Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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ja«, stammelte ich, führte das Getränk zum Mund und sog am Röhrchen, um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »So zugespitzt würde ich es nicht formulieren. Er war mir immer … irgendwie war er mir immer … na gut, die Wahrheit ist: Er war mir egal. Ziemlich egal. Manchmal sogar scheißegal. Ich schätze, dass das einen Menschen beeinflusst, oder etwa nicht?« Ich wunderte mich, dass ich einem fremden Menschen gegenüber so offen über meine Familienangelegenheiten sprach und schob den Umstand auf den Alkoholspiegel, als sie mich fragte, wie alt Leander sei.

      »Neunzehn«, sagte ich, »warum?«

      »Glaubst du nicht, dass er, sofern er nicht unter Drogeneinfluss stand, wusste, was er tat?«

      »Wahrscheinlich«, sagte ich. »Die Vergangenheit funkt halt rein, die kann man nicht so rausnehmen, oder? Wir sind doch das Produkt unserer Erfahrungen. Und wenn keine Verbindung mit dem Bruder existiert, ist das auch ein Eindruck, der sich einschreibt. Aber egal, es war falsch von ihm.«

      »Ja?«

      »Natürlich«, gab ich zu verstehen. »Man kann doch nicht einfach … es kann doch nicht jeder, der Lust hat, seinem Leben ein Ende zu bereiten, dieses Vorhaben in die Tat umsetzen.«

      »Man kann«, sagte sie. »Es wäre schade, das steht außer Zweifel, aber man kann.«

      »Wie kannst du das so sagen?«

      »Weil ich aus Erfahrung spreche«, sagte sie. »Ich hatte es nicht leicht in meiner Kindheit, aber darüber möchte ich jetzt nicht reden. Was ich sagen will, ist, dass man einem Erwachsenen durchaus freistellen kann, diesen Schritt zu wagen. In hundert Jahren wird, zumindest in unserer Gegend, niemand mehr daran zweifeln.«

      »Also ich weiß nicht«, sagte ich.

      »Dann halt in fünfhundert oder in tausend Jahren. Es wird passieren.«

      Die Bestimmtheit, mit der sie ihre Aussagen tätigte, schüchterte mich ein und imponierte mir zur selben Zeit. Sie hat eine Meinung, dachte ich, das muss man ihr lassen. Mit gekreuzten Beinen saß sie am Küchentisch, den linken Fuß an der Lehne eines Stuhls abgestützt. Sie sog den letzten Rest des Mischgetränks in ihren Mund und schüttelte das Glas, sodass die Überbleibsel der Eiswürfel gegen den Rand klimperten. Sie erhob sich, ging zum Kühlschrank und mischte sich ein neues Getränk. Meine Aufmerksamkeit legte sich auf ihren halb entblößten Rücken. Die Wirbel, über die sich ihre Haut spannte, waren deutlich zu erkennen. Noch einen? Wie bitte? Ob ich auch noch einen wolle? Ein kurzer Blick auf mein Glas verriet mir, dass es so gut wie leer war. Ich zeigte es ihr und nickte. Wir hatten unsere Gläser, seit wir die ersten vorsichtigen Worte miteinander ausgetauscht hatten, bereits dreimal gefüllt und waren nun beim Pernod angekommen.

      »Und die Schuld«, fuhr sie fort, nachdem sie wieder auf dem Tisch Platz genommen hatte, »dieses Wort, ich mag es nicht. Warum sprichst du nicht von Verantwortung?«

      Ich hoffte, dass dies bloß eine rhetorische Frage gewesen war, und wartete darauf, dass sie weitersprach, was sie dann zum Glück auch tat.

      »Jeder Erwachsene«, sagte sie, wenn ich mich nicht täuschte, bereits leicht lallend, »sollte sich selbst gegenüber Verantwortung tragen. Bei Kindern ist das klarerweise etwas anderes. Aber bei einem Erwachsenen? Das heißt natürlich nicht«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu, »dass man ihnen keine Hilfe anbieten sollte. Ich selbst habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen. In hundert Jahren – ich weiß, ich wiederhole mich –, aber in hundert oder in fünfhundert oder meinetwegen in tausend Jahren wird es völlig normal sein. Ach was, es sollte jetzt schon normal sein! Ich denke nämlich, dass es als Freund, Freundin oder Bruder, als Eltern oder als Geschwister und so weiter, ich denke, dass es da Grenzen gibt. Natürlich können wir jemandem, der Probleme mit der Bewältigung seines Lebens hat, beistehen, aber das geht meiner Ansicht nach nur bis zu einem gewissen Grad und nicht weiter. Denn sei mal ehrlich, welches Kind, auch wenn es erwachsen ist, hört schon auf seine Eltern?«

      »Also ich höre auf meine Mutter«, sagte ich und fügte ein unsicheres Manchmal hinzu.

      »Dann sind deine Eltern eine Ausnahme. Dann bist du eine Ausnahme.«

      »Ich sagte nicht, ich höre auf meine Eltern, sondern ich höre auf meine Mutter. Mein Vater spricht nicht mehr.«

      »Warum nicht?«

      »Weil er damit beschäftigt ist, drei Meter unter der Erde zu liegen und zu verfaulen.«

      Sie lachte. Dann hörte sie auf zu lachen.

      »Schon in Ordnung«, sagte ich. »Er ist gestorben. Das passiert manchmal bei älteren Menschen, weißt du?«

      In ihr Gesicht hatte sich Verwunderung gelegt, sie schüttelte den Kopf, wie um etwas loszuwerden, und schien nachzudenken. Und ich schaute ihr beim Denken zu.

      »Aber was«, fragte ich schließlich, »wenn es sich umgekehrt verhält? Was, wenn du eine Ausnahme darstellst?«

      Ich hätte gerne gewusst, was es mit ihrer Familie auf sich hatte, spürte aber, dass es nicht der richtige Moment war, um danach zu fragen. Im Grunde wollte ich gar nicht mehr reden. Ich wollte, ja, ich wusste längst, was ich wollte …

      In diesem Moment betrat Klaus pfeifend und sichtlich gut gelaunt die Küche, in der es mittlerweile ziemlich eng und heiß geworden war.

      »Ah«, sagte er, »und du bist?«

      »Du kennst sie nicht?«, fragte ich. Klaus schüttelte den Kopf. »Das ist …« Da wurde mir bewusst, dass ich sie noch nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

      »Ich bin Elisabeth«, sagte sie und streckte Klaus die rechte Hand entgegen. »Anna hat gemeint, dass es kein Problem wäre, wenn ich mitkomme. Ich nehme an, du bist das Geburtstagskind? Gratuliere!«

      »Danke«, sagte Klaus und schüttelte ihre Hand. »Sie ist fein.«

      »Wer?«, fragte sie. »Anna?«

      »Nicht wer«, sagte Klaus grinsend, »sondern was! Ich meine deine Hand. Es fühlt sich gut an, sie zu halten.«

      Ich bildete mir ein, dass Elisabeth rote Wangen bekam, wobei es durchaus auch von der in diesem kleinen Raum stehenden feuchten Hitze herrühren konnte.

      »Das ist eine ungewöhnliche Aussage«, meinte sie. »Ich nehme an, dass ich mich bedanken kann?«

      »Es war nicht als Kompliment, sondern als Feststellung gemeint«, sagte Klaus trocken. »Aber natürlich kannst du dich bedanken. Nur vergiss bitte nicht: Es fühlt sich ebenso gut an, über die papierne Haut der Hände von alten Menschen zu fahren.«

      »Aha«, machte sie. »Dann werde ich mich vielleicht doch nicht bedanken.«

      »Wie du meinst«, sagte Klaus und ließ ihre Hand los. »Es ändert nichts daran, dass es so ist.«

      Elisabeth schien sich nicht sicher zu sein, wie sie darauf reagieren sollte, und schaute mich hilfesuchend an.

      »Und du, Albert?«, fragte er. »Fühlst du dich wohl?«

      »Ja«, sagte ich, »sehr sogar.«

      »Das freut mich«, sagte er, und zu Elisabeth gerichtet fügte er hinzu: »In einer anderen Welt würdet ihr gut zueinander passen, denn auch Albert hat eine weiche Haut. Schau doch!« Er nahm meine Hand und strich mir mit den Fingerkuppen über den Handrücken. An meinen Unterarmen stellten sich die Haare auf. Ich hoffte, dass Elisabeth es nicht gesehen hatte, und fragte mich gleichzeitig, was so schlimm daran gewesen wäre. Behutsam legte Klaus meine Hand auf Elisabeths nackten Oberschenkel, dann prostete er mir zu und schlenderte weiter ins ebenso gefüllte Schlafzimmer, wo er mit einem Happy Birthday empfangen wurde. Ich fühlte nach Elisabeths Haut. Klaus hatte absolut recht, es tat gut, sie zu berühren.

      »Also das ist vielleicht ein schräger Typ«, sagte Elisabeth und deutete mit dem Daumen ins Schlafzimmer.

      »Schräg«, sagte ich, »ja, das ist er. Im nicht betrunkenen Zustand ist er nicht ganz so … nun ja, er ist jedenfalls anders.« Ich überlegte fieberhaft, was ich mit


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