Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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gute Schlägerin und Läuferin war, rissen sich die anderen um mich, was mein Selbstbewusstsein beachtlich stärkte.

      Ganz allmählich fühlte ich mich wieder heiter und unbeschwert wie früher. Das Leben hatte wieder so viele schöne Seiten. Wenn ich zu Hause von der Schule erzählt und meine Hausaufgaben gemacht hatte, lief ich hinunter, um mit den anderen zu spielen. Um sechs Uhr rief mich meine Mutter zum Abendessen, aber ich folgte ihr meist nur widerwillig – schließlich waren viele meiner Spielkameraden noch draußen, bis nach acht! Aber Papi bestand darauf, dass ich nach dem Abendbrot zu Hause blieb. Im Unterschied zu meiner Mutter war ich nicht stets freundlich und nachgiebig: Ich hatte eine Menge von Papis Charaktereigenschaften geerbt, und es geschah nicht selten, dass er mich für meinen Eigensinn mit Hausarrest bestrafte. Ich war ein richtiges kleines Energiebündel und wäre am liebsten immer draußen gewesen, wo das Leben pulsierte.

      Mit der Zeit entwickelten sich auch engere Freundschaften. Ich verliebte mich bis über beide Ohren in Suzanne Lederman. Sie hatte strahlende veilchenblaue Augen, pfirsichfarbene Haut und dicke, dunkle Zöpfe, die ihr bis zur Taille reichten. Ich hielt mich immer in ihrer Nähe auf, aber sie war lieber in Gesellschaft von zwei quirligen Mädchen namens Anne und Hanne. Die drei tauchten überall gemeinsam auf. Wir gaben ihnen den Spitznamen Anne, Hanne und Sanne, weil sie ein schier unzertrennliches Trio waren, alle ein bisschen weiter entwickelt als wir anderen – mehr wie richtige Teenager. Bei unseren kindischen Spielen wollten sie nicht mitspielen. Sie gluckten zusammen, beobachteten uns und kicherten über die Jungs, was mir sehr dumm vorkam. Dauernd blätterten sie in irgendwelchen Modezeitschriften und sammelten Bilder von Filmstars.

      Von meinem Zimmer aus konnte ich zu Suzannes Zimmer hinübersehen, und manchmal gaben wir uns Zeichen. An einem sonnigen Sonntagnachmittag, ich saß mit Suzanne auf den Stufen zu unserer Wohnung, vertraute sie mir an, wie sehr sie ihre Freundin Anne Frank bewunderte, weil sie immer so geschmackvoll gekleidet war.

      Wie recht sie hatte. Als Mutti mit mir einmal zu dem Schneider in unserer Gegend ging, um einen Mantel ändern zu lassen, mussten wir eine Weile warten, weil der Schneider noch mit einer anderen Kundin beschäftigt war. Aus dem Ankleidezimmer hörten wir Stimmen. Die Kundin wusste offenbar sehr genau, was sie wollte.

      »Mit dickeren Schulterpolstern würde ich besser aussehen«, hörten wir sie mit bestimmtem Ton sagen, »und der Saum könnte ruhig ein bisschen höher rutschen, meinen Sie nicht auch?«

      Der Schneider stimmte zu, und ich saß da und wünschte, ich könnte auch tragen, was ich wollte. Ich war platt, als der Vorhang zurückgeschoben wurde und Anne zum Vorschein kam, ganz alleine. Das Kleid, von dem die Rede gewesen war, trug sie immer noch. Es war pfirsichfarben mit grünem Besatz. Sie lächelte mich an. »Gefällt es dir?«, fragte sie und drehte sich dabei leichtfüßig.

      »Oh, ja«, antwortete ich hastig. Ich platzte fast vor Neid. Verglichen mit ihr kam ich mir wie eine graue Maus vor. Obwohl ich einen Monat älter war als sie, erschien sie mir viel erwachsener. Sie besuchte die Montessorischule und war mir im Stoff etwa ein Jahr voraus.

      Anne wohnte im gleichen Stockwerk wie wir, uns gegenüber. Ich ging sehr oft hinüber, weil ich Suzanne nahe sein wollte. Die Franks hatten eine große, graubraun gestreifte Katze, die jedes Mal behaglich schnurrte, wenn ich sie hochnahm und streichelte. Wie gerne hätte ich selbst ein Haustier gehabt, aber Mutti war strikt dagegen. Oft ging ich ins Wohnzimmer, um die Katze zu kraulen, und Herr Frank sah mir amüsiert dabei zu. Er war viel älter als Papi und sehr nett. Als er merkte, wie schlecht ich Holländisch sprach, redete er fortan Deutsch mit mir. Frau Frank schenkte Limonade für die Kinder ein, und wir saßen gemütlich, mit dem kühlen Getränk in der Hand, in der Küche zusammen.

      Heinz hatte sich in zwei Mädchen verliebt, die beide in unserem Block wohnten. Eine, Ellen, war eine jüdische Immigrantin, genauso wie wir, die andere aber, Jopie, war eine hübsche, blonde Holländerin. Ich war ziemlich gekränkt, dass er den beiden so viel Aufmerksamkeit schenkte – ja, es gefiel mir ganz und gar nicht, dass mein Bruder Interesse für andere Mädchen zeigte. Ich wurde richtig eifersüchtig. Schließlich war ich seine kleine Schwester und stolz auf ihn, auf seine Musikalität und seinen klugen Kopf. Abgesehen davon plagte mich kaum etwas. Es war Frühling, und ich liebte Amsterdam, wo ich endlich wieder ein normales Leben führen konnte.

      10. Mai 1940:

       Die Deutschen marschieren in Holland und Belgien ein

      Wir hatten angenommen, in Holland in Sicherheit zu sein, hatten uns allmählich eingelebt und begonnen, unser neues Leben zu genießen, als zu unser aller Entsetzen die Nazis in Holland einmarschierten.

      Am 13. Mai ging meine Familie mit tausend anderen hinunter zum Hafen, um auf einem Schiff nach England zu fliehen. Stundenlang standen wir Schlange, aber umsonst. Die meisten Schiffe waren entweder schon ausgelaufen oder bis auf den letzten Platz besetzt. Wir waren zu spät gekommen.

      14. Mai 1940:

       Die deutsche Luftwaffe bombardiert Rotterdam, um Holland zur Kapitulation zu zwingen. Nach fünf Tagen streckt die niederländische Armee die Waffen

      Das Land war nun in der Hand der Nazis. Überall waren deutsche Soldaten. Obwohl die Deutschen zunächst angekündigt hatten, alles werde beim Alten bleiben, wurden Woche für Woche neue Verordnungen über Funk und Anschlagtafeln bekanntgegeben, die uns immer mehr in unseren Rechten einschränkten.

      Hitler ordnete an, dass jüdische Kinder in jüdische Schulen zu gehen hatten, die speziell für sie eingerichtet wurden. Der Unterricht in diesen Schulen durfte nicht von christlichen, sondern musste von jüdischen Lehrern gehalten werden.

      Zu der Zeit besuchte Heinz das Gymnasium. Auch er musste auf eine jüdische Schule überwechseln und lernte dort Margot Frank, Annes ältere Schwester, kennen. Die beiden freundeten sich schnell an und machten oft ihre Hausaufgaben miteinander. Sie hatten eine Menge gemeinsam – beide waren begabte und sehr ehrgeizige Schüler. Meine Eltern fanden für mich einen Privatlehrer, in dessen Wohnung ich mit anderen Schülern unter seiner Aufsicht meine Schularbeiten machte.

      Für alle Juden bestand nach acht Uhr abends Ausgehverbot. Sie durften weder Kinos, Konzerte noch Theater besuchen. Auch Straßenbahnen und Züge durften wir nicht benutzen. Einkaufen konnten wir nur zwischen drei und fünf Uhr nachmittags, und das auch nur in jüdischen Läden. Alle Juden mussten den gelben Davidstern deutlich sichtbar auf ihrer Kleidung tragen, damit man sie sofort identifizieren konnte.

      Am 19. Februar 1941 wurden vierhundert Juden aus Amsterdam Zuid im Alter von zwanzig bis fünfunddreißig Jahren zusammengetrieben. Am 25. Februar organisierten daraufhin holländische Gewerkschaften einen Generalstreik, um so gegen das Vorgehen der Nazis zu protestieren. Zwei Tage lang stand alles still – der öffentliche Verkehr lag brach, in den Ämtern und Dienststellen hatten die Angestellten ihre Arbeit niedergelegt. Die Nazis drohten, Geiseln zu nehmen und sie umzubringen, falls die Arbeit nicht wieder aufgenommen würde. Das tat seine Wirkung. Einige mutige Holländer begannen freiwillig den gelben Stern zu tragen, um sich mit uns zu solidarisieren und die Deutschen zu verwirren.

      »Zieh niemals deinen Mantel aus, wenn du keinen gelben Stern auf deinem Kleid trägst«, warnte mich Mutti, als ich ihr zusah, wie sie dieses Erkennungszeichen auf meinen dunkelblauen Mantel und meine Jacke nähte. »Wenn ein Jude angetroffen wird, der keinen Stern trägt, stecken ihn die Deutschen ins Gefängnis.«

      Die Zeit verging und wir fühlten uns zunehmend stärker bedroht. Papi war jetzt bei uns zu Hause, weil ihm die Deutschen verboten hatten, weiterhin zur Fabrik in Brabant zu reisen. Er kam auf die Idee, kleine Lederhandtaschen aus Schlangenlederresten herzustellen, und schon sehr bald blühte das Geschäft. Die Taschen wurden in Heimarbeit gefertigt, und viele, die ihre Arbeit durch die Verordnungen der Nazis verloren hatten, verdienten sich so ihr Brot. Unsere ganze Familie lebte von dem Verkauf der Taschen. Was wir nicht zum Leben brauchten, sparte Papi, falls eine Zeit kommen würde, in der er selbst nicht mehr für uns sorgen konnte.

      Er ging auf viele Versammlungen von Juden, um mit anderen Betroffenen über die sich zuspitzende Lage zu diskutieren. Eines Abends rief er uns alle zu sich und bereitete uns darauf vor, dass wir uns möglicherweise bald versteckt halten müssten. Er meinte, es wäre besser, wenn wir uns trennten und an zwei


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