Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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      »Von wem hast du deine Lebensmittelkarte bekommen?«

      »Woher hat deine Mutter das Geld?«

      »Wer hat euch geholfen, Unterschlupf zu finden?«

      Ich gab vor, nichts von alledem zu wissen. Irgendwie mogelte ich mich durch, ohne etwas zu verraten. Ich gab zu, am Merwedeplein gewohnt zu haben, aber sie wussten, dass jemand uns versteckt gehalten hatte. Unsere Vermieterin beschrieb ich als kleine, etwas pummelige, ältere Frau – genau so eben, wie Frau Klompe nicht war, deren Namen ich natürlich nicht kannte.

      Nach einer Weile gaben sie auf und schickten mich zurück in den Warteraum. Mutti war nicht da. Ich setzte mich und war sehr stolz auf mich. Ich dachte, was für eine gute Vorstellung ich ihnen geliefert hatte, als ich von nebenan zwei vertraute Stimmen hörte, zuerst die von Papi, dann die von Heinz. Sie sprachen laut und hastig. Dann hörte ich herzzerreißende Schreie, denen ein entsetzliches Schweigen folgte.

      Hatte ich das wirklich gehört oder war es ein schreckliches Hirngespinst meiner überreizten Fantasie? Ich konnte es nicht fassen. Ich dachte, die Gestapo wollte bluffen, damit ich mich verriet. Angestrengt horchte ich, aber es rührte sich nichts mehr. Mir wurde schlecht vor Angst.

      Nach einer Weile riefen sie mich wieder zu sich. Und wieder stand ich alleine vor den beiden Gestapo-Offizieren. Diesmal sah mich der ältere von den beiden scharf an und sagte: »Wenn du dich weiterhin weigerst, mit uns zusammenzuarbeiten, werden wir deinen Bruder zu Tode foltern.«

      Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Stumm wie ein Fisch starrte ich sie an und wusste nicht, was ich sagen sollte.

      »Wir zeigen dir, was wir mit ihm machen werden«, fuhr er fort und nickte jemandem hinter mir zu.

      Ich fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen, als der erste Schlag mit einem Gummiknüppel auf meinen Schultern landete. Plötzlich war mir klar, dass das hier alles wirklich passierte, dass es kein Albtraum war, sondern Realität. Wieder und wieder prasselten Schläge auf mich nieder. Unerbittlich. Ich versuchte die Schläge mit meinen Armen abzuwehren, aber umsonst. Ich wusste, dass sie meine Schmerzensschreie hören wollten, um damit meinen Vater und meinen Bruder nebenan zum Reden zu bringen. Solange ich konnte, hielt ich aus, aber schließlich schrie ich auf. Ich hörte, wie Laute aus meinem Innersten kamen, über die ich keine Kontrolle hatte.

      Sobald sie das Gefühl hatten, ich hätte genug geschrien, hörten sie auf. Man brachte mich in einen anderen Raum, in dem Männer und Frauen saßen, die man auf ähnliche Weise behandelt hatte. Einige hatten blaue Flecken und Platzwunden im Gesicht; die Kleider waren mit Blut besudelt. Sie sahen alle elend und geschwächt aus.

      Den ganzen Tag lang, an meinem fünfzehnten Geburtstag, hielt man mich ohne Essen und Wasser in einem Raum gefangen. Nebenan wurden Menschen verhört, eingeschüchtert, erpresst und geschlagen. Das ging bis zum Abend.

      Draußen war es schon dunkel, als man mich wieder in einen anderen Raum brachte. Die Tür ging auf, und ich sah zuerst meine Eltern vor mir stehen, dann Heinz und die Reitsmas. Sonst war niemand in dem Raum. Wir fielen einander in die Arme, weinten und schluchzten. Dann krachte die Tür hinter mir ins Schloss, und wir waren alleine. Papi erzählte uns, dass die Krankenschwester und das liebenswürdige, ältliche Ehepaar, das sie so scheinbar herzlich in ihrem Haus empfangen hatte, Spione waren. Als Mutti und ich Papi und Heinz an jenem Sonntag besucht hatten, war man uns wohl auf dem Nachhauseweg gefolgt. Somit wussten sie auch von unserem Versteck. Bestimmt hatte man sie für den Verrat und die fette Beute ordentlich belohnt.

      Nachdem wir uns etwas beruhigt hatten, sagte Papi: »Mutti hat ein Geschäft mit der Gestapo gemacht. Sie gibt ihnen unseren Vorrat an Körperpuder, dafür lassen sie die Reitsmas laufen.« Er sah erschöpft und ausgezehrt aus, aber er hatte noch nicht aufgegeben, nahm alles ruhig und mit Würde.

      »Warum können sie uns nicht freilassen?«, fragte ich und drückte meinen Kopf fester an seine Brust.

      Er streichelte meine Wange, sah auf mich herunter und schüttelte den Kopf. »Vermutlich, weil sie glauben, dass wir ihre Feinde sind«, antwortete er mit einem gezwungenen Lächeln.

      In dem Augenblick kam der Gestapo-Offizier, der mich verhört hatte, herein und holte Mutti und die Reitsmas. Mutti erzählte uns später, dass man sie nach Hause gefahren hatte. Sie führte den Gestapo-Offizier in unser Badezimmer und zeigte ihm die große Dose Körperpuder. Er sprengte den Boden der Dose ab und heraus schneite und fiel der Puder und der Schmuck, den Mutti dort versteckt hatte – eine Platinuhr, Diamantringe, goldene und silberne Armreife und Broschen. Das war eine ansehnliche Beute, und er schien zufrieden.

      Schließlich brachte die Gestapo Mutti wieder in den Raum zurück, in dem Papi, Heinz und ich eng umschlungen warteten. Man eröffnete uns, dass man die Reitsmas freilassen, uns aber in das örtliche Gefängnis überstellen würde.

      Die Deutschen hätten nicht Wort halten müssen, aber sie taten es. Man ließ die Reitsmas wirklich frei. Mithilfe unseres geheimen Vorrats überlebten alle drei den Krieg. In gewisser Hinsicht ist das erstaunlich, da die Deutschen sich in diesem Fall tatsächlich ehrenhaft benommen haben.

      5. In Haft

      Der schwarze Gefängniswagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster Richtung Stadtgefängnis. Wir saßen mit ein paar anderen Familien im hinteren Teil des Wagens und starrten einander, wie unter Schock, teilnahmslos an. Holländische Gefängniswärter zerrten uns dann aus dem Wagen und trennten die Männer von den Frauen. Ich klammerte mich an Mutti. Sie sah zu Papi hinüber, der uns »Kopf hoch!« zurief, ehe man uns fortbrachte. Es war das Schlimmste, was ich jemals erlebt hatte. Ich konnte nicht verstehen, warum man mich ins Gefängnis stecken wollte und warum ich, gerade fünfzehn Jahre alt, so unerwünscht war, nur weil ich dem jüdischen Volk angehörte. Es war ein himmelschreiendes Unrecht, und ich war aufgebracht und erbittert. Ich wünschte, ich hätte das alles begreifen können.

      Wenn man in eine so aussichtslose Lage gerät und nichts dagegen tun kann, beginnt man sich innerlich vollkommen leer zu fühlen. Normalerweise hätte ich mich den Leuten um mich herum verbunden gefühlt und mit ihnen gesprochen, aber jetzt vermutete ich in jedem einen Spion, der uns nur aushorchen wollte. Ich vertraute keiner Menschenseele mehr, außer Mutti. So begann die Vereinzelung, die Teil der Entmenschlichung in den Konzentrationslagern war.

      Man brachte Mutti und mich in einen großen Schlafsaal, in dem dreistöckige Notbetten aufgereiht standen. Etwa vierzig Frauen waren dort untergebracht. In einer Ecke befanden sich ein Waschbecken und eine Toilette, die sich alle teilen mussten. Das war das erste Mal, dass ich mit so vielen Menschen in einem Raum schlafen musste. Ich kletterte auf eine der obersten Pritschen, legte mich auf die graue Decke, mein Kopf auf einem kleinen Kissen, und starrte ins Leere. Mein ganzer Körper schmerzte von den Schlägen. Ich beugte mich zu Mutti hinunter – ich konnte diese Nacht nicht alleine verbringen. Als sie mein zerzaustes Haar und mein schmerzverzerrtes, zerschundenes Gesicht sah, nickte sie. Ich kletterte zu ihr hinunter und kuschelte mich auf ihrem Bett an sie. Schlafen konnte ich lange nicht.

      Die ganze Nacht hindurch wurden neue Gefangene hereingebracht: Frauen mit Babys, die wohl die Verzweiflung spürten und verängstigt schrien. Ohne irgendwelche Hilfsmittel mussten die Mütter ihre Kinder notdürftig versorgen. Eine chronische Asthmatikerin bekam in der Nacht Anfälle. Sie rang keuchend nach Luft und ihr Gesicht verfärbte sich blaurot. Die Frauen riefen nach einem Arzt und einer Krankenschwester. Irgendwann schickten die holländischen Wachmänner dann einen Arzt, der sich um sie kümmerte.

      Mutti lag ruhig da, ihre Arme um mich geschlungen. Spätnachts gelang es mir schließlich, den Lärm und das Treiben um mich zu vergessen und einzuschlafen.

      Am nächsten Morgen gab man uns zu essen. Es war der erste Bissen Brot und der erste Schluck zu trinken seit meinem unterbrochenen Geburtstagsfrühstück. Ich hatte auf einmal schrecklichen Hunger, und Mutti gab mir noch von ihrem Brot, nachdem ich meines aufgegessen hatte. Während wir auf unseren Pritschen saßen und aßen, erzählten die Frauen einander, woher sie kamen und wie man sie verhaftet hatte … und wir alle versuchten uns auszumalen, wie es weitergehen würde.

      Alle waren verzweifelt; nur


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