Tarmac. Nicolas Dickner
zeigte 4:00 Uhr und 12 °C, als die beiden Frauen Yarmouth mit fünfundfünfzig Stundenkilometern verließen – ausgerüstet mit einer Thermosflasche rötlichen Tees und einer zwischen Maine und Témiscouata eingerissenen Straßenkarte.
Hope kauerte sich auf einem freien Stückchen Rückbank zusammen und versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Sie legte den Kopf auf ihren Rucksack, in dem die Clozapin-Pillen rasselten wie Rumbakugeln.
Sie erwachte am Vormittag mitten in Neubraunschweig. Ihre Mutter fuhr auf einem Schotterweg, der die Provinz pfostengerade in zwei Teile hieb: eine endlose Trasse gesäumt von Tausenden Hektar Fichten, die allesamt der Sägewerkdynastie Irving gehörten. Über zwei Stunden begegneten ihnen nur Kolonnen von Holztransportern und staubbedeckte Geländefahrzeuge. Irgendwo im Nordwesten der Provinz tauchten sie wieder auf und überquerten die Grenze nach Témiscouata, wo der Himmel die bei Waldbränden typische gelbliche Färbung hatte. Über der Straße flogen wieder und wieder die wasserbeladenen CL-215 hin und her.
Hope war in ihr Russischlehrbuch vertieft und sprach kein Wort. Sie wusste, dass sie auf ihre Fragen bestenfalls ein paar theologische Ungereimtheiten zu hören bekommen würde. Es war ohnehin nur eine einzige Frage von Bedeutung: Wie weit würden sie noch kommen? Ann Randall ließe sich wohl nur vom Pazifik höchstpersönlich aufhalten – und selbst dann wäre es durchaus möglich, dass sie sich kopfüber hineinstürzte. Auf jeden Fall musste etwas unternommen werden. Was würde Hope tun? Ihr blieben noch fünftausend Kilometer, um einen Plan zu schmieden.
Indessen jedoch passierte Folgendes: Das Zentralorgan ihres Kameraden Lada erlitt mitten im Torfmoor ein paar Kilometer südlich von Rivière-du-Loup plötzlich einen Kollaps, das Schicksal hatte ihn (gewissermaßen) dahingerafft. So groß war die Tragweite dieses Ereignisses, dass Mechanik nebensächlich war und es nur noch um Karmafragen ging: fünf überhitzte Ventile auf einen Streich, ein verbrutzelter Vergaser, eine ausgerenkte Kupplung und unzählige lockere Schrauben.
Der zu Hilfe gerufene Mechaniker prüfte Zahnstocher kauend das Fahrzeug auf Herz und Nieren und kam zu dem unwiderruflichen Urteil: kaputt! Es sei sinnvoller, das Wrack zum Kilopreis zu verkaufen, als hier auch nur eine Minute Arbeit zu investieren.
Ann Randall, die sich nach zwölf Stunden am Steuer wieder in einem einigermaßen vernünftigen Zustand befand, zog kurz Bilanz. Zurück konnten sie nicht mehr. Sie löcherte den Mechaniker mit Fragen über Rivière-du-Loup und befand dann, dass diese Stadt bestens geeignet war, um dort auf den Weltuntergang zu warten.
Die beiden Frauen mieteten das alte Zoogeschäft direkt neben den Abluftrohren der Restaurantküche des Chinesischen Gartens. Chinesische und kanadische Spezialitäten. Ein beachtlicher Teil ihrer Ersparnisse ging für die erste Monatsmiete drauf, so dass Ann als Lagerarbeiterin im Industrieviertel anheuern musste, wo eine ganze Horde armer Hunde damit beschäftigt war, in der Volksrepublik China gefertigte Rucksäcke mit Papier auszustopfen. Die Arbeit war erbärmlich, aber reichte zum Auskommen. Und man würde ja bald die endgültige Vernichtung der gesamten zivilisierten Welt, einschließlich der Volksrepublik China, erleben.
Ann Randall stand wankend am Rande des Abgrunds, immer kurz vor einem Rückfall, der allein durch ein winziges Detail verhindert wurde: Hope tat ihr jeden Morgen, ohne dass sie davon wusste, zwei Pillen Clozapin in den Tee.
8. Albert Einsteins vierundzwanzig Anzüge
Als die Schule wieder anfing, klopfte ich morgens beim Zoogeschäft an die Tür. Hopes Mutter war gerade gegangen, und alles, was von ihr geblieben war, war ein Haufen lauwarmer Decken auf der Ausziehcouch. Das war mir nur recht: Ich hatte es nicht eilig, dieses psychiatrische Phänomen kennenzulernen.
Auf dem Weg zur Schule klaute Hope eine Zeitung, die aus einem Briefkasten herausragte. Auf der ersten Seite prangte ein Bild des Planeten Neptun, aufgenommen von der Raumsonde Voyager 2. Da Hope bei mir nicht die nötige Begeisterung dafür entdecken konnte, erklärte sie mir, dass die Sonde 1977 ins All geschossen worden war und dass die zwölf Jahre, die sie bis zu Neptun gebraucht hatte, uns auf ganz wunderbare Weise die unendliche Weite des Universums und die Winzigkeit unserer Erde vor Augen führen würden.
So betrachtet schien die Tatsache, dass die Schule wieder begann, eher unbedeutend. Astronomie ist schon eine tolle Sache.
Auf dem Schulhof wimmelte es von Menschen. Der Unterricht begann in zehn Minuten, und zweitausend Schüler drängten sich vor den Treppenaufgängen. Hope und ich hatten uns in eine ruhige Ecke verzogen und beobachteten von dort das Gewühl. Dann und wann zeigte ich ihr einen Lehrer, der unseres Interesses würdig erschien oder vor dem man sich in Acht nehmen musste. Hope fragte mich, ob es Schüler gab, die ich sehen wollte.
»Nein, nicht wirklich.«
Was natürlich nichts anderes hieß, als dass es im Moment niemanden gab, den ich lieber sehen wollte als Hope.
Mit verschränkten Armen beäugten wir das Kommen und Gehen der Schüler in ihren neuen Klamotten und ausgetüftelten Frisuren und ihrem gepflegt-coolen Wortschatz. Erst da fiel mir auf, dass Hope seit einer Woche dieselben Kleider trug: eine uralte, löchrige Jeans, eine abgewetzte Baseballmütze und ein graues T-Shirt. Aber waren es tatsächlich dieselben? Vielleicht folgte sie dem Beispiel Albert Einsteins, der angeblich vierundzwanzig gleiche Anzüge besaß, um sich nicht lange mit der morgendlichen Kleiderfrage aufzuhalten.
Die Anekdote brachte Hope zum Schmunzeln. Auch sie kannte zwei, drei Dinge über das Leben des großen Physikers. Zum Beispiel hatte Einstein tatsächlich einen Brief an Präsident Roosevelt geschickt, mit der Bitte, die Atombombe zu entwickeln, bevor die Deutschen es täten. Er war wirklich Anhänger des sozialistischen Zionismus gewesen und hatte um 1950 das Amt des israelischen Staatspräsidenten abgelehnt. Und er hatte ehrlich gesagt: »Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Teppichmessern aus dem örtlichen Baumarkt kämpfen.«
Von der Geschichte mit den vierundzwanzig gleichen Anzügen hatte Hope allerdings noch nie gehört.
In Wahrheit trug sie immer dieselben Kleider, weil es die einzigen waren, die sie beim Aufbruch aus Yarmouth hatte mitnehmen können. Jeden Abend wusch sie ihr Oberteil und ihre Unterwäsche im Spülbecken in der Küche, doch nach drei Wochen räumte sie ein, dass es an der Zeit war, bald eine andere Lösung zu finden.
Vielleicht musste man über das System Einsteins noch einmal nachdenken?
9. Die letzte große Phobie
Zur Tagundnachtgleiche des Herbstes hatte Hope sich bereits prächtig an ihr neues Ökosystem angepasst. Man hätte schwören können, sie habe ihr ganzes Leben hier verbracht – sogar ihr sonderbarer Akzent hatte sich ein wenig verloren. Ihr Schlafplatz blieb allerdings nach wie vor die Badewanne, was ich im Hinblick auf die Stabilität ihres geistigen Zustandes als eher beunruhigend empfand. Immer wenn ich in der Randall’schen Zoohandlung aufkreuzte, hatte ich die Befürchtung, den Ort nach einem erneuten nächtlichen psychotischen Anfall verlassen vorzufinden.
Glaubte man Hope, dann machte ich mir unnötige Sorgen: Auf das Clozapin sei Verlass. Dank dieses Wundermoleküls beschränkten sich Madame Randalls große Angstanfälle nur noch auf ein paar kleine, durchaus erträgliche Manien.
Inzwischen sah es in der Zoohandlung immer mehr wie in einer Räuberhöhle oder Junkie-Bude aus – eine Art Wegwerfwohnung. An einem Samstagmorgen nutzten Hope und ich Madame Randalls Abwesenheit und nahmen uns beherzt des Durcheinanders an.
Während ich mir den Besen schnappte, hatte Hope das schmutzige Geschirr mit Spülwasser geflutet. Ein paar Seifenblasen flogen durch die Zoohandlung und spiegelten alles wider, was sie umgab – kleine Sicherheitskopien unseres Universums.
Hope hatte mir ausdrücklich untersagt, etwas auf dem Esstisch auch nur anzurühren. Der Tisch bog sich unter einem riesigen Berg von Papier: Rechnungen, Mondphasen, kabbalistische Diagramme und Ramen-Packungen der Marke Captain Mofuku. Dieses Durcheinander war die letzte »große Phobie«, die ihr das Clozapin noch nicht hatte nehmen können: Madame Randall suchte versessen weiter nach dem Datum ihres Weltuntergangs.
Aus ihrer Sicht war die Situation ganz klar: Wenn die Apokalypse nicht,