Tarmac. Nicolas Dickner
ihrer letzten Kopulation überrascht hatte, und wenn ja, ob die Archäologen in diesem Fall aussagekräftige Abgüsse davon gemacht hatten.
Hope gähnte, kratzte sich den Bauchnabel. Sie streckte den Arm zur Schüssel, fand darin aber nur noch ein paar Körnchen grobes Salz.
»Gibt’s noch Brezeln?«
Ich reichte ihr die Tüte. Auf dem Bildschirm tauchten Mauerreste mit antiken Graffiti auf. Die Römer hatten nicht bis zur Erfindung der Sprühfarbe gewartet, um öffentliche Wände zu verunstalten. Hope war aufgestanden, tigerte durch das Kellergeschoss und suchte dabei etwas in ihrer Tasche. Sie warf einen längeren Blick auf das Bild meiner Tante Ida mit ihrer Flotte Betonmischer und blieb dann vor meinen Science-Fiction-Romanen stehen.
»Hast du die alle gelesen?«
Ich nickte. Sie wischte sich die Finger an ihrer Jeans ab, zog Isaac Asimov aus dem Regal und blätterte darin.
»Und wo kaufst du die?«
»Bei Youri. Ein Secondhand-Buchladen in der Rue Lafontaine.«
Sie ließ den Blick von oben bis unten über das Regal schweifen und kniete sich schließlich vor die Archäologiebücher auf dem untersten Bücherbrett. Und natürlich entlockte ihr dieses Nebeneinander ein Lächeln: Wie die meisten meiner Zeitgenossen konnte auch Hope nur schwerlich die naturbedingte Komplementarität zwischen Science-Fiction und Archäologie nachvollziehen.
Die Reportage ging zu Ende, und Hope verlangte umgehend nach aktuellen Nachrichten. Ich drückte auf die Fernbedienung, gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie der Nachrichtensprecher die großen Schlagzeilen verkündete: verheerend, Taifun, Thailand.
Gay war der heftigste Taifun, der die Malaiische Halbinsel seit Jahrzehnten heimgesucht hatte. Dabei erreichte er Windgeschwindigkeiten bis fast zweihundert Stundenkilometer, man sah ein kleines Haus wie eine leere Pappschachtel davonfliegen – ein Bild des Grauens. Hätte unser Bungalow besser standgehalten?
»Interessante Frage«, murmelte Hope.
Sie besah sich unser Kellergeschoss genau, bevor sie erklärte, dass der nordamerikanische Bungalow bei eingehender Betrachtung gewisse Eigenschaften eines Bunkers aufweise. Er sei eine der wenigen modernen Behausungen, die zu fünfzig Prozent unter der Erdoberfläche lagen.
»Früher hatten die Häuser einfache Keller, Krypten, Vorratsräume, Hohlräume zur Verlegung von Rohrleitungen oder Verstecke für Kalaschnikows. Das Kellergeschoss des nordamerikanischen Bungalows ist jedoch etwas anderes. Es ist isoliert, beheizbar, wohnlich eingerichtet, mit Betten ausgestattet, mit Kühlschränken, Kühlkammern, Fernsehern, mit Telefonen und Gesellschaftsspielen.«
»Nicht zu vergessen den Angorateppich!«
»Ganz genau … anders gesagt, ein über längere Zeit problemlos bewohnbarer Raum.«
Während sie sprach, hatte sie eine verlorengegangene Brezel zwischen zwei Sofakissen geborgen.
»Das moderne Kellergeschoss entstand zu Zeiten des Kalten Krieges und ist das Produkt einer zukunftsbesessenen Zivilisation. Aber wenn man genau darüber nachdenkt, haben zuletzt die Steinzeitmenschen so zahlreich unter der Erde gewohnt.«
Sie warf die Brezel hoch in die Luft. Diese beschrieb eine perfekte Parabel, bevor sie zwischen ihren Zähnen landete. Knack.
»Merke: Modernität ist etwas sehr Relatives.«
Ausgefuchste Hope.
Beim Wetterbericht schlief sie ein, den Kopf im Nacken, und murmelte unverständliche Kommentare. Ich stellte den Fernseher leiser, legte Hope eine Decke über die Beine und sah ihr einen Moment lang beim Schlafen zu.
Das menschliche Gehirn verfeuert angeblich ein Fünftel der vom Körper hergestellten Energie, bei Hope war es aber ganz offensichtlich mehr – und während sie mit geschlossenen Augen ruhig vor sich hin atmete, stellte ich mir vor, wie ihr Großhirn in aller Ruhe ein paar Kügelchen Uranium 235 spaltete.
12. Termiten
Wir saßen auf einer Bank des Stadions und streckten uns schlotternd den letzten Strahlen Herbstsonne entgegen. Eisiger Wind kam vom Fluss herauf, und man musste schon Mantel und Mütze tragen. Solche Kälte mitten im November ließ den Beginn einer neuen Eiszeit befürchten. Aus den Schränken meiner Eltern hatte ich für Hope einen alten Mantel organisieren können, der ihr nur ein wenig zu groß war. Sie sah darin aus wie ein Kind, das in einer dicken roten Decke steckte, aber das scherte sie nicht.
Seit einigen Wochen schon verlangte sie nach einer UMFASSENDEN GESCHICHTE DER FAMILIE BAUERMANN – mit allem, was diese an Wahrheiten und Legenden zu bieten hatte –, und zähneklappernd machte ich mich nun daran, ihr alles zu erzählen.
Meine Vorfahren waren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Holland nach New Jersey ausgewandert, wo sie zunächst im Maurerhandwerk mitmischten, bevor sie sich langsam auf Zement und Beton spezialisierten. Ihrer Umtriebigkeit war es zu verdanken, dass sie kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine der größten Zementfabriken der Region besaßen: Die Bauermann Portland Cement Works.
Die Fabrik befand sich direkt am Ufer des Flusses Fresh Kills, nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt, an dem später die größte Müllkippe der Welt entstehen sollte. Die größten Fabriken, die gigantischsten Müllkippen – Amerika war ein geheiligtes Land.
Das Goldene Zeitalter der Bauermanns fand zu Beginn des Kalten Krieges sein Ende, als die Mafia die Familie vom regionalen Markt drängte. Natürlich hatten sie versucht standzuhalten, aber nach Dutzenden Handgreiflichkeiten auf den Baustellen, Todesdrohungen, überraschenden Boykotts und einer beträchtlichen Anzahl durch Baseballkeulen zertrümmerter Betonmischerscheiben entschied mein ehrwürdiger Großvater, Wilhelm Bauermann, die Errichtung New Yorks anderen Phantasten zu überlassen.
Der Exodus der Bauermanns erfolgte an einem Morgen im Dezember 1953. Der Familienkonvoi erstreckte sich über mehrere Kilometer der Interstate 87: Betonmischer, Steinbrecher, Kieswaschanlagen und vor allem ein riesiger DRO auf zwei Tiefladern.
»Ein was?«
»Ein DRO. Das ist ein Drehrohrofen. Sieht aus wie ein dickes, leicht geneigtes Rohr. Auf der einen Seite kommen die Rohstoffe hinein, auf der anderen der fertige Klinker heraus, und der Ofen kann Tag und Nacht arbeiten, ohne Unterbrechung.«
»Spannend.«
»Kann ich weitermachen?«
»Bitte doch.«
Die Bauermanns zogen also hoch nach Neuengland, überquerten die kanadische Grenze und machten in Rivière-du-Loup schließlich Halt, im damals noch im Entstehen begriffenen Industriegebiet, nur wenige Kilometer von der Trasse der zukünftigen A 20 entfernt. Aussicht auf vielfältige Betonkonstruktionen.
Die kanadischen Müllhalden waren nicht so gigantisch, die Fabriken kleiner, und so drosselte Familie Bauermann ihren Ehrgeiz. Mein Onkel Kurt sprach manchmal noch von seiner Jugend in New Jersey, der riesigen Fabrik, die niemals ruhte, dem ständigen Hin und Her der Betonmischer, dem Dröhnen der DROs – und vor allem den Kohlebergen, von deren Gipfeln aus man die Skyline von Manhattan im fernen Dunst schimmern sah wie Bagdad aus Tausendundeiner Nacht.
Unsere Familie blieb dem Beton treu. Die Bestimmung der Bauermanns schien festgelegt wie bei einer Kolonie Termiten: Mein Vater leitete die Zementfabrik, mein Onkel Kurt führte das Betonwerk, und meine legendäre Tante Ida herrschte über die Armada der Betonmischer. Sie war die Frau auf dem illustren Foto bei uns im Kellergeschoss: Breitbeinig, mit verschränkten Armen und unerbittlichem Blick posierte sie vor einem Halbkreis chromblitzender Macks. Als ich mir einmal ein geistiges Bild von Hernán Cortés machen wollte, dachte ich an Idas Pose. Die Neue Welt konnte sich warm anziehen.
Hope musste lachen. Übertrieb ich nicht ein bisschen? Nein, ich übertrieb nicht. Für die Bauermanns bedeutete Beton weit mehr als nur Broterwerb: Wir hatten eine zivilisatorische Aufgabe, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Wir waren die Erbauer neuer Welten.
»Du übernimmst also einmal alles?«
Damit