Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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sah ein, dass das Leben für ihn in diesem Haus unerträglich geworden war. Kaum hatten wir das Haus betreten, zog Frau de Bruin Mutti beiseite und bemerkte spitz: »Ihr Pelzmantel ist sehr hübsch. Eigentlich brauchen Sie ihn doch gar nicht, da Sie nur ein- oder zweimal im Monat auf die Straße gehen. Ich dagegen muss jeden Tag für Ihren Mann und Ihren Sohn einkaufen. Also schlage ich vor, Sie überlassen ihn mir.«

      Das war mehr ein Befehl als eine Frage und Mutti gab ihr den Mantel. Schließlich waren wir in ihrer Hand. Wir wussten, dass es nicht einfach werden würde, für Papi und Heinz ein neues Versteck ausfindig zu machen. Als wir nach Amsterdam zurückgekehrt waren, erzählten wir Herrn Broeksma von der Misere. Er schien nicht sonderlich überrascht.

      »Da kann ich leider nicht viel tun«, bedauerte er. »Im Übrigen ist es durchaus keine Seltenheit. Sehr viele Juden werden heutzutage auf diese Weise erpresst, und es kommt oft vor, dass sie gegen Geld an die Gestapo ausgeliefert werden.«

      Mutti wurde kreidebleich, als sie das hörte, aber sie war entschlossen, Papis Leid zu lindern. Ohne jemandem etwas davon zu sagen, ging Mutti zu einer Freundin von früher, einer Holländerin namens Doortje, um sie um Rat zu fragen. Zufällig wohnte in der Wohnung ein Stockwerk tiefer eine Krankenschwester, von der Doortje wusste, dass sie Mitglied einer Untergrundorganisation war. Doortje versprach, mit dieser Organisation Kontakt aufzunehmen, und es dauerte nicht lange, bis wir Nachricht erhielten. Sie hatten in Amsterdam ein Versteck für die beiden gefunden, das zudem nicht weit von unserem entfernt lag.

      Uns war klar, dass Frau de Bruin auf die Quelle ihres Einkommens nicht so einfach würde verzichten wollen. Papi und Heinz nahmen sich also vor, das Haus bei Nacht zu verlassen. Sie schlichen sich in der Dunkelheit davon, nahmen den ersten Frühzug in die Stadt, wo sie am Bahnhof von der Krankenschwester erwartet wurden, die sie eilig zu der neuen Zufluchtsstätte brachte.

      Alles war planmäßig verlaufen. Als wir Papi und Heinz tags darauf besuchten, atmeten wir auf. Die beiden waren in einem geräumigen alten Haus mit riesigen Zimmern untergebracht. Das Ehepaar, dem dieses Anwesen gehörte, begegnete uns besonders freundlich und liebenswürdig. Uns fiel ein Stein vom Herzen. Beruhigt kehrten Mutti und ich an diesem Abend zu den Reitsmas zurück.

      4. Gefangennahme

      11. Mai 1944

      Es war mein fünfzehnter Geburtstag, der dieses Jahr auf einen Dienstag fiel. Ich wachte sehr früh auf. Draußen zwitscherten die Vögel und die Sonne schien in das behagliche kleine Zimmer. Die Hände unter meinem Kopf verschränkt lag ich da, betrachtete die Bäume vor meinem Fenster und freute mich des Lebens. Die Gewissheit, dass Papi und Heinz in Sicherheit und ganz in der Nähe waren, trug wesentlich zu meinem Glücksgefühl bei. Wir hatten sie zwar erst vergangenen Sonntag besucht, aber ich hoffte doch, dass ich sie heute an meinem Geburtstag wiedersehen würde.

      Um halb neun saßen wir mit den Reitsmas in deren Speisezimmer beim Geburtstagsfrühstück. Frau Reitsma hatte eine Vase mit Hyazinthen und Tulpen in die Mitte des Tisches gestellt, und Floris, ihr zwanzigjähriger Sohn, überreichte mir feierlich ein kleines Päckchen. »Lass dich überraschen«, sagte er, »und mach es erst nach dem Frühstück auf.«

      Wie charmant er ist, dachte ich und wurde rot. Vorsichtig legte ich das Päckchen vor mir auf den Frühstückstisch. Auf dem Geschenkpapier leuchteten zarte, pinkfarbene Röschen, die Frau Reitsma selbst gemalt hatte. Ich war überwältigt und konnte es kaum erwarten, das Geschenk endlich auszupacken.

      Plötzlich klingelte es an der Haustür. Erschrocken fuhren wir hoch. Wir erwarteten niemanden. Wer konnte das so früh am Morgen sein? Herr Reitsma stand auf und ging hinunter, um die Tür zu öffnen. Zu unserem blanken Entsetzen hörten wir die Gestapo ins Haus stürmen. Floris schoss hoch, sprang über den Tisch, direkt aus dem Fenster und verschwand übers Dach. Innerhalb weniger Sekunden waren die Offiziere der Gestapo die Treppen hochgerannt und standen im Zimmer. Starr vor Schreck sahen wir sie und die Wachen hinter ihnen, die ihre Gewehrläufe auf uns gerichtet hatten.

      »Verfluchte Juden! Das sind sie«, rief einer.

      Wie betäubt standen wir da. Sie gaben uns nicht einmal Zeit, ein paar Dinge einzupacken, sondern stießen uns einen nach dem anderen grob die Treppen hinunter und hinaus auf die Straße, Richtung Gestapo-Hauptquartier, das nur ein paar Straßen von uns entfernt lag.

      Mutti, nur von dem Gedanken besessen, mich zu retten, packte einen holländischen Nazi, der neben ihr herging, am Arm und versuchte ihm einzureden, dass ich nicht jüdisch sei. Er stieß sie weg, aber sie hörte nicht auf, auf ihn einzureden.

      »Meine Tochter ist keine Jüdin«, beteuerte sie. »Ich hatte eine Affäre mit einem Nicht-Juden, meinem Zahnarzt … sie ist wirklich seine … in ihren Adern fließt kein jüdisches Blut.«

      Aber es hatte keinen Zweck. Die Gesichter unserer Bewacher blieben finster und unerbittlich. Sie hatten gefunden, was sie suchten, der Sieg war ihrer.

      Als wir bei dem roten Backsteinbau der ehemaligen Grundschule ankamen, jetzt das Gestapo-Hauptquartier, scheuchte man uns in einen Warteraum, in dem schon andere Menschen standen oder saßen, die man im Zug der Razzia ebenfalls festgenommen hatte.

      Bewaffnete Soldaten bewachten die Tür, die Fenster waren geschlossen, und aufgereiht an den Wänden befanden sich Holzstühle, auf denen vereinzelt Gefangene saßen und auf den Boden oder ins Leere starrten. Niedergeschlagen und mutlos gesellten wir uns zu ihnen. Niemand sah auf oder versuchte, mit uns Kontakt aufzunehmen. Ich war zu angespannt, um zu weinen. Ich setzte mich in eine Ecke zu Mutti, die mir zuflüsterte: »Wieso?« Wir konnten immer noch nicht fassen, wie das hatte geschehen können. Wir waren vollkommen überrumpelt worden – wir hatten uns so sicher gefühlt. Natürlich kannten wir den Hass der Nazis auf die Juden, aber wir hatten keine Sekunde an den Fähigkeiten der Leute in der Untergrundorganisation gezweifelt und uns ihnen völlig anvertraut. Stundenlang saßen wir da und warteten.

      Einer nach dem anderen wurde aufgerufen und weggebracht. Einige kamen wieder zurück, um weiter zu warten, andere blieben verschwunden. Keiner sagte ein Wort. Hin und wieder weinte eine der Frauen leise, aber niemand tröstete sie, und keiner fragte die, die wieder zurückgekommen waren, was geschehen war … keiner wagte es.

      Gelegentlich hörten wir Schreie aus dem nächsten Zimmer. Wir hörten, wie Menschen geschlagen wurden, weinten, vor Schmerz schrien und wie die Deutschen herumbrüllten. Wie angewurzelt saßen wir auf unseren Stühlen, eingeschüchtert von dem, was sich nebenan abspielte.

      Dann kam Mutti an die Reihe. Sie drückte meine Hand, bevor man sie abführte. Angestrengt lauschte ich, aber es war nichts zu hören. Etwa eine halbe Stunde saß ich so da. Dann holten sie mich.

      Ein Polizist in grüner Uniform (Grüne Polizei) brachte mich in ein spärlich möbliertes Zimmer, in dem ein Hitler-Bild an einer Wand hing. Vor zwei Gestapo-Offizieren, die an einem großen Schreibtisch saßen, musste ich strammstehen. Die beiden sahen mich eindringlich an, ehe einer von ihnen mich auf Deutsch ansprach.

      »Wenn du uns alles sagst, was wir wissen wollen, bist du bald wieder bei deiner Mutter«, sagte er.

      »Auch deinen Vater und deinen Bruder wirst du bald wiedersehen«, fügte der andere hinzu. Mir blieb fast die Luft weg. Sie hatten also auch Papi und Heinz.

      »Meinen Vater und meinen Bruder?«, platzte ich heraus und ärgerte mich noch im selben Augenblick über meine Dummheit. Tränen brannten in meinen Augen, aber ich wollte mir nichts anmerken lassen. Ich war fest entschlossen, ihnen kein Sterbenswörtchen zu sagen.

      »Natürlich haben wir die auch«, sagte der Offizier und grinste selbstgefällig.

      Auf einmal begann ich am ganzen Körper zu zittern. Die beiden verhörten mich auf Deutsch und brüllten mich dabei fortwährend an; ein Feuerwerk von Fragen prasselte auf mich nieder. Ich hatte schreckliche Angst.

      »Wie lange bist du schon bei den Reitsmas?«

      »Wir haben sie nur besucht«, antwortete ich.

      »Wo habt ihr euch versteckt gehalten?« Nebenbei schoben sie sich Papiere zu.

      »Ich


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