Tarmac. Nicolas Dickner

Tarmac - Nicolas Dickner


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zwischen julianischem und jüdischem Kalender hin und her und behauptete, man habe hier und dort ein paar Schaltjahre nicht beachtet, wetterte gegen Gregor XIII. und verfluchte den inkompetenten Astronomen, der 1847 ein Komma an die falsche Stelle gesetzt hatte.

      Madame Randall hatte tatsächlich einen Sprung in der Schüssel. Nachsichtig zuckte Hope die Schultern:

      »Das kannst du nicht verstehen. Für einen Randall ist es beruhigend, das Datum des Weltuntergangs zu kennen. Das gibt Halt und Orientierung. Man glaubt, alles unter Kontrolle zu haben.«

      Diese Erklärung verwirrte mich. Musste man daraus schließen, dass Hope, die ihre kleine Höllentour noch nicht hinter sich hatte, daran litt, nicht zu wissen, wann das Weltende kam?

      Sie brach in Gelächter aus. Wie zum Teufel sollte Mary Hope Juliet Randall, eingefleischte David-Suzuki-Verehrerin vor dem Herrn, Meisterin in Algebra und Molekularchemie, zu solch mittelalterlichen Ansichten kommen!? Das wäre doch lachhaft.

      Ich beendete das Thema und schob weiter meinen Haufen Krümel durch den Raum, aber Hope schien dennoch einige Stunden lang nervös zu sein. Wahrscheinlich hatte ich die falsche Schublade aufgemacht.

      Anfang Oktober setzte Hope sich in den Kopf, Geld auf die hohe Kante zu legen. Nachdem sie den Bereichsleiter des Austragedienstes drei Wochen lang bearbeitet hatte, ließ dieser sie ein Verkaufsgebiet übernehmen – ein Wunder, da diese Gebiete stark geschützte Gefilde waren, die im Prinzip nur vom Vater zum Sohn oder von Bruder zu Bruder weitergereicht wurden.

      Jeden Morgen lief Hope mit einer schweren Tasche an der Hüfte von Bungalow zu Bungalow, hielt geschickt eine Zeitung aufgeschlagen und las die Rubrik Internationales. Schwarz wie eine Schornsteinfegerin kehrte sie in die Zoohandlung zurück, duschte, frühstückte, reicherte den Tee ihrer Mutter an – und klopfte dann, pünktlich um halb acht, bei uns an die Tür.

      Eines Morgens erschien sie bereits eine halbe Stunde früher als gewöhnlich, die Nase von Druckerschwärze verschmiert, ihre Tasche über der Schulter und ein Handtuch um den Hals.

      »Wusstest du, dass Druckerschwärze zum größten Teil aus Sojaöl besteht?«

      »Ach ja?«

      »Und daher ist es auch fast unmöglich, sie ohne Seife und warmes Wasser abzubekommen.«

      »Aha, verstehe. Schwierigkeiten im Sanitärbereich?«

      »Unsere Dusche spuckt nur noch dicke Brocken Rost. Normalerweise reicht ein fester Schlag gegen die Wand, um die Leitung wieder frei zu kriegen, aber heute Morgen war nichts zu machen. Könnte ich kurz duschen?«

      Natürlich konnte sie das. Ich führte sie hinunter in das Badezimmer im Kellergeschoss. Stimmte die Sache mit dem Sojaöl wirklich? Hope nickte. Nach dem Öl-Embargo der OPEC hatte man die Mineralöle in den Siebzigern durch Sojaöl ersetzt. Manchmal fragte ich mich, was Gutenberg von unserer Zivilisation gehalten hätte.

      Hope schloss sich im Badezimmer ein, und ich versuchte, meine Mathehausaufgaben fertig zu bekommen. Die letzte Aufgabe wollte sich einfach nicht lösen lassen – eine Gleichung mit drei besonders fiesen Unbekannten –, doch ich konnte mich unmöglich konzentrieren: Meine gesamte Aufmerksamkeit galt dem Wasserplätschern in der Dusche. Ich zwang mich, die Augen auf das Blatt zu heften, vergeblich. Ich wünschte mir den Röntgenblick. Ich stierte auf die Wand, durchbohrte die Atome, durchdrang das dünne PVC, das Holz, den Dampf und kartographierte Hopes zierliche Figur beim Einseifen.

      Als Hope zehn Minuten später barfuß wieder aus dem Bad kam, hatte ich mich auf meinem Lösungsweg verrannt wie nie zuvor. Sie trug Jeans und ein Goldorak-T-Shirt, das ihr ein wenig zu klein war, wodurch sich mein Zustand noch verschlimmerte. (Sie hatte tatsächlich bei Saint-Vincent de Paul einen ganzen Sack Kinderkleider an Land gezogen.)

      Mit dem Handtuch um den Hals inspizierte sie die Kellerräume, hielt kurz vor dem Fernseher inne und blieb dann vor dem großen Foto meiner Tante Ida stehen, die stolz vor der familieneigenen Flotte Betonmischer posierte. Neugierig beugte sie sich hinunter zum Messingschild mit der Aufschrift: »Bauermann Beton Inc. – bester Beton seit 1953«.

      Hope wickelte das Handtuch wie ein Kalif um den Kopf und trat zu mir:

      »Rechenprobleme?«

      Ich grunzte. Sie schnappte sich einen Stift, und während sie mit der einen Hand die Haare trockenrubbelte, brachte sie mit der anderen Ordnung in meine Gleichung. Nur wenige Sekunden, und schon wichen die Unbekannten einer eleganten Lösung.

      Mit dem Kinn deutete Hope zum Foto meiner Tante Ida.

      »Deine Familie handelt mit harten Sachen?«

      Ich musste lächeln. In meiner Familie ging es tatsächlich um harte Sachen. Hope wollte unbedingt noch mehr hören, doch gerade da fragte meine Mutter oben von der Treppe herunter, ob wir Waffeln wollten. Eine rein rhetorische Frage. Ich versprach also Hope, ihr bei einer anderen Gelegenheit alles über den Bauermann-Clan zu erzählen, und wir stiegen hinauf ins Erdgeschoss.

      Ein süßer Duft durchzog die Küche. Auf dem Tisch standen ein Korb mit Waffeln frisch aus der Mikrowelle, eine Schale Orangen und ein Krug Maissirup. Mein Vater las den Wirtschaftsteil, meine Mutter studierte die Todesanzeigen. Die Kaffeemaschine tat ihre Pflicht. Im Hintergrund dudelte das Radio leise vor sich hin.

      Gut gelaunt rief mein Vater Hope zu:

      »Na, Fräulein Randall, was gibt’s Neues?«

      Hope schenkte ihm ein breites Lächeln und angelte sich drei Waffeln.

      »Das Übliche. Großdemonstration gegen das kommunistische Regime in Leipzig. Und die kalte Fusion hat sich doch als ziemlicher Unsinn rausgestellt.«

      Während sie sich ein Kilo Nutella auf die Waffeln schmierte, betrachtete ich die Gesichter meiner Eltern. Vergnügen väterlicherseits, Befremden mütterlicherseits. Meine Mutter legte die Zeitung zusammen und fegte mit dem Handrücken ein paar Krümel fort.

      »Wie geht’s denn deiner Mutter?«

      »Gut, glaube ich. Sie arbeitet viel. Ernährt sich schlecht. Aber wenn Sie wirklich meine Meinung hören wollen, ist kalte Fusion ein interessanteres Thema.«

      Hope verbrachte immer mehr Zeit bei uns im Keller. In Anbetracht der, höflich ausgedrückt, ungewöhnlichen Stimmung im Randall’schen Zoogeschäft hielt ich das auch für das Klügste. Sie musste auf andere Gedanken kommen, und während wir unsere Abende vor dem Fernseher verbrachten und uns mit einem Schälchen Knabberbrezeln in unserer Reichweite auf dem großen weichen Sofa fläzten, setzten ihre Russischlehrbücher langsam Staub an.

      The Nature of Things war gerade zu Ende, und wir durchschritten die wöchentliche Talsohle: Nach Sensei Suzuki konnte in Hopes Augen nichts wirklich Bestand haben.

      Beim Durchzappen der Kanäle stieß ich auf eine Reportage der BBC über die Ausgrabungsarbeiten in Pompeji. Hope gab vor, sich ausschließlich für die Werbung zu interessieren – sicher nur, um mich damit auf die Palme zu bringen. Bei jeder Unterbrechung mimte sie eine Ekstase, fiel in Trance oder suchte nach geheimen Botschaften in den Spots für Tampons (größte Freiheit, ultimatives Gefühl).

      Warum interessierten sich die Leute nicht mehr für Archäologie?

      Unter der sengenden Sonne wühlten unterbezahlte Praktikanten mit Pinsel und Kelle im Boden herum. Eine italienische Archäologin erklärte eine der großen Besonderheiten dieser Ausgrabungsstelle: Bei den Grabungsarbeiten stieß man hier und dort auf Hohlräume, die durch die Körper der Vulkanopfer entstanden waren. Es genügte, diese mit Gips auszugießen und die Hohlform mit Steinscheren freizulegen, und schon erhielt man das dreidimensionale Abbild eines Pompejaners genau im Augenblick seines Todes. (Dieses Detail konnte Hopes Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick fesseln.)

      Die Kamera wanderte durch ein Lager mit Dutzenden solcher Abgüsse. Regalweise lagen dort erstickte römische Bürger, zusammengekrümmt, aneinandergedrückt – eine ganze Bevölkerung


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