Tarmac. Nicolas Dickner
meine Mutter den Telefonhörer abnahm, um die Zoohandlung anzurufen, die vor kurzem ans Telefonnetz angeschlossen worden war.
Durch einen sonderbaren Zufall war Madame Randall zu Hause.
Nach der üblichen Begrüßung begann meine Mutter, den Grund ihres Anrufs darzulegen. Doch sobald sie mehr als drei Silben gesprochen hatte, übernahm Madame Randall das Gespräch – ohne dass meine Mutter mehr als »ja, ja« oder »nein, nein« einwerfen konnte.
Ich sah, wie ihr Gesichtsausdruck von Höflichkeit zu Unverständnis wechselte, dann zu völliger Bestürzung, nicht ohne zuvor die ganze Bandbreite der Verblüffung gezeigt zu haben. Sie legte auf und verschwand mit ihrem Korb schmutziger Wäsche, ohne noch ein Wort zu sagen – zur Abendbrotzeit aber brachte sie uns chinesisches Essen und eine Familienflasche Star Cola, und wir aßen mit Blick auf das frohlockende Berlin.
Ich weiß nicht, was Madame Randall meiner Mutter erzählt haben mochte, aber von nun an würde sie nie wieder murren, wenn Hope egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit in den Bunker kam, um zu essen, schlafen, arbeiten, lesen, duschen oder einfach die Zeit totzuschlagen. Meine Lieblingsasylantin hatte soeben ihr Dauervisum bekommen.
15. Bumm!
Den Rest des Abends verbrachten wir mit zahlreichen Sondersendungen. In den Werbepausen tippten wir abwechselnd unsere Aufsätze. Aus Ideenmangel bemühte ich ein nicht ganz unbekanntes Thema: Beton. Ich sagte revolutionäre Bauweisen voraus, die bald durch eine Vielzahl neuer Additive möglich werden würden. (Im Sprachregister des Futurismus fand ich das Wort »Additive« recht überzeugend.)
Hope, die wie immer ganz in der Gegenwart lebte, verkündete ihrerseits den Fall des sowjetischen Regimes und das Ende des Kalten Krieges innerhalb der nächsten zwei Jahre und fügte hinzu, dass wir bald keine Angst mehr vor der Atombombe haben müssten. Stattdessen hätten wir von nun an Grund, die veralteten Industrieanlagen der UdSSR zu fürchten – wie es bereits der Störfall in Tschernobyl gezeigt habe. Diese Entwicklung sei um einiges gefährlicher als die Wasserstoffbombe: Die Anlagen stellten eine Art Zeitbombe dar, die niemand kontrollierte, ein Selbstzerstörungsmechanismus im Herzen des Imperium Sovieticum.
Diese Doktorarbeit im Miniaturformat (exakt 250 Worte) überschrieb sie mit dem lakonischen Titel: »Bumm!«
Während der StyleWriter unsere Aufsätze ausspuckte, bat Hope mich um eine objektive Einschätzung. Reflexartig korrigierte ich zwei, drei Rechtschreibfehler und erklärte, dass es sich um einen sehr guten Text handele, für den sie mit großer Wahrscheinlichkeit eine sehr schlechte Note bekäme. Ich lachte schon bei dem bloßen Gedanken an Madame Michauds entsetztes Gesicht bei der Lektüre.
Wir schauten noch die letzten Nachrichten, dann war nach und nach auf den meisten Kanälen Sendeschluss. Kurz vor Mitternacht beschränkte sich die Auswahl auf David Lettermans Late Night und die achthundertste Wiederholung von Planet der Affen.
Wir entschieden uns selbstverständlich für Planet der Affen.
16. Der Beginn einer neuen Ära
Auf dem Schulhof herrschte der übliche Montagmorgen-Tumult. Nichts ließ darauf schließen, dass nur wenige Tage zuvor in Berlin die Mauer gefallen war.
Diese Schule war von geschichtlichen Ereignissen bestens abgeschirmt.
Auf der Treppe nach oben trafen wir Monsieur Chénard, der eine Papiertüte Zitronen mit sich herumtrug. Seit Jahrzehnten unterrichtete Chénard das Fach Chemie. Er war zur Zeit der großen Wirtschaftskrise geboren worden – also knapp nach der letzten Eiszeit –, galt als ältester Lehrer der Schule und war als Anekdotenonkel verschrien, was ihn zur Zielscheibe für manchen billigen Scherz machte.
Hope konnte ihn gut leiden, wie einen Großvater, den der Zweite Weltkrieg verschont hatte. Oft verbrachte sie ihre Mittagspausen bei ihm im Büro. Chénard stopfte seine Pfeife mit einigen Prisen dubiosen Tabaks, Hope legte ihre Füße auf den Rand des Schreibtischs, und sie diskutierten über Darwinismus, Geologie und Quantenphysik. Auf einem Bücherbrett spielte leise das Radio. Es war nicht einfach irgendein Apparat, sondern das Alter Ego seines Besitzers: ein ehrwürdiges Röhrenradio, durch das einst Eisenhower und Orson Welles zu hören gewesen waren, das mittlerweile aber nur noch den Lokalfunk auf Langwelle empfing.
Kurzum, Chénard mit seinem fleckigen Kittel, der Tüte Zitronen unterm Arm und der Pfeife hinterm Ohr stieg die Treppe in Gegenrichtung hinunter. Er grüßte uns und wechselte mit Hope ein paar Worte über das Geschehen in Berlin.
»Monsieur Chénard, wie alt waren Sie 1945?«, fragte sie plötzlich.
Überrascht zuckte er mit den Schultern:
»Ungefähr vierzehn.«
»Also erinnern Sie sich an Hiroshima?«
»An die Bombe? Ja, daran erinnere ich mich …«
Mit nachdenklichem Blick rückte er die Tüte zurecht: »Ja, an die Bombe erinnere ich mich«, wiederholte er.
Eine Welle Schüler drückte sich maulend an Backbord und Steuerbord vorbei, protestierte gegen das Hindernis, das wir bildeten, und unser alter Chemielehrer wirkte mit einem Mal wie eine dieser Filmfiguren, die unbeweglich in der Mitte eines großen Platzes stehen, während Tausende Statisten im Zeitraffer an ihr vorbeiziehen. Aber Chénard war nur nach außen hin unbeweglich: Unter der Oberfläche wanderte sein Geist mit Lichtgeschwindigkeit zurück in die Vergangenheit:
»Ich erinnere mich vor allem an die Zeitungsberichte. Es war ein Triumph.«
»Ein Triumph?«, rief ich überrascht.
»Aber ja. Kanada hatte beim Manhattan-Projekt mitgemacht. Man verkündete den Beginn einer neuen Ära. Häuser, die mit Kernenergie beheizt würden. Autos, die mit Plutonium führen. Eine unerschöpfliche Energiequelle. Grund genug für mich, in die Wissenschaft zu gehen.«
Leicht verstört, als erwachte er gerade in der Mitte eines Wildbachs, blickte er rechts und links auf die Schüler, die vorbeimarschierten. Er zwinkerte und schien nach einer Entschuldigung zu suchen:
»Mehrere Wissenschaftler fanden durch Hiroshima ihre Berufung, wisst ihr …«
Es schellte zur letzten Stunde, und als hätte sie auf dieses Signal gewartet, gab die Papiertüte nach. Dutzende Zitronen kullerten die Treppe hinunter, sprangen zwischen den Füßen der Schüler über den Boden.
Wir flitzten in unsere Klasse und ließen ihn mit seinen Zitrusfrüchten allein. Hope war allerdings beunruhigt.
»Was glaubst du, hat er mit den Zitronen vor?«
17. Megazitronen
Wenn sich Hope eine Idee in den Kopf gesetzt hatte, gab sie diese, als echte Randall, niemals auf. Sie drehte und wendete sie in alle Richtungen wie einen Zauberwürfel – und dieser Prozess lief im Hintergrund stunden-, manchmal auch tagelang weiter. Den ganzen Tag über sah ich sie Zitronen in unterschiedlichen Größen malen: auf ihr Pult, den Rand ihres Englischhefts und auf ihre Handflächen.
Wir lüfteten das Geheimnis am späteren Nachmittag im Chemielabor: Chénard wollte uns zeigen, wie man aus einer Zitrone eine Batterie bauen konnte!
Der Versuch schien superleicht. Man steckte einfach zwei Elektroden in die arme Frucht und konnte mit Hilfe eines Voltmessers feststellen, dass der Spannungsunterschied einen sehr schwachen Stromfluss entstehen ließ. Der Stromfluss war fast nicht wahrnehmbar – er lag etwa bei 1,5 Volt –, und man hätte mehrere Hundert Zitronen in Reihe schalten müssen, um eine einfache 40-Watt-Birne zum Leuchten zu bringen. Es ging bei dem Versuch natürlich nicht darum, möglichst viel Strom zu erzeugen. Er sollte erklären, welche Rolle Zitronensäure, Zink und Aluminium bei diesem sonderbaren Vorgang spielten.
Hope und ich waren ein gefürchtetes Team – in erster Linie lag das an Hope, muss ich zugeben –, und wir waren mit dem Experiment im Handumdrehen fertig. Während ich unser Versuchsprotokoll gegenlas und die letzten Fehler korrigierte, haderten unsere Nachbarn noch mit der ihnen zugewiesenen Frucht und versuchten erfolglos, ihr den Kupferdraht durch die Schale zu rammen.
Mit