Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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getrennt vom Rest der Klasse, ihren eigenen Religionsunterricht. Wir lernten dort hebräische Gebete, sprachen über die Geschichte der Juden und ihre Bräuche. Heinz und ich waren stolz auf unser Erbe, und wenn wir Mutti baten, am Freitagabend Kerzen anzuzünden, um den Sabbat willkommen zu heißen, tat sie es, um uns eine Freude zu machen. Zur Synagoge aber gingen unsere Eltern mit uns nur an hohen Feiertagen.

      Papi legte großen Wert darauf, Heinz und mich zu selbstständigen Menschen zu erziehen. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er und schubste mich, als ich noch klein war, in den Swimmingpool ins tiefe Wasser. Mutti stand erschrocken am Rand und sah uns zu.

      Als ich drei Jahre alt war, setzte er mich manchmal ganz oben auf unsere Garderobe und sagte, ich solle entweder in seine Arme springen oder oben bleiben. Trotz meiner Angst vertraute ich ihm und sprang. Natürlich fing er mich jedes Mal auf. Ich liebte diese kleinen Mutproben. Heinz dagegen war viel sensibler und fürchtete sich oft vor diesen Spielen, obwohl er drei Jahre älter war als ich.

      Während der Ferien nahm Papi uns auf seine Klettertouren in die Tiroler Berge und die österreichischen Alpen mit. Das war ein aufregendes Abenteuer für mich. Auf einer dieser Touren, ich war gerade vier, verirrten wir uns und mussten viele Stunden laufen, um an unser Ziel zu kommen. Meine Bergschuhe drückten mich und scheuerten. Da zog ich sie kurzerhand aus und kletterte barfuß über die Felsen.

      Manchmal band Papi eine Strickleiter an einen Baum oder einen Felsen auf dem Gipfel eines Steilhanges. Wie Tarzan kletterten er und ich hinunter, während Mutti und Heinz auf unsere Rückkehr warteten. Ich vergötterte meinen Vater und wollte so sein wie er. Im Unterschied zu Heinz teilte ich Papis Begeisterung für den Sport. Ich war fest entschlossen, stets mutig und sehr tapfer zu sein und ihm keine Schande zu machen.

      Eines Tages sagte Papi zu uns: »Auf weichen Matratzen und Kissen zu schlafen, schadet eurer Körperhaltung.« Also brachte ich von unserem nächsten Sonntagsausflug einen großen, flachen Stein mit nach Hause, den ich als Kopfkissen benutzen wollte. Heinz und ich schliefen in einem Zimmer und zu meinem großen Ärger lachte er mich aus.

      Was das Essen anging, so war ich sehr heikel, und obwohl ich gesund war, war ich sehr dünn. Mutti wachte streng darüber, dass ich jeden Tag einen Esslöffel Lebertran nahm. Mir wurde regelmäßig schlecht davon. Wie gerne hätte ich Teller voll Spaghetti und Würstchen gegessen, aber stattdessen musste ich Rotkohl und Spinat herunterwürgen, den ich hasste. Mutti bestand darauf, dass ich alles aufaß. Wenn ich nicht gehorchte und mich weigerte, musste ich zur Strafe in der Ecke stehen. Ich war oft trotzig und widerborstig. Nicht selten lehnte ich es ab, mich zu entschuldigen, sogar wenn ich wusste, dass ich im Unrecht war.

      Heinz war ganz anders, viel folgsamer und auch kreativer als ich.

      »Du hast mehr eine praktische Ader, Evi«, meinte Mutti liebevoll, »während Heinz der Theoretiker und Fantast ist.«

      Er las jede freie Minute und hatte eine lebhafte Fantasie. Oft fesselte er mich mit spannenden Geschichten seines Lieblingsautors Karl May. Er spielte Winnetou und ich war sein Freund, Old Shatterhand. Manchmal, wenn wir in unserem Zimmer allein waren, dachte er sich Geistergeschichten aus, die er mir mit tiefer, geheimnisvoller Stimme erzählte; das ängstigte mich einerseits, gefiel mir aber auch. Während er die Geschichte erzählte, ließ er dazu das Licht seiner Taschenlampe an der Decke tanzen. Sie leuchtete rot, grün und gelb, und ich hatte mitunter wirklich das Gefühl, es wäre ein Geist im Zimmer.

      Heinz verstand es, mich zum Weinen zu bringen. Er erzählte mir eine Geschichte, in der er ein alter, von Gott und der Welt verlassener Mann war, der bald sterben musste und um den niemand trauerte. Seine Stimme klang schwach und brüchig und ich war so ergriffen, dass ich mir die Seele aus dem Leib heulte. Wir nahmen uns vor, diesen Trick vorzuführen, wenn das nächste Mal jemand zu Besuch kam. Und so geschah es dann auch. Heinz sagte nur: »Wetten, dass ich Eva in drei Minuten zum Weinen bringen kann, ohne sie zu berühren!«

      Und es kam, wie es kommen musste. Kaum hatte er begonnen, die Geschichte zu erzählen, brach ich in Tränen aus. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er bald würde sterben müssen.

      Als Heinz sieben Jahre alt war, erkrankte er an einer Infektion des Auges, die nicht richtig diagnostiziert und daraufhin chronisch wurde. Meine Eltern sorgten sich sehr um ihn. Obwohl man zahllose Spezialisten und Kliniken aufgesucht hatte, wurde er im Alter von neun Jahren auf einem Auge blind. Er trug sein Schicksal mit Fassung und ließ sich seine Kindheit dadurch nicht zerstören.

      Mein Bruder und ich wuchsen in einer glücklichen, harmonischen Familie auf, mit Großeltern, Tanten, Onkeln und Cousinen, die sich alle gut verstanden. In jenen Jahren dachten wir nicht im Traum daran, dass man die Juden in Wien, ob sie nun religiös waren oder nicht, jemals verfolgen würde. 1933, als ich vier Jahre alt war, kamen in Deutschland Hitler und die Nazis an die Macht, und damit erlebte der Antisemitismus einen neuen Aufschwung.

      In Deutschland wurden die Juden als rassisch minderwertig und als Staatsfeinde gebrandmarkt, und das Volk wurde systematisch gegen sie aufgehetzt. Am 12. März 1938 marschierten die Deutschen, unter dem Jubelgeschrei der Österreicher, in Österreich ein, und über Nacht schlug in Wien die Stimmung um. Nichtjüdische Bekannte zogen sich plötzlich zurück oder benahmen sich offen feindselig uns gegenüber. Viele Juden erkannten, in welcher Gefahr sie schwebten, und flüchteten nach Holland, England oder in die Vereinigten Staaten.

      Von unserer Familie emigrierte Muttis jüngere Schwester Sylvi, zusammen mit ihrem Mann Otto Grunwald und ihrem Baby Tom, im August 1938 nach England. Sie zogen nach Darwen, Lancashire, wo es damals viele Arbeitslose gab. Da Otto Fachmann für die Herstellung von Bakelit (einem Vorläufer des modernen Plastik) war, bekam er von der britischen Regierung die Erlaubnis, als Berater bei einem Fabrikanten zu arbeiten, der Regenschirmgriffe anfertigte. Ein Jahr später ließ er Muttis Eltern nachkommen, gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch des Krieges.

      Papis Schwester, Blanca, war mit einem Kunsthistoriker, Ludwig Goldscheider, verheiratet. Deren Tochter Gaby war einen Monat älter als ich und meine beste Freundin. Sie flüchteten sofort nach London. Phaedon Press, der Kunstverlag, für den Onkel Ludwig arbeitete, verlagerte kurze Zeit später ebenfalls seine Geschäfte von Wien nach England und blieb eine erfolgreiche Verlagsbuchhandlung für Kunstbücher.

      Auch mein Vater fasste den Entschluss auszuwandern. Er beabsichtigte, seine Schuhfabrik in den Süden Hollands zu verlagern, das Zentrum der niederländischen Schuhindustrie. So hatten wir die Wahl, entweder in Brüssel oder in Amsterdam zu leben. Mutti wollte mit ihrer Familie in eine Weltstadt, die in mancher Hinsicht Wien ähnlich war, also nach Brüssel ziehen, hauptsächlich wegen der Sprache. Außer mir sprachen alle in meiner Familie hervorragend Französisch. Ich war damals noch zu jung und hatte noch keinen Sprachunterricht in der Schule.

      So lange ich denken kann, hatte Papi Schuhe hergestellt. Seine erste Fabrik hatte er von seinem Vater geerbt. Sie fiel jedoch der Wirtschaftskrise von 1933 zum Opfer. Danach kam ihm die Idee, eine Heimindustrie zur Herstellung von Mokassins aufzubauen. Viele Frauen knüpften für ihn in Heimarbeit die bunten Schäfte, die Schuhmacher aus der ehemaligen Fabrik auf Ledersohlen nähten. Dieses Unternehmen war so erfolgreich, dass Papi schon bald Mokassins in die USA und nach Holland exportierte und sein Konto bei einer holländischen Bank beträchtlich wuchs. Im Mai 1938 ging er nach Holland und kaufte sich als Partner in eine nicht gut florierende Schuhfabrik ein. Schon bald wurden aus den roten Zahlen schwarze.

      Sein Wunsch, uns so bald wie möglich nachkommen zu lassen, wurde noch drängender, als Heinz eines Nachmittags mit blutüberströmtem Gesicht von der Schule nach Hause kam. Seine Klassenkameraden hatten ihn gehänselt und schließlich brutal zusammengeschlagen, nur weil er Jude war. Das Gesetz der Straße nahm immer mehr überhand, und wir wussten uns nicht dagegen zu wehren.

      Nach diesem Vorfall einigten sich meine Eltern, zunächst einmal Heinz zu Papi nach Brabant zu schicken. Mutti und ich blieben in Wien, um so viel wie möglich von unserem Besitz zu verkaufen. Mutti wusste, dass man uns nicht erlauben würde, viel Geld aus Österreich mitzunehmen; also beschloss sie, mich für die nächsten zwei Jahre mit Kleidung auszustatten. Wir gingen bei Bitman, einem großen Kinderbekleidungsladen im Zentrum Wiens, einkaufen. Sie gab eine Menge Geld aus, und die meisten Sachen gefielen mir auch. Irgendwann landeten


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