Wagentür zuschlagen: Ann Randall hatte sich ans Steuer gesetzt. Hope warf die Gläschen in ihren Rucksack, zog ein kleingefaltetes Rezept unter der Vaseline hervor und rannte