Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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meinem Erfolg auf der kleinen Weihnachtsfeier fühlte ich mich nicht mehr als Fremdkörper in meiner Klasse und ich begann langsam, mich auf die Schule zu freuen. Nach dem Unterricht lief ich immer schnell nach Hause, um Mutti meine Neuigkeiten zu erzählen, aber für sie war das Leben weit weniger einfach und sorglos. Sie vermisste ein eigenes Zuhause und war sich der unsicheren Situation, als staatenlose Flüchtlinge in einem fremden Land zu leben, viel stärker bewusst. Auch Großmutter fehlte ihr mit all ihren gut gemeinten Ratschlägen, wie sie Heinz und mich erziehen sollte, und sie vermisste die Gesellschaft von Tante Sylvi und Tante Blanca. Obwohl es einen oder zwei gute Freunde gab, die sie im Zentrum für Flüchtlinge kennengelernt hatte, gab es keine heiteren Zusammenkünfte mehr. Papi pendelte fast jedes Wochenende von Brabant nach Brüssel, aber wir vermissten dennoch die Sicherheit eines eigenen Heimes.

      Anfang Mai, kurz vor meinem neunten Geburtstag, brannte ich darauf, eine Party zu geben, zu der ich ein paar Freunde aus meiner Klasse einladen wollte.

      »Ach bitte, Mutti«, quengelte ich. »Ich möchte so gerne eine Geburtstagsparty geben und die Kerzen auf einem Kuchen ausblasen!«

      »Na schön, Eva«, meinte Mutti widerwillig, »aber zuerst müssen wir Madame le Blanc fragen.«

      Zu meiner großen Freude war Madame le Blanc einverstanden. »Aber nur eine kleine Party, hörst du; ihr könnt zu sechst im Esszimmer feiern«, sagte sie, »und ich werde dir einen Kuchen backen.«

      Ich war so glücklich! Mit fliegender Hand schrieb ich die Einladungen, um sie meinen drei besten Freunden in der Klasse zu geben. In der großen Pause fragten sie mich, was ich mir für Geschenke wünschte, und aufgeregt diskutierten wir darüber, welche Spiele wir spielen wollten. Am darauffolgenden Morgen jedoch eröffneten mir alle drei, dass ihre Eltern ihnen nicht erlaubten, auf mein Geburtstagsfest zu kommen. Ich konnte es nicht fassen. Warum? Ich war völlig verwirrt und sehr gekränkt. Ich glaube, dass ich damals zum ersten Mal wirklich begriff, was es hieß, Jüdin zu sein. Es verletzte mich zutiefst, und ich fühlte mich wie eine Ausgestoßene.

      23. August 1939:

       Hitler schließt mit Stalin den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt

      Im August machte Papi mit uns Ferien am Meer. Wir fuhren nach Zandvoort in Holland und quartierten uns in einer kleinen Pension ein. Jeden Tag schien die Sonne und wir verbrachten zwei sorglose Wochen; wir rannten an den kilometerlangen Dünen entlang, schwammen zusammen im Meer und bespritzten uns gegenseitig mit Wasser. Es war einfach herrlich. Ich kam mir vor wie der glücklichste Mensch auf der Erde, bis wir Ende des Monats wieder nach Brüssel und damit zur Schule zurückkehrten.

      1. September 1939:

       Die Deutschen marschieren in Polen ein

      3. September:

       Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg

      4. September:

       Frankreich erklärt Deutschland den Krieg

      Anfang September überstürzten sich die Ereignisse. Als der Krieg zwischen England und Deutschland ausbrach, befürchtete Papi, dass man die Grenzen zwischen Holland und Belgien schließen würde, und er beantragte bei der Einwanderungsbehörde eine Genehmigung, damit wir mit ihm in Holland leben konnten. Da wir aber ausländische Flüchtlinge waren, mussten wir bis Februar 1940 auf die Einwanderungspapiere warten. Erst dann konnten wir zu ihm ziehen.

      2. Amsterdam

      Wir mieteten uns eine möblierte Wohnung im ersten Stock eines modernen Häuserblocks in Amsterdam, Niew Zuid am Merwedeplein 46. Obwohl wir wegen des Krieges in Unsicherheit und Angst lebten, fühlte ich mich viel zufriedener und geborgener, weil wir wieder als eine Familie zusammenlebten. Das war für mich das Allerwichtigste.

      Ich wuchs sehr schnell. Kaum waren wir in Holland angekommen, stellte Papi Heinz und mich an die Wand unseres Schlafzimmers und markierte dort mit einem Bleistiftstrich unsere Größe. Als er einen Monat später wieder Maß nahm, bemerkte ich mit Freude, dass ich eineinhalb Zentimeter gewachsen war – genauso viel wie Heinz.

      Mein Bruder und ich schliefen im hintersten Zimmer, das auf einen Balkon hinausführte, auf dem in einer Ecke ein Kühlschrank stand. Einmal die Woche kam der Eismann vorbei, und Heinz musste einen riesigen Eisblock, eingewickelt in Sacktuch, hochtragen und ihn vorsichtig unten in den Eisschrank legen, in dem Mutti Milch, Butter, Käse und Fleisch aufbewahrte. Manchmal schlichen wir mitten in der Nacht auf den Balkon und holten uns ein Würstchen. Wir setzten uns auf unsere Betten, schmatzten und flüsterten und hatten viel Spaß miteinander. Es war einfach herrlich, wieder ein eigenes Zuhause zu haben.

      Die Bewohner des Häuserblocks mussten an Feuer- und Fliegeralarmübungen teilnehmen. Auf diese Weise lernten Mutti und Papi schon bald andere, ebenfalls jüdische Familien in unserem Haus kennen. Es herrschte Kameradschaftsgeist und Zusammengehörigkeitsgefühl. Einer half dem anderen, den Mut nicht zu verlieren. Papi freundete sich mit einem Nachbarn, Martin Rosenbaum, an: ein freundlicher Mann, verheiratet mit einer Österreicherin, Rosi. Die beiden hatten keine Kinder, aber Martin Rosenbaum machte Papi oft Komplimente über uns.

      »Was für reizende Kinder du hast, Erich«, hörte ich ihn einmal sagen, »und so begabt.«

      Was Heinz anging, hatte er damit sicher recht. Zu Muttis großer Freude stand in unserer Diele ein Stutzflügel. Sie und Heinz spielten beide gut, und Heinz nahm sehr bald wieder Klavierunterricht. Gewissenhaft übte er Kompositionen von Chopin, aber auch Jazzmusik, die er nach Gehör spielte. »Bei mir bist du sheyn« – immer wieder. Ich tanzte sehr gerne im Zimmer herum, wenn er spielte, und stellte mir vor, auf einer großen Bühne zu stehen, während Papi und Mutti Beifall klatschten.

      Mutti fand unter ihren neuen Bekannten eine Cellistin und eine Geigerin. Sie trafen sich einmal in der Woche in unserer Wohnung zum Musizieren. Papi war kein großer Freund dieser Musikabende. Sobald die quietschende Geige anfing zu spielen, ging er »ein bisschen frische Luft schnappen« und flüchtete zu Martin. Ich sah die beiden dann oft miteinander weggehen.

      Wieder einmal schickte man mich auf die örtliche Grundschule, und ich fand mich schließlich mit meinem Schicksal ab, wieder eine neue Sprache lernen zu müssen. Holländisch fiel mir nicht ganz so schwer, weil es dem Flämischen, das ich in Belgien einmal die Woche gehört hatte, ähnlich war. Zumindest konnte ich ein wenig verstehen. In den meisten holländischen Grundschulen wurde auch Französisch unterrichtet, und mittlerweile sprach ich fließend Französisch.

      Das hatte zur Folge, dass ich mir einbildete, ich sei besser als meine Lehrerin. Immer wenn sie ein französisches Wort falsch aussprach – was oft vorkam –, verbesserte ich sie. Ich kam mir dabei wichtig und bedeutend vor, aber sie ärgerte sich und ließ diesen Ärger bei jeder sich bietenden Gelegenheit an mir aus. Sie benahm sich mir gegenüber ausgesprochen hässlich, aber mich kümmerte das wenig, weil ich dadurch der Star der Klasse wurde.

      Das geordnete Familienleben gab mir die Sicherheit, die ich so lange vermisst hatte. An Frühlingsabenden hörte ich die Kinder vor unserem Haus draußen spielen. Der Platz vor unserem Häuserblock war geradezu ideal zum Spielen – die Straße endete an unserem Haus und führte in einer Art Dreieck wieder zurück; frisch gepflanzte Büsche und Bäume trennten den Asphalt von einer kleinen Wiese dahinter. Nahezu alle Kinder aus der näheren Umgebung kamen hierher, um miteinander zu spielen.

      Seit 1933 lebten sehr viele jüdische Familien hier in der Gegend, und die jüdischen Kinder schlossen sich zu festen Cliquen zusammen. Neuankömmlinge waren alles andere als willkommen. Ich stand sehr oft herum und wartete darauf, dass jemand mit mir sprach, aber sie wollten mich nicht. So war ich froh, wenn ein paar meiner holländischen Schulfreunde zu dem Platz kamen, um mit mir zu spielen. Vermutlich war ich einfach noch zu neu, denn schon bald schusserte ich mit ihnen, spielte mit ihnen Himmel und Hölle, Verstecken und vieles andere. Dann kaufte Papi mir eines Tages ein schwarzes, gebrauchtes Fahrrad. Ich lernte sehr schnell auf diesem zweirädrigen Ding die Balance zu halten. In den ersten Monaten 1940 fühlte ich mich richtig zugehörig, wenn ich mit meinen Freunden in der üblichen Tracht – Matrosenmantel und kniehohe Stiefel – durch die Gegend fuhr. Wenn es nicht regnete, waren immer genug Kinder da, um


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