Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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eines Laien.

      Ich solle mir keine Sorgen machen, sagte Klaus, als er meinen offenen Mund und den sorgenvollen Blick wahrnahm. Seit seiner Kindheit würden ihn die epileptischen Anfälle begleiten. Er habe Tonnen an Material darüber gelesen, habe an Selbsthilfegruppen teilgenommen, habe sich in etlichen Foren im Internet mit Leidensgeschwistern ausgetauscht, habe sich von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten beraten lassen, sich mit einigen Studierenden der Medizinischen Fakultät unterhalten, mit anderen Worten: Er sei über seine derzeitige Lage äußert gut informiert.

      Klaus gab einen Bruchteil seines Wissens über Epilepsie in einem halbstündigen Crashkurs an mich weiter. Es genügte, um meine Ängste zu besänftigen und mich mit seinen Aussetzern, die bald die spitzen Kanten des Außergewöhnlichen eingebüßt hatten, anzufreunden. Sie gehörten zu ihm, wie sein Lachen zu ihm gehörte, seine bedachte Art, den einen Fuß vor den anderen zu setzen, sein forschender, stets neugierig-kindlicher Blick.

      Als ich Klaus nach den Weihnachtsferien wieder in Wien in seiner Wohnung antraf, dachte ich im allerersten Moment, sein eigenartiges Verhalten wäre die Begleiterscheinung eines epileptischen Anfalls. Von dieser Auslegung nahm ich nach einigen Minuten Abstand. Diesmal war es definitiv anders. Fast alles an Klaus war anders, verändert; er war nicht mehr das Original. Vielleicht war es in Kärnten zurückgeblieben. Vielleicht hatte jemand einen fehlerhaften Klon erstellt. Wäre es Anfang April gewesen, hätte es ein schlechter Aprilscherz sein können. Vielleicht sogar ein guter. Aber es war nicht Anfang April, sondern Anfang Januar, und es gab noch keine menschlichen Klone, zumindest keine, von denen ich etwas wusste.

      Da stand er, weniger als einen Meter von mir entfernt, und sagte etwas, das ich nicht vergessen werde, das ich nicht vergessen kann, weil es der Anfang war von alledem, und ich mir wünschte, es hätte ihn nicht gegeben, dass der Anfang, der echte, dort geblieben wäre, wo er gewesen war, nämlich in der Ästhetik-Vorlesung im Hörsaal der Universität, dass die Person, die ich dort kennengelernt hatte, dieselbe Person geblieben wäre, dass sie in den Weihnachtsferien nicht aufgehört hätte zu existieren.

      »Hast du aufgepasst«, sagte er, »als du gekommen bist, hast du aufgepasst, dass dir niemand folgt?«

      »Wer soll mir denn gefolgt sein?«, fragte ich mit einem schiefen Lächeln.

      »Na, die Kuttenträger«, sagte er. »Manchmal haben sie diese braunen Kutten an, mit den Kordeln um die Hüften, du weißt schon, aber das ist dann schon die doppelte Tarnung, die Tarnung der Tarnung, verstehst du?«

      »Wie bitte?«

      »Na, in Wahrheit haben sie drunter die schwarze Priesterkleidung an. Oben drüber die braunen oder weißen oder grauen Kutten, damit man denkt, dass das ganz normale Brüder sind, also Franziskaner oder Zisterzienser, Benediktiner, Minoriten, Dominikaner und so weiter, mit der Kapuze hinten dran, das kennst du bestimmt, aber das ist nur ein Ablenkungsmanöver. Denn unten drunter, ja, da versteckt sich dann das Dunkle.«

      Klaus ging zum Fenster, öffnete es, beugte den Oberkörper über den Rahmen und das Fensterbrett, schob den Kopf bedrohlich weit ins Freie und spähte zur Straße hinab; er schien dort nach etwas – oder jemandem – Ausschau zu halten.

      »Klaus, soll das ein Witz sein?«, fragte ich. »Wenn ja, kannst du bitte damit aufhören?«

      Er kam zurück ins Wohnzimmer, sofern man in diesem Fall von einem Zurückkommen sprechen kann.

      »Aber das ist doch kein Witz«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger zum geöffneten Fenster. »Die wollen ja, dass ich alleine damit dastehe. Wenn du so willst, ist das der Witz an der ganzen Sache, ja. Das planen die doch, schon von Anfang an haben sie das so geplant. Dass mir nämlich keiner glauben wird, das haben sie mir prophezeit. Vor zwei Tagen nämlich bin ich unten gewesen bei der Bank um die Ecke, und da hab ich sie das erste Mal gesehen. Und gleich hab ich gewusst, dass die schon immer dagewesen sind, dass ich nur zu dumm gewesen bin, um sie zu erkennen. Seit Jahren müssen sie mir schon gefolgt sein. Ich habe einfach kein Auge dafür gehabt. Ich hätte sie längst sehen können, verstehst du? Aber die haben sich eben gut zu tarnen gewusst. Blöd sind sie nicht, das muss man denen lassen, blöd sind sie echt nicht. Aber gemein sind sie, die lenken das alles vom Hintergrund aus, die Fäden haben sie alle fein säuberlich in der Hand, an jedem Finger einen Strick und damit ziehen sie das Geschehen der Welt in die Richtung, die sie haben wollen.«

      »Äh, entschuldige Klaus, hallo?! Ich kann dir leider echt nicht folgen«, sagte ich mit gerunzelter Stirn. »Was bitte soll das?«

      »Was es soll, fragst du? Was es soll? Ja, aber siehst du denn nicht? Es verläuft alles nach deren Plan. Dass du mich fragst, was das soll, das haben sie doch eingefädelt. Dass ich jetzt so dastehe, als würde ich etwas Unverständliches von mir geben. Wo doch alles klar ist. Das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich die Zusammenhänge erkennen kann. Bei der Bank nämlich, es war genau der Moment, als ich meine Karte in den Schlitz gesteckt habe, um Geld abzuheben, da habe ich sie draußen stehen gesehen, die beiden Männer in Schwarz, oder war es Braun oder Grau, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls habe ich beim Automaten sofort auf Abbruch gedrückt, weil ich gewusst habe, dass, wenn ich den Code eingebe, sie mich haben würden, verstehst du? Den Zugang hätten sie gehabt zu allem, was ich davor gemacht habe, und zu allem, was noch kommen mag. Ich sage nur Erbschaft, mein Lieber, darauf sind sie nämlich aus. Im Geheimen die Strippen ziehen, damit alles so verläuft, wie sie es haben wollen. Das Geld soll fließen, hin zum Vatikan soll es beständig fließen. Ich habe immer geglaubt, dass die Bankiers die Strippen in der Hand haben, dass die das Geschehen der Welt lenken mit ihren Geldtransfers und den Waffenlieferungen und den an den Haaren herbeigezogenen Lügen, die zu Kriegen und damit zu noch mehr Geldflüssen führen, aber dass die Bankiers in Wahrheit ja auch an etwas glauben, das größer ist als Geld, nämlich nicht an den lieben Gott, sondern komischerweise an die Kirche, und dass die genauso hinters Licht geführt werden, auf diese Idee musste ich ja erst einmal kommen. Dass die genauso versklavt sind, dass die, die versklaven, ohne es zu wissen, zu den Versklavten werden, ist mir gekommen, als ich bei dem Automaten auf Abbruch gedrückt habe. Mit dieser Handlung habe ich meine Freiheit wieder zurückerlangt. Denn die gebe ich so schnell nicht her. Da musst du auf der Hut sein, auch bei den Zigarettenautomaten darfst du die Karte nicht reinstecken, sogar das genügt denen, um dich an sie zu binden. Immer einen Schritt voraus musst du denen sein, ja, auch auf die Fingerkuppen musst du achtgeben. Am besten immer Handschuhe tragen, wenn du, wenn es denn sein muss, bei einer Tastatur deinen Geheimcode eingibst. Die scannen sonst deine Fingerabdrücke, das ist dir hoffentlich bewusst? Solltest du keine Handschuhe dabeihaben – irgendwann wird ja auch wieder Sommer, nicht wahr –, also dann ballst du einfach deine Hand zu einer Faust und drückst mit den Knöcheln am Ende des Handrückens die Zahlenkombination rein. Das geht, habe ich gestern auch gemacht, denn nachdem ich auf Abbruch gedrückt habe, bin ich draufgekommen, dass ich ja trotzdem Geld brauche, und dann habe ich die Karte wieder hineingesteckt in den Schlitz und mit dem Knöchel den Code eingegeben. Da haben sie ihre Gesichter verzogen, draußen vor der Schiebetür, die zwei Herren in Schwarz.«

      Klaus’ Monolog kam zu einem abrupten Ende. Er schaute mich fragend an. Wollte er von mir wissen, ob ich ihm folgen konnte? Der Wasserhahn in der Küche tropfte leise und in gleichmäßigen Abständen. Aus der darüber liegenden Wohnung vernahm ich das Poltern von Kinderfüßen, die rennend den Raum durchquerten. Durch das geöffnete Fenster drang das Brummen eines Linienbusses, der von der Haltestelle abfuhr. Ich spürte, wie dessen akustische Vibrationen durch die Luft bis in meine Brust drangen. Wie sie mir den Atem nahmen. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, schaute nach links und rechts, als stünde dort jemand, der mir die verborgene Bedeutung dieser Situation entschlüsseln könnte. Mittlerweile war ich mir absolut sicher, dass Klaus’ Verhalten nichts mit einem epileptischen Anfall zu tun haben konnte, dass es mehr oder weniger sogar sein genaues Gegenteil sein musste, da er während der Anfälle meist verstummte und abwesend wirkte, nun aber sehr aktiv und im Zweifel munterer erschien als noch vor wenigen Wochen.

      Ich verabschiedete mich von Klaus mit einer Notlüge. Ich müsse schnell zu einer Vorlesung, die hätte ich fast vergessen. Noch nicht gehen, sagte er, ich solle hierbleiben, sonst würden sie bestimmt Verdacht schöpfen. Ich schüttelte nur den Kopf, sagte, dass


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