Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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Namen musste ich auswendig wissen, falls mir jemand Fragen stellte, womit man immer rechnen musste. Zum Glück ist der Fall nie eingetreten; wahrscheinlich sah ich doch zu einheimisch aus, um Verdacht zu erregen.

      Die Züge waren jedes Mal voller Soldaten, und die SS machte gelegentlich Kontrollen während der Fahrt. Wir versuchten so unbesorgt wie möglich dreinzuschauen, während wir Schulter an Schulter mit unseren ärgsten Feinden standen. Die Fahrten waren von Anfang bis Ende qualvoll. Diese Qualen durchzustehen bedeutete jedoch ein Wiedersehen mit Papi und Heinz, und das war es uns wert.

      Nachdem wir uns in der Dachkammer von Frau de Bruin umarmt und begrüßt hatten, schlossen sich Papi und Mutti in einem kleinen Zimmer ein, um eine Weile allein zu sein. Heinz und ich tauschten inzwischen Neuigkeiten aus. Über Nacht schlief Mutti mit in Papis Zimmer, und ich lag auf einer Matratze auf dem Boden im Zimmer von Heinz. Im Dunklen schlich ich mich zu seinem Bett und kroch unter die Decke, um mit ihm zu kuscheln. Wir küssten einander und umarmten uns vor Freude, wieder zusammen zu sein. Unsere angestaute Energie und unsere erwachende Sexualität führten dazu, dass die Kuschelei und die Küsse uns immer mehr erregten. Wir begannen, einander zu streicheln und zu liebkosen. Wogen aufregender Liebe durchströmten mich. Verbotenes taten wir nicht. Ich erinnere mich, wie besorgt wir dennoch waren, dass unsere Eltern etwas davon erfahren könnten. Nichtsdestotrotz gaben wir aber unsere zärtlichen Tändeleien nicht auf, wir hatten nur einander. Wenn ich in meiner Dachkammer allein im Bett lag, weinte ich oft vor Sehnsucht nach Heinz. Ich vermisste ihn mehr als alles andere auf der Welt.

      Dauernd in einem Versteck leben zu müssen, das war für Papi eine besonders große Belastung. Er war zeit seines Lebens ein aktiver, dynamischer Geschäftsmann gewesen. Auch er musste einen Weg finden, seine Energie zu kanalisieren. Er fing an, Ölbilder zu malen – Landschaften und Orte, die er kannte. Jedes Mal, wenn Mutti ihn besuchte, musste sie ihm Modell sitzen. Dann begann er, zu unser aller Überraschung, Gedichte zu schreiben, und wir entdeckten Seiten an ihm, die wir bislang nicht gekannt hatten. Er war so kreativ und feinfühlig. Immer wenn er uns sein neuestes Werk vorlas, lächelte er scheu und ein bisschen verlegen. Schließlich waren wir sein einziges Publikum. Am meisten war Mutti über diese neue Seite seiner Persönlichkeit erstaunt.

      Heinz hatte eine Menge von Papis Veranlagung. Er war so begabt. Sein untrügliches Gefühl für Farben kam in seinen Bildern deutlich zum Tragen. Eines seiner Bilder zeigte ein kleines Kind, das auf dem Fußboden mit einer Spielzeugeisenbahn spielte; ein anderes ließ eine einsame Dachkammer erkennen, durch deren Fenster Sonnenstrahlen auf Spielsachen in einer Ecke fielen. Das eindrucksvollste Bild jedoch war ein Selbstbildnis, das ihn in seiner ganzen Verzweiflung zeigte: Im Vordergrund sitzt Heinz an einem Tisch, der Kopf auf die Arme niedergesunken, und im Hintergrund liegt ein Sterbender.

      Heinz war auch ein begabter Musiker, der selbst klassische Stücke komponierte. Und er schrieb beeindruckende Gedichte. Darüber hinaus war er ein brillanter Schüler. In der Zeit, die er mit Papi in dem Versteck auf dem Land lebte, brachte er sich selbst Italienisch bei. Bei einem unserer Besuche fragte er Mutti nach italienischen Romanen, die er lesen wollte. Er war so wissensdurstig und wollte die Zeit seiner »Gefangenschaft« nicht nutzlos verstreichen lassen.

      23. Oktober 1942:

       Schlacht von El Alamein; Rommel in Nordafrika geschlagen

      Jeden Abend um neun Uhr hörte Papi die Nachrichten der BBC. Deutlich habe ich noch die Erkennungsmelodie im Ohr, das Schicksalsmotiv aus Beethovens Fünfter – im Englischen »victory theme«, da die Tonfolge dem »V« im Morsealphabet entspricht; »V« stand für »victory«, das immer zu Beginn der Sendung gespielt wurde. Bei einem unserer ersten Besuche bei Papi hörten wir in den Nachrichten von Rommels Niederlage und fielen uns begeistert in die Arme. Der Krieg würde bald zu Ende sein.

      Unsere Eltern brachten uns Bridge bei. Wir spielten sehr oft, wenn wir abends gemütlich beieinandersaßen. Das Reizen machte mir anfangs noch Schwierigkeiten, aber ich hatte viel Glück mit meinen Karten. Ich war immer stolz, wenn ich mit Papi zusammenspielte, aber Heinz und ich waren doch das beste Team, besonders dann, wenn wir Papi und Mutti besiegten! Wir durften beim Spielen nur flüstern, da wir immer befürchten mussten, dass man uns entdeckte. Alles musste heimlich und so leise wie irgend möglich geschehen. Heinz hatte versucht, sein jüdisches Aussehen zu verändern, indem er sich die Haare mit Wasserstoffperoxid bleichte – sie waren leider mehr rot als blond geworden.

      Für Papi verschlimmerte sich die Situation, weil Nachbarn von Frau de Bruin holländische Nazis waren. Sie warnte Papi vor diesen Leuten und versicherte ihm, dass sie nur Umgang mit ihnen pflegte, um keinerlei Verdacht zu erregen. Die Lage spitzte sich zu, als die Nazis Frau de Bruin baten, in ihrem Haus übernachten zu dürfen, bis die Maler mit ihrem eigenen Schlafzimmer fertig waren. Wie sollte sie den beiden diese Bitte abschlagen?

      Vollkommen außer sich kam sie daher eines Tages hinauf und bestand darauf, dass Papi und Heinz die ganze Zeit, in der dieser Besuch sich im Hause aufhielt, auf ihren Betten blieben. Sie brachte ausreichend Brot und Milch, stellte einen Nachttopf unters Bett und bat sie, keinen Laut von sich zu geben. Der Besuch blieb zum Glück nur zwei Tage, aber die ganze Situation setzte Papi mehr und mehr zu. Der Gedanke, vollkommen vom Wohlwollen und vom Mut Frau de Bruins abzuhängen, war ihm schier unerträglich.

      2. Februar 1943:

       Stalingrad: Die 6. Armee der Deutschen unter General Oberst Paulus kapituliert

      Sehr lange hatte es so ausgesehen, als ob die Deutschen in Russland siegen würden, aber der Wendepunkt kam mit dem russischen Winter. Mit Papi hörten wir in den Nachrichten der BBC, dass einundneunzigtausend Deutsche gefangen genommen worden waren. Papi meinte, das Ende sei jetzt zumindest in Sicht.

      Dennoch führten die Niederlagen der Deutschen in Afrika und Russland zunächst dazu, dass diese die Juden umso entschlossener verfolgten. Es wurden Belohnungen für den Verrat von Juden an die Gestapo ausgesetzt, und Papi war klar, dass Heinz und er in großer Gefahr schwebten, da es immer gefährlicher wurde, Juden versteckt zu halten.

      Seine Angst wuchs, als Frau de Bruin zunehmend feindseliger wurde, ihnen immer weniger zu essen gab und hin und wieder beleidigende Bemerkungen machte. Zudem verlangte sie immer mehr Geld dafür, dass sie Papi und Heinz versteckt hielt, und unsere Reserven gingen langsam, aber sicher zur Neige. Diese belastende Situation dauerte ungefähr achtzehn Monate. Papi hielt es kaum noch aus. Er bat Mutti immer wieder, ein neues Versteck für ihn und Heinz zu suchen.

      Mutti und ich befanden uns auch in einer heiklen Lage. Als wir nach einem unserer Wochenenden zurück nach Amsterdam kamen, trafen wir auf eine völlig verängstigte Frau Klompe. Die Gestapo hatte während unserer Abwesenheit noch mal ihr Haus durchsucht und ihr gedroht, sie festzunehmen, falls sie jüdischem Geschmeiß Unterschlupf gewährte.

      »Euch beide zu verstecken wird mir zu gefährlich«, sagte sie und sah uns entschuldigend an. Aber ihr Entschluss stand fest: Wir mussten gehen.

      Natürlich verstanden wir sie, aber wir mussten auf Hilfe der Untergrundbewegung warten, ehe wir »umziehen« konnten. Das Verhältnis zwischen uns und Frau Klompe hatte sich gründlich verändert, es war unterkühlt und gespannt.

      Endlich brachte man uns zu Leuten, die wir schon von früher kannten.

      Herr Reitsma, ein weiterer tapferer Friese, verheiratet mit einer sehr begabten jüdischen Künstlerin, gewährte uns Unterschlupf. Die beiden waren um die fünfzig, und ihr Sohn, Floris, wohnte bei ihnen. Sie waren alle überaus freundlich, und wir fühlten uns willkommen. Frau Reitsma war geschäftlich den ganzen Tag unterwegs und sehr froh, dass Mutti ihr das Kochen abnahm.

      Lebensmittel waren mittlerweile äußerst knapp in Holland. Mutti beschloss daher, ein paar Sachen aus unserem geheimen Lager zu holen. Das war sehr riskant. Sie erklärte mir, dass es unnötig sei, uns beide in Gefahr zu bringen, und ging allein. Zitternd vor Aufregung wartete ich auf ihre Rückkehr. Schließlich kam sie mit ein paar Büchsen, Mehl, Reis, Zucker und Kakao zurück, und wir freuten uns schon auf das Freudenmahl. Aber obwohl die Lebensmittel nicht verdorben waren, schmeckte alles nach Mottenkugeln. Trotzdem waren wir alle froh, ausreichend zu essen zu haben. Mutti sparte für Papi und Heinz etwas auf, das wir ihnen bei unserem nächsten Besuch mitbrachten.

      Ich


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