Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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eilten Mutti und ich schweigend durch Amsterdam zu Frau Klompes Haus. Als wir klopften, öffnete eine gepflegte Dame mittleren Alters die Tür. Wir sahen sie zum ersten Mal, und sie sagte, gut hörbar für alle neugierigen Nachbarn: »Wie geht es euch? Schön, euch wiederzusehen«, und bat uns lächelnd herein. »Kommt herein, nun kommt.«

      Sie gab sich große Mühe, so natürlich wie möglich zu wirken, aber als wir über die Schwelle traten, schloss sie eilig die Haustür hinter uns und führte uns in eine Art Wohnzimmer. Bei einer Tasse Tee erklärte sie Mutti, wie und wo wir untergebracht werden sollten. Dann folgten wir ihr in die drei Stockwerke höher gelegene Dachkammer, die man in zwei Räume unterteilt hatte. In dem Raum, in dem ich schlafen sollte, standen nur ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl. Der andere war wie ein Wohnzimmer eingerichtet mit einem Küchenschrank, einem Tisch, drei Stühlen und einem geblümten Sofa, auf dem Mutti schlafen würde.

      Ein paar Stufen tiefer befand sich ein längliches Badezimmer mit Toilette. Kochen konnten wir hier oben nicht, aber wir durften die Küche unten mitbenutzen.

      »Wenn ich nicht zu Hause bin, könnt ihr weder das Bad noch die Küche benutzen«, warnte uns Frau Klompe. »Wenn die Nachbarn Lärm hören, schöpfen sie Verdacht. Wir müssen sehr vorsichtig sein, damit niemand erfährt, dass ihr euch hier versteckt haltet.«

      »Wie sicher sind wir?«, fragte Mutti.

      »Gelegentlich machen die Deutschen Razzien, um nach versteckten Juden zu suchen«, erwiderte Frau Klompe. »Sie sind wie Rattenfänger, die fest entschlossen sind, alles Ungeziefer zu vernichten«, fuhr sie trocken fort, »aber wir hier im Untergrund sind ebenso fest entschlossen, Unschuldige vor ihnen zu schützen.«

      Sie lächelte mir aufmunternd zu, aber ich spürte, wie mir flau und flauer wurde.

      Am gleichen Abend besuchte uns ein weiterer Untergrundkämpfer, Herr Broeksma. Er war ein Kollege von Frau Klompe und die beiden arbeiteten sehr eng zusammen. Er war Friese – ein abgehärteter Freiluftfanatiker, der jeden Winter an den Schlittschuhrennen über Meieln auf den gefrorenen Kanälen teilnahm – und Vollblutholländer, der die Eindringlinge zur Hölle wünschte. Er war intelligent, mutig und verlässlich und, wie die anderen Untergrundkämpfer, ausgesprochen hilfsbereit. Wir waren in seiner Hand und er kannte die Gefahr, in der wir alle schwebten, aber wir vertrauten ihm bedingungslos.

      Er nahm sich Zeit, unser Versteck genau zu besichtigen, und kam zu dem Schluss, dass wir innerhalb dieser Wände noch ein weiteres Versteck bräuchten, wo wir uns verborgen halten konnten, wenn das Haus durchsucht würde.

      Natürlich musste er alles organisieren. Am darauffolgenden Abend kam er mit einem Architekten. Die beiden überlegten, wo sich in den beiden kleinen Räumen noch ein zusätzliches Versteck einrichten ließe. Schließlich kamen sie auf die Idee, die Toilette vom Rest des Badezimmers abzutrennen.

      Sie kamen überein, ins Bad eine gekachelte Wand einzuziehen mit einer Art Geheimzugang, der von der Toilette aus zu schließen war. Von außen würde es aussehen wie eine durchgehend gekachelte Wand. Das bedeutete, dass wir jedes Mal, wenn wir die Toilette benutzen wollten, durch dieses kleine Loch schlüpfen mussten. Doch diese Unannehmlichkeit nahmen wir gerne auf uns, da wir so ein Versteck hatten, in das wir uns im Notfall verkriechen konnten.

      Das Baumaterial musste zuerst beschafft und dann im Schutz der Dunkelheit Stück für Stück in die Dachkammer gebracht werden, aber die zwei Männer konnten schon nach vierzehn Tagen mit der Arbeit beginnen.

      Am dritten Sonntag in unserem Versteck arbeiteten sie den ganzen Tag und waren beinahe fertig. Nur der Zugang musste noch gekachelt werden. Sie waren beide sehr müde, beschlossen aber, trotzdem so lange zu bleiben, bis die Arbeit getan war. Schließlich baten sie Mutti, durch das Loch zu klettern und die gekachelte Klappe von der Toilette aus zu schließen. Zu meinem großen Erstaunen war Mutti tatsächlich hinter einer anscheinend durchgehend gekachelten Wand verschwunden.

      Die beiden Männer sahen einander zufrieden und anerkennend an und beglückwünschten sich zu ihrem Erfolg. Als Mutti wieder zurückkroch, schüttelten sie auch uns die Hände und verabschiedeten sich.

      Ich schlief in jener Nacht so tief, dass das Motorengeräusch der Gefängniswagen unten auf der Straße und das ungeduldige Klopfen an der Haustür nur ganz allmählich durch meine Träume drangen, bis ich schließlich aufwachte. Im Erdgeschoß waren Deutsche, die brüllten: »Halten sich hier vielleicht dreckige Juden versteckt?«

      »Mutti?« Ich hatte schreckliche Angst.

      »Schnell, Eva, deck das Bett mit der Steppdecke zu«, flüsterte sie, half mir geschwind aus dem Bett und strich die Überdecke mit mir glatt, damit es so aussah, als wäre das Bett nicht benützt worden.

      Wir schlichen uns ins Badezimmer und zwängten uns, so schnell wir konnten, durch die kleine Öffnung in die Toilette. Mit fliegenden Fingern schloss Mutti die Klappe. Es war stockdunkel und ich spürte, wie Mutti auf der Toilette saß und ihre Knie umklammert hielt. Voller Angst drückte ich mich an sie.

      Wir hörten die Soldatenstiefel die Treppen hochkommen. Ich drückte mich noch fester an Mutti und wagte kaum zu atmen. Mein Herz klopfte so laut, dass ich mir sicher war, sie konnten es hören.

      Plötzlich flog die Badezimmertüre auf und die Deutschen standen in dem kleinen Zimmer. Sie sprachen sehr laut miteinander. Nach einer Weile entfernten sich die Schritte wieder in Richtung Treppenhaus. Schließlich gaben sie anscheinend auf und wir hörten, wie die Haustür hinter ihnen ins Schloss knallte.

      Mutti zog meinen Kopf an ihr Gesicht. Ich spürte, wie ihr vor Erleichterung die Tränen herunterliefen. Wenn die Nazis nur zwei Stunden früher gekommen wären, hätten sie uns sicher gefunden. Gott im Himmel und unser Friese hatten über uns gewacht.

      3. Das Versteck

      16. Mai 1943:

       Ende des Widerstands im Warschauer Getto

      Von dem Tag an, als ich mit Mutti in unserem Versteck lebte, erschien mir die Welt überschaubar und sicher. Ich war jeden Tag von früh bis spät mit Mutti zusammen. Ich erinnere mich, wie zärtlich und liebevoll sie mich umsorgte. Während der zwei Jahre in unserem Versteck in der Dachkammer unterrichtete sie mich in Deutsch, Französisch, Geografie und Geschichte. Die Bücher hatte Frau Klompe besorgt. Ein- oder zweimal in der Woche kam Herr Broeksma und unterwies mich in Holländisch und Mathematik. Ich wollte wirklich so viel wie möglich lernen, aber im Unterschied zu Heinz war ich nicht so intelligent, und ich musste mir den Stoff jeweils hart erarbeiten. Schritt für Schritt kämpfte ich mich allein durch, und ich vermisste meine ehemaligen Schulkameraden schmerzlich. Manchmal lag ich auf meinem Bett und sehnte mich nach den alten Zeiten in unserem Wohnblock, in denen wir Nachmittage lang wie die Wilden auf unseren Fahrrädern herumgestreift waren.

      Ich warf mich verzweifelt auf meinem Bett hin und her und hätte doch am liebsten die Beine bis in den Himmel hinaufgeschleudert. Wo sollte ich hin mit meiner angestauten Energie? Ich tat mir richtig leid in meinem »Gefängnis«.

      Manchmal, aber wirklich nur sehr selten, wagten wir beide es, Papi und Heinz zu besuchen. Das waren die glücklichsten Tage. Die beiden hielten sich auf dem Land, in Soesdijk, versteckt. Mutti und ich riskierten viel, wenn wir sie besuchten, weil wir jedes Mal mit dem Zug dorthin fahren mussten. So seltsam es klingen mag – aus Angst, uns könnte jemand erkennen, wagten wir zwar nicht, in ein Geschäft in unserer Nähe einkaufen zu gehen, aber wegzufahren erschien uns weit weniger problematisch, da wir vorgaben, unser Besuch bei Frau Klompe sei nun beendet.

      Papis Gastwirtin, Frau de Bruin, erlaubte uns, übers Wochenende zu bleiben. Am Montagmorgen kehrten wir mit den Pendlern nach Amsterdam zurück. An diesen spärlich gesäten, wundervollen Freitagen verließen wir das Haus mit unseren Koffern und gingen zum Bahnhof. Es war ein merkwürdiges Gefühl, durch die Straßen zu laufen. Da wir zum Glück beide hellhäutig und blond waren, also aussahen wie jede andere holländische Mutter mit ihrer Tochter, konnten wir uns unerkannt in der Menge bewegen. Trotzdem war es äußerst riskant. Die ganze Zeit über hatten wir jedes Mal aufs Neue schreckliche Angst, besonders, wenn uns gelegentlich Polizisten oder Soldaten am Bahnhof kontrollierten und Mutti ihren gefälschten Ausweis vorzeigen


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