Tarmac. Nicolas Dickner

Tarmac - Nicolas Dickner


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mein Bruder war mit Antritt seines Psychologiestudiums gerade zum Hochverräter geworden – ein übler Schlag, den mein Vater nur schwer verwinden konnte. Als jüngster Spross der Familie war es nun mein Schicksal, ihm den Todesstoß zu versetzen, und ich fürchtete schon den Tag, an dem ich ihm verkünden musste, Vergleichende Literaturwissenschaft studieren zu wollen, statt den Stab zu übernehmen.

      Hopes Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich. Besorgt oder gereizt blickte sie hinüber zu den Bungalows. Ich wollte gerade fragen, was los sei, da fielen neben uns die ersten Hagelkörner. Drei Sekunden später prasselte der Hagelschauer los.

      Schnell flüchteten wir in den Spielerunterstand.

      Dieses Unwetter war ebenso heftig wie unvorhergesehen: keine Chance, unter dem dröhnenden Dach des Unterstands auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Auf dem Spielfeld sammelten sich Tausende von Hagelkörnern, weiß und makellos wie Styroporkügelchen.

      Hope schaute gedankenverloren zu. Das Ende meiner Erzählung hatte sie sichtlich verstimmt, und man musste nicht lange überlegen, um zu verstehen, worin mein Fauxpas bestand: Ich hatte es gewagt, mich über etwas zu beklagen, um das Hope mich beneidete. Ich hatte einen Vater, der sich um mich kümmerte, Erwartungen in mich setzte, sich für meine Zukunft interessierte – auch wenn diese Zukunft, zu meinem Leidwesen, aus einer veralteten Zementfabrik in einem verlorenen Winkel des Landes bestand.

      Frau Randall hingegen setzte keinerlei Hoffnung in ihre Tochter. Hope konnte ebenso gut Stripteasetänzerin wie Priesterin einer Pfingstkirche oder Kassiererin bei McDonald’s werden, es machte nicht den geringsten Unterschied.

      Nach Schulschluss an einem Freitag wie vielen anderen: Sobald wir im Bunker angekommen waren – so nannte Hope das Kellergeschoss liebevoll –, fuhr ich unseren wahnsinnig leistungsstarken Macintosh SE hoch und warf meine Schultasche in die Ecke. Sie öffnete sich bei der Landung und spie ein paar Blätter aus, unter anderem die Aufgabenstellung für einen Aufsatz, den wir zu schreiben hatten. Ein Thema, in dem alles zusammenkam: »Wie sieht die Welt in der Zukunft aus?« Umfang circa 250 Wörter, bitte unter Vermeidung der Verben sein und haben.

      Ich sehe noch deutlich vor mir, mit welcher Begeisterung Madame Michaud uns das Aufsatzthema diktierte, wie sie sich in der Gewissheit sonnte, es handele sich hierbei um ein harmloses, kreatives Thema. Wahrscheinlich erwartete sie die üblichen Klischees: Weltraumtourismus, Roboter als Haushaltshilfe und ein paar neue Pillen gegen Krebs.

      Ich starrte eine Zeitlang auf den Bildschirm, seufzte und zog mich zurück auf die Couch, wo ein zerlesener Comic herumlag: Godzilla – König der Monster, im Kampf gegen Captain Amerika. Wahllos blätterte ich darin herum und stieß auf eine Werbung für die Wunderbrille »Amazing X-Ray Vision«, mit der man durch feste Materie (inklusive Frauenbekleidung) hindurchschauen konnte und die für lächerliche zwei US-Dollar feilgeboten wurde. Postanweisung und Bestellcoupon sind zu adressieren an: Postfach 245, Navajo Creek, Nevada.

      Der beste Witz seit dem Perpetuum mobile.

      Ein Luftstrom durchzog den Raum. Hope betrat den Bunker durch die Hintertür, sie kam mittlerweile herein, ohne zu klopfen. Wahrscheinlich wollte sie den Rechner benutzen, um ihren Aufsatz zu schreiben. Überraschung: Sie trug unter ihrem Arm einen alten roten Schlafsack. Offenbar hatte sie die Absicht, hier die Nacht zu verbringen. Ich erwog sofort das Schlimmste. Sie schleuderte ihre Sachen beiläufig in eine Ecke.

      »Hast du die Nachrichten gehört?«

      Kopfschütteln. Ich war weder im Bilde über die letzten Erschütterungen in der nicaraguanischen Innenpolitik und an der Tokioter Börse noch über den Grundwasserspiegel im Libanon. Ohne sich von mir beeindrucken zu lassen, machte sie den Fernseher an und ließ sich neben mich fallen. Auf dem Bildschirm sah man ein sonderbares Schauspiel: Auf etwas, das für mich aussah wie ein altes Betonlager, tanzten Hunderte Menschen und lagen sich in den Armen.

      Hope schaute mich mit funkelnd blauen Augen an.

      »Die Berliner Mauer ist gerade gefallen!«

      Aufgrund eines Versehens eines hohen Funktionärs gestattete die DDR die Ausreise ihrer Staatsbürger von Ost nach West und öffnete etwa zehn Grenzübergänge. Wir erlebten live einen einmaligen Wendepunkt in der Geschichte. Horden feiernder Berliner passierten die Kontrollposten und rückten mit allen verfügbaren Werkzeugen der Mauer zu Leibe: mit Hammer und Meißel und anderen Rammböcken. Bei so viel Optimismus wurde einem ganz warm ums Herz.

      Vor dem Brandenburger Tor drückte ein Abrissbagger gegen ein erstes Bauelement der Berliner Mauer, das laut aufs Pflaster knallte. Die Mauer fiel nicht: Sie kippte – mit verunsichernder Leichtigkeit. Ein kleiner Stupser mit dem Bulldozer sollte ausreichen, um das verruchte Bauwerk in die Knie zu zwingen? Mit wachsender Faszination sah ich das Mauerteil wieder und wieder zu Boden krachen. Der Eiserne Vorhang bestand aus Rigipsplatten. Hope zufolge war die Mauer in Wirklichkeit aus Legosteinen.

      »Aus Legosteinen?«

      »Legosteine aus Stahlbeton, einen Meter breit und vier Meter hoch, mit Fuß in T-Form. Das ist die vierte Generation der Berliner Mauer: das Modell Grenzmauer 75. Modulbauweise, grau und effizient.«

      Jeder Tag brachte seine Dosis nutzloses Wissen mit sich.

      Auf dem Bildschirm fielen die Mauerteile in immer rasanterem Tempo, und ich fragte mich, was die Deutschen nun mit all diesen Legosteinen vorhatten, die in Berlin im Weg herumlagen. Hope erklärte, dass der Wert eines original Berliner Mauerstücks auf dem lokalen Markt ein kurzzeitiges Hoch erreichen würde, bevor er dann in allen Teilen der freien Welt wieder niedersausen würde.

      »Sie werden sicher versuchen, die ganzen Mauerteile in die USA zu verkaufen. Als Trophäen.«

      Sie wollte sogar fünf Dollar darauf verwetten, dass in Kürze ein reicher Geschäftsmann versuchen werde, die gesamte Mauer zu erwerben, um sich so das Monopol zu sichern (die Regierung wäre sicher froh, noch etwas Profit aus dieser Sache zu schlagen, die sonst als recht kostspielige Angelegenheit in die Geschichte eingehen würde). Dann werde besagter Geschäftsmann ein Containerschiff chartern und die Mauer, Stück für Stück, sorgfältig nummeriert, bis in die Vorstadt von Orlando transportieren, um in einen fröhlichen Konkurrenzkampf mit Disney World zu treten.

      Ich versuchte mir auszumalen, wie dieses Mauer-Land aussehen würde. Trist.

      Vor dem Brandenburger Tor brachte derselbe Bagger dasselbe Stück Mauer zu Fall. So jung, wie sie war, wiederholte sich die Geschichte bereits. Hope schien das Gewicht eines Stücks Grenzmauer und die Transportkosten auf dem Seeweg zu überschlagen. Da bemerkte sie auf dem Couchtisch den Comic und die aufgeschlagene Amazing-X-Ray-Brillen-Werbung. Mit hochgezogener Braue überflog sie die Anzeige. Ich bereitete mich auf eine sarkastische Bemerkung vor.

      »Ja doch. Du wirst sagen, das verstößt gegen alle Gesetze der modernen Physik …«

      »Ich frage mich nur, warum die Jungs nicht einfach versuchen, die Frauen zu überreden, sich auszuziehen, statt solche schwachsinnigen Dinger zu bestellen. Aber, wenn ich ehrlich bin, für zwei Dollar würde ich auch nicht viel ausziehen.«

      Sie wackelte mit ihren Zehen in den Wollstrümpfen und sah aus, als schätzte sie gerade den Kaufwert ihrer Füße.

      Der Journalist sprach eben von den hundertvierzig Opfern, die die Mauer über die Jahre gefordert hatte, als meine Mutter mit einem Korb schmutziger Wäsche auftauchte. Sie begrüßte Hope – und hatte sofort den mitgebrachten alten Schlafsack auf dem Radar. Alarmstufe rot.

      Den Wäschekorb an der Hüfte, positionierte sie sich hinter uns und schaute vermeintlich interessiert zum Bildschirm, wo das Stück Mauer wieder und wieder kippte. Sie hüstelte ein wenig, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen.

      »Hope. Sehe ich das richtig, dass du hier übernachten wirst?«

      »Wenn es nicht stört.«

      »Ich fürchte eher, dass sich deine Mutter daran stört, glaubst du nicht?«

      Hope erwiderte,


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