Wer wir wären. Norbert Kröll
was hat er mit in einer anderen Welt gemeint?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte ich, »er redet oft verrücktes Zeug. Vielleicht habe ich ihn deshalb so gern.«
»Ach so«, sagte sie, »jetzt verstehe ich! Ihr beide seid …«
»Wie?«, schoss es aus mir hervor. »Nein, das hast du falsch verstanden!« Ohne dass ich es bewusst gewollt hätte, nahm ich die verschwitzte Hand von ihrem Oberschenkel. »Wir sind nicht«, stammelte ich, »wir sind nur … also wie soll ich das sagen?« Und da sprach ich es das erste Mal laut aus: »Er ist mein allerbester Freund, nichts weiter.«
»Ach so«, sagte sie, »na dann.«
»Na dann«, wiederholte ich, verspürte den Drang, etwas zu unternehmen, aber verharrte, als wäre ich plötzlich gelähmt, in meinen Bewegungen. Wir saßen nebeneinander, schauten eine Zeit lang geradeaus und sagten nichts. Ich fühlte mich peinlich berührt und fragte mich weshalb. Es gab nichts, sagte ich mir, wofür ich mich schämen müsste. Etwas knackte in meiner rechten Schulter. Ich interpretierte es als willkommenes Zeichen, nahm einen kräftigen Schluck vom Getränk, dann noch einen, und da ich nach wie vor zu wenig Mut für den nächsten entscheidenden Schritt in mir finden konnte, nahm ich noch einen allerletzten Schluck und dann, weil noch einer da war, noch einen. Nachdem ich das Glas geleert hatte, wendete ich meinen Oberkörper und mein Gesicht zu Elisabeth und sagte: »In Wahrheit fühle ich mich von Frauen angezogen, die … die kurze braune Haare haben. Und dunkle Augen. Und genauso eine Brille tragen, wie du sie auf deiner Nase sitzen hast.« Da sie nicht reagierte und ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, sprach ich weiter: »Und im Speziellen stehe ich auf Frauen, die sich am Oberschenkel so anfühlen, wie du dich anfühlst und die genauso eine Stimme haben wie du …« Sie führte ihre Handfläche zu meinem Mund. Sie schaute mich an. Es fühlte sich an, als würde sie mich etwas fragen, auf das ich keine Antwort wüsste, während ich in ihrem Gesicht nichts anderes als unlösbare Rätsel zu erkennen glaubte. Ein paar Sekunden später nahm sie die Hand von meinem Mund, wandte den Blick ab, richtete ihn auf ihr Getränk und trommelte mit den Fingernägeln gegen das Glas.
»Komm mit«, sagte sie auf einmal und schwang sich locker vom Tisch.
»Wohin?«
Sie lächelte mich an.
»Komm einfach mit.«
Sie streckte ihre Hand nach mir aus. Ich ergriff sie und folgte ihr ins Wohnzimmer. Der Pegel der Musik war inzwischen merklich angestiegen, die Bässe versetzten meinen Brustkorb sanft in Schwingung. Mein Herz, das spürte ich, schlug deutlich schneller als der Beat. Und wir tanzten, ohne uns zu berühren. Und wir tanzten und berührten uns. Und wir berührten uns, ohne zu tanzen.
FÜNF
Zuerst dachte ich, es wäre eine Begleiterscheinung eines epileptischen Anfalls, aber dieser Gedanke blitzte nur sehr kurz auf und war schon wieder in den Tiefen der Deutungsmöglichkeiten verschwunden. Wenn man etwas zum ersten Mal erlebt, also etwas, das wirklich neu ist … klar, wenn man das Leben genau betrachtet, stellt man recht schnell fest, dass alles, jeder einzelne Moment, wie schön oder beschissen er auch sein mag, neu ist, weil kein Blick dem anderen gleicht, weil kein Ablauf, auch wenn er noch so ähnlich ausgeführt werden mag, exakt dieselben Bahnen beschreibt, weil der Wind niemals gleich bläst, der Staub niemals auf dieselbe Art und Weise zu Boden fällt, man die Arme niemals völlig gleich bewegt, weil die Muskeln sich von Tag zu Tag verändern, die Zellen sich erneuern und die Gefäße im Körper sich anpassen an ein Wachstum oder ein Austrocknen oder eine Aktivität oder den Schlaf oder eine zelluläre Anpassung stattfindet an die Umwelteinflüsse, denen man ausgesetzt ist. Und vom atomaren Bereich habe ich hier noch gar nicht gesprochen. Das Zittern, das Vibrieren der Atome, es läuft niemals gleich ab, weil die Temperaturen sich stetig ändern, die Positionen sich verschieben, weil die Materialien arbeiten, je nachdem, welchen Einflüssen sie ausgesetzt sind, weil die Meere nicht stillstehen und die Platten sich ineinander verkeilen, weil die Erde bebt, weil sie lebt, weil sie durchs Weltall schießt und die Galaxie sich mit ihr dreht. Alles ist neu, auch im langweiligsten Job, in der unromantischsten Beziehung, im ereignislosesten Lebensabschnitt eines Menschen, wenn man sie sehen könnte, diese feinen Verschiebungen, dann … aber man kann sie nicht sehen.
Wenn man also etwas, das tatsächlich neu ist, zum ersten Mal erlebt, also – wenn man so will – etwas Bedeutendes, weiß man nicht, wohin damit. Bei mir war es so. Ich versuchte es einzuordnen, aber stellte sogleich fest, dass der Ordner Klaus’ epileptische Anfälle dieses Ereignis nicht aufnehmen konnte. Weil ich mittlerweile wusste, wie seine Anfälle vonstattengingen. Sie verliefen meist sehr ähnlich, damit kannte ich mich aus. Die Nervenzellen im Gehirn, erklärte mir Klaus, nachdem ich das erste Mal einen seiner Anfälle mitbekommen hatte und er wieder bei sich war, würden sich unkontrolliert entladen. Auch sein Vater sei davon betroffen. In seiner Jugend, erzählte Klaus, habe er seinen Vater gehasst. Von der Mutter hatte er die fein gezogenen Lippen, die dunklen Augen, das dichte Haar und die zierlichen Ohren geerbt, vom Vater eine Krankheit. Freilich, sagte Klaus, hatte es nicht lange gedauert und er hätte gewusst, dass diese Beschuldigungen zu nichts führten, er hätte ihm alsbald verziehen, wo es im Grunde, so sehe er es jetzt, ja gar nichts zu verzeihen gab, weil ihm sein Vater von vorneherein nichts angetan hätte, außer vielleicht die Tatsache, dass er ihm, mithilfe seiner Mutter, Leben eingehaucht hatte. Ja, murmelte Klaus, er sei ihm gegenüber nicht fair gewesen, wobei, so denke er nun, die Aufgabe eines Kindes auch nicht sein könne, fair zu seinen Eltern zu sein.
Klaus war abwesend. Manchmal nur für einen Augenblick – für einen Augenblick zu lange, würde ich meinen –, andere Male jedoch für einige Sekunden bis zu einer halben Minute, meistens aber zehn Sekunden plusminus zwei. Die Zeiten habe ich ein paar Mal mit dem Handy gestoppt, denn die Absencen kamen häufig vor, manchmal sogar mehrmals am Tag, je nachdem, ob er genug geschlafen und seine Tabletten genommen hatte. Lamotrigin, Levetiracetam, Valproinsäure, Topiramat und in Ausnahmefällen durfte es auch Ethosuximid sein, jedoch nicht mehr als zweitausend Milligramm am Tag. In einem eigenen Regal im Bad bewahrte er die Packungen auf, eine kleine Ration davon stets in seinem Rucksack. Er zeigte sie mir. Pillen in verschiedenen Größen, Formen und Farben. Bisweilen kam es mir so vor, als ob er die Medikamente nach Herzenslaune untereinander mischte, bald diese, bald jene Tablette einwarf, je nachdem, welches Verpackungsdesign ihn gerade mehr ansprach. Es sei völlig egal, sagte er mit einem Schulterzucken, wenn ich ihn darauf ansprach, die können ohne Probleme kombiniert werden. Bekam er einen Anfall, wobei ich es eher einen Ab-fall nennen würde, spielten in seinem Gehirn die Nerven verrückt, sie feuerten unkontrolliert, seine Persönlichkeit schien sich nach außen hin abzuschalten, von ihm abzufallen, das Bewusstsein entglitt ihm, Klaus war angreifbar, auf Pause.
Er hielt inne, verharrte in seiner gerade eben noch ausgeführten Tätigkeit, sein Blick meist starr auf einen Punkt fixiert, der sich, so dachte ich, irgendwo außerhalb des Raumes (außerhalb des Bewusstseins, des Universums?) befinden musste. So ist das eben bei Künstlern, könnte man meinen, sofern man ihn nicht gut kannte. Die schauen dann, auf der Suche nach einer schöpferischen Eingebung, halt schon mal für ein paar Sekunden in eine unbestimmte Ferne, und wenn sie von diesen Tagträumen zurückkehrten, sind sie inspiriert genug, um weiter an ihrem Werk zu arbeiten, es zu verfeinern, ihm den letzten (nicht selten genialen) Schliff zu verleihen. Dazu würde dann auch das Zucken der Augenlider passen. Man könnte hineindichten, dass Klaus Ausschau hält, dass er mittels eines Supermanblicks durch die Wand vor ihm sehen könnte und dann noch durch die nächste Wand und die nächste und die nächste, und weil er dort so viel sieht, dahinter, also hinter dem Vorhang, hinter den materiellen Erscheinungen unserer Welt, könnte man fast meinen, deshalb und nur deshalb zuckten seine Lider, als ob sie das Gesehene durch diese Bewegung verarbeiten und ans Gehirn weiterleiten könnten. Das Erröten und Schwitzen, der erhöhte Herzschlag, es fügte sich stimmig in die Annahme, der Künstler sei von den Eindrücken, die er von der anderen Seite vernommen habe, gewiss derart überwältigt, dass sein Körper nicht anders könne, als zu schwitzen, dass seine Haut nicht anders könne, als zu erröten, dass, wenn man die Welt so sehe, wie sie ein echter Künstler sieht, man wahrscheinlich gar nicht anders reagieren könne,