Wer wir wären. Norbert Kröll
leid. Es ist das, was er hören will, was er hören muss.«
»Es stimmt«, sagte Klaus, »du sollst mein Antrieb sein, denn diesen Wunsch will ich dir nicht erfüllen.«
»Siehst du?«, sagte Martha in Richtung ihres Vaters. »In Wahrheit kann man mir danken. Nett sein bringt einen nicht weiter.«
»Das Architektur-Business ist hart, oder?«, fragte ich, nachdem es plötzlich unangenehm still geworden war. Martha schaute mich an, als ob ich ein Außerirdischer wäre, der sich ungefragt in eine Diskussion einbrachte, von der er nichts verstand, weil er die Menschen nicht kannte, weil er die Kultur nicht kannte, weil er keine Ahnung hatte von der Lebensweise, vom nie enden wollenden Diktat des Lernens, zuerst für die Eltern, dann für die Schule, dann für das Studium, dann für die Arbeit, für das Geld, für den Wohlstand und das eine oder andere schwer erkaufte Luxusgut oder, wenn es nicht so gut lief, fürs nackte Überleben.
»Ich frage mich, was er an dir findet«, sagte sie.
»Wir sind befreundet«, sagte Klaus, »da gibt es nichts zu finden.«
»Ach«, machte sie, »ich sehe schon, es ist diese Süße, das Träumerische und Unschuldige, das ihm anhaftet, nicht wahr? Aber um auf deine Frage zurückzukommen«, Martha wandte den Kopf in meine Richtung: »Warum sollte ich dir bestätigen, was du ohnehin annimmst? Denk dir über die Architektur, was du willst. Mach ein paar Fotos von kuriosen Brücken und putzigen Häusern und sei froh über deine Unwissenheit.«
»Was sie damit sagen will«, meinte Klaus nach einer kurzen Pause, »es ist ein hartes Business.«
Sein Vater gluckste, wobei es sich anhörte, als ob er sich an etwas verschluckt hatte oder ihm der Kren zu heftig in den Kopf gestiegen war. Seine Mutter schmunzelte leise, ich gab einem inneren Drang nach und lachte laut auf, um diese eigenartige Stimmung loszuwerden, und Klaus stimmte mit ein. Ich schaute zu Martha und bemerkte, dass sogar über ihre Lippen der Hauch eines Lächelns gekrochen war.
Vom Badezimmer im ersten Stock aus sah ich durchs geöffnete Fenster in den angrenzenden Wald, die Bäume in der zweiten Reihe waren wegen der Dunkelheit kaum noch auszumachen. Kalte, beinahe winterliche Luft strömte herein und an meinen Füßen vorbei zur Tür, während der Dampf von der heißen Dusche, als würde die Nacht ihn gierig einatmen, so lange nach draußen gezogen wurde, bis nichts mehr von ihm im Zimmer vorhanden war. Die Äste der alten Bäume wurden durch eine sanfte Brise in Bewegung versetzt, sie rieben ihre Nadeln und noch jungen Blätter aneinander und gaben dabei Geräusche von sich, die mir eine Gänsehaut bescherten. Ich schloss das Fenster, spuckte den Rest der schaumigen Zahnpasta ins Waschbecken und spülte gründlich den Mund aus.
Als ich die Badezimmertür öffnete, stand Martha in einem schwarz glänzenden Nachthemd, das ihr gerade so über die Hüften reichte, im Flur, mit dem Rücken lässig ans hölzerne Geländer gelehnt. Fast hätte ich darüber grinsen müssen, dass sie sogar in der Nacht schwarz zu tragen pflegte, aber dann legte sich mein Blick auf ihre langen, dünnen Beine, und diese Ansicht verjagte rasch alle aufkeimende Komik.
»Hallo Martha«, sagte ich so lässig wie möglich, »ich hoffe, ich habe nicht zu lange das Bad besetzt?«
»Wo schläfst du?«, meinte sie, ohne auf meine Frage einzugehen.
»Na, bei Klaus«, sagte ich. »Warum fragst du?«
»Und mit wem?«
»Wie bitte?«
»Mit wem du schläfst, würde ich gerne wissen.«
»Äh, sorry, wie meinst du das?«
»Schnelldenker bist du jedenfalls keiner«, sagte sie trocken und fügte nach einer kurzen Pause, in der ich die Schultern angehoben und wieder fallen gelassen hatte, hinzu: »Also gut, auf deinen Intellekt heruntergebrochen: Du darfst mich ficken.«
Okay, das war ein Witz. War es das? Dann hätte sie doch lachen müssen. Aber sie lachte nicht. Ich verschluckte mich bei dem Versuch, etwas zu sagen und musste mehrmals husten.
»Du hast schon richtig gehört«, sagte sie. »Ein Männertraum, nicht wahr? Mit einer Frau zu schlafen, ohne sie mühsam anbraten und auf zehn Getränke einladen zu müssen.«
»… also, das ist …« Ich hatte mich immer noch nicht ganz gefangen und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. »Danke, aber …«
»Nichts zu danken«, sagte sie. »Ich könnte es mir natürlich auch selbst besorgen, aber warum sollte ich mich anstrengen?«
Ich stellte mir vor, wie es wäre, mit Martha zu schlafen, und ich sah nur schwarzes Leder, schwarzen Latex, schwarze Peitschen, die knallend auf meinen Hintern niederfuhren, schwarze Fesseln und Stöcke und Schnüre und Masken und Vibratoren. So schön der Körper dieser Frau auch anzusehen war, ich verspürte keinerlei Drang, mich ihr zu nähern. Und das verwirrte und überraschte mich. Und ja, es ärgerte mich. War es ihr Geruch? Konnte ich sie, wie man so schön sagte, nicht riechen? Trotzdem: Welcher Mann würde solch ein Angebot abschlagen? Man musste verrückt sein. Sex ist Sex, da braucht man nicht mehr hineindichten, als vorhanden ist. Und man muss einen Menschen bekanntlich nicht mögen, um mit ihm zu schlafen. Da sind doch nur zwei Körper, die passen immer, zumindest auf die eine oder andere Art, ineinander, egal ob man sich sympathisch findet oder nicht.
»Ich … ich weiß dein Angebot echt zu schätzen«, hörte ich mich sagen und dachte mir, dass diese Worte furchtbar klangen und absolut falsch waren und doch gesagt werden mussten, »aber ich möchte lieber nicht. Und das hat bitte nichts mit dir zu tun«, fügte ich entschuldigend hinzu. »Du bist echt …«
»Makellos«, sagte sie, »ich weiß.«
Sie bewegte langsam ihre Arme in die Höhe und streckte sich, wodurch ihr Nachthemd sich um einige Zentimeter anhob und mir die Sicht auf ihren Slip ermöglichte. Ich fühlte mich wie ein Darsteller in einem billigen Softporno. Verdammt, sagte ich mir, was bist du nur für ein Weichei, was für ein Mann? Das kann doch nicht wahr sein! Nun wäre wohl der richtige Augenblick gewesen (und es hätte ja auch im Porno-Skript gestanden), zu ihr hinzugehen und das Nachthemd langsam nach oben über ihren Kopf zu streifen, wodurch ihre Nippel (die natürlich kurz vor Drehbeginn mit Eiswürfeln behandelt worden wären) steif sich meinem Mund entgegengestreckt hätten und so weiter und so bla bla bla.
Sie ließ ihre Arme wieder nach unten fallen. Wir schauten uns ein paar Sekunden stillschweigend an, und da sah ich diesen eigenartigen Blick in ihren Augen. Ich kannte ihn und spürte deutlich, dass ich meine Meinung nicht ändern würde, denn mit einem Mal erinnerte ich mich: Menschen, die wissen, dass sie schön sind, und das auch noch zur Schau stellen, hatte ich nie anziehend gefunden. Aber darum ging es hier nicht. Ich denke, ich wollte nicht von ihr benutzt werden wie ein Dildo, das hatte ich bereits hinter mir, ebenso die Erfahrung, jemand anderen zu benutzen. Es war schon okay, aber es gab mir nichts; ein Objekt zu sein, das hatte für mich nichts mit wahrer Lust zu tun, und daher schüttelte ich den Kopf.
»Also doch ein Homo«, sagte sie.
»Ich?«, fragte ich, als ob sich noch jemand im Flur befunden hätte. »Nein, bin ich nicht.« Sofern ich ihren Gesichtsausdruck richtig interpretiert hatte, wirkte sie durch ihre Abschätzigkeit hindurch auf einmal verletzt; ihre Augen hatten den Panzer verloren, da schien, so glaubte ich, für einen kurzen Augenblick ein Funken der echten Martha zu mir hindurch. So wie sie nun dastand, mit leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper und mit den Augen nach etwas suchend, das ihr Halt geben könnte, hätte man sie fast liebenswert finden können.
»Da ich annehme, dass du kein strenger Katholik bist«, sagte sie und setzte wieder ihre undurchdringliche Miene auf, »kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass du schwul bist.«
»Wenn es dir damit besser geht«, sagte ich, »dann nenn mich halt schwul. Passiert mir nicht zum ersten Mal.«
»Sag ich doch!« Mit diesen Worten ging sie ins angrenzende Zimmer und schlug die Tür zu, sodass ein lautes Krachen durch die Luft des Flurs klang. Klaus erschien im gegenüberliegenden Türrahmen und fragte, ob etwas passiert sei. Nein, sagte ich, nichts passiert, mir sei bloß der Türgriff ausgerutscht.