Evas Geschichte. Eva Schloss

Evas Geschichte - Eva  Schloss


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Menschen in ihren Kindern und Enkeln weiterleben. Wir könnten unsere Überlebenschancen verdoppeln, wenn wir uns trennten. Er wollte uns falsche Papiere besorgen, falls wir irgendwann einmal gezwungen sein sollten, unsere jüdische Herkunft zu verheimlichen.

      Es gab von Holländern organisierte Widerstandsgruppen, die im Untergrund gegen die verhassten Nazis arbeiteten. Papi trat mit einer dieser Gruppen in Kontakt, und man beschaffte ihm falsche Pässe, die uns als gebürtige Holländer auswiesen.

      Mutti hieß Mefrouw Bep Ackerman. Obwohl ich mir meinen neuen Namen, Jopie Ackerman, schnell eingeprägt hatte, vergaß ich ständig mein falsches Geburtsdatum und meinen Geburtsort, und Mutti musste mich immer wieder korrigieren.

      Natürlich wusste Heinz sofort alles auswendig. Er war mittlerweile fünfzehn, hochgewachsen und sah sehr jüdisch aus, was ihn bekümmerte. Dieses Problem hatte ich wenigstens nicht. Ich hatte strahlend blaue Augen, helle Haut und blondes Haar, wie viele andere kleine holländische Mädchen auch. Mutti hätte man nach ihrem Äußeren leicht für eine Skandinavierin halten können. Sie verkaufte einen Teil ihres Schmucks, um genug Bargeld verfügbar zu haben.

      Zusätzliche Sorgen machte uns unsere Gesundheit. Mutti und Papi war klar, dass es äußerst schwierig werden würde, in einem Versteck ärztliche Hilfe zu bekommen, falls einer von uns erkrankte. Schon seit Wochen litt ich an einer ernsten Mandelentzündung, und es stand bereits fest, dass ich operiert werden musste.

      Zu der Zeit war es für Juden zu gefährlich, in ein Krankenhaus zu gehen. Zwar nahm man sie auf, aber viele wurden festgenommen und direkt von der Krankenstation weg in Lager abtransportiert. Ein Arzt in unserer Nähe erklärte sich einverstanden, mich in seiner Praxis zu operieren. Man schnallte mich auf einem Stuhl fest und gab mir Lachgas. Als ich nach der Operation allmählich wieder zu Bewusstsein kam, fantasierte ich, dass es in dem Zimmer brannte und alles lichterloh in Flammen stand. Von schrecklicher Angst geplagt, wachte ich auf. Meine Eltern brachten mich nach Hause, und ich lag etwa eine Woche lang im Bett, konnte nicht sprechen und nur Eiscreme zu mir nehmen. Mutti und Heinz umsorgten mich liebevoll, und Papi erzählte mir, wie mutig ich gewesen war. Als die Wunden verheilten und ich wieder richtig essen konnte, erholte ich mich sehr schnell.

      Keines der Kinder in unserem Wohnblock redete über die Gespräche im Kreis der Familie. Wir vertrauten alle unseren Eltern. Sie würden wissen, was in bestimmten Situationen zu tun sei. Ich wollte jedenfalls nicht allzu viel über die Zukunft nachdenken. Allein der Gedanke, von Heinz getrennt zu werden, war mir unerträglich. Ich bewunderte ihn und hatte ihn von Herzen gern. Ich wollte, dass alles beim Alten bliebe, aber Papi und Mutti wussten, dass das nicht möglich war, und hatten Vorkehrungen getroffen.

      Ich erinnere mich an Spaziergänge durch sonnige Straßen, wo wir uns verfolgt und bedroht fühlten. Eines Nachmittags kam Heinz völlig außer sich von der Schule nach Hause. Sein Freund Walter hatte auf dem Nachhauseweg seine Jacke ausgezogen, weil es ein warmer Tag war. Da er auf seinem Hemd keinen Davidstern trug, wurde er von der SS auf der Stelle verhaftet. Ich spürte, wie das Unheil unaufhaltsam auf uns zurollte.

      1942:

       Deutsche Truppen stoßen nach Stalingrad vor

      Papi mietete einen leeren Raum in einem Lagerhaus an der Singel direkt am Kanal und deponierte dort große Koffer, in denen er Lebensmittel aufbewahren wollte für die Zeit, in der wir uns versteckt halten mussten. Lebensmittel waren schon rationiert. Es war nicht einfach, etwas von unserer wöchentlichen Zuteilung abzusparen.

      Ich erinnere mich deutlich an einen Nachmittag, an dem wir einen Teil der Lebensmittel in das Lagerhaus schafften. Heinz steckte mir ein Paket, umwickelt mit braunem Papier, in meine Schultasche und half mir, den Riemen festzuschnallen, sodass die Tasche auf meiner rechten Hüfte saß. Die Tasche war sehr schwer. Immerhin steckten darin sechs Dosen Kondensmilch, sechs Dosen Ölsardinen, ein Paket Reis und eine Dose Kakao. Dann sah ich Heinz zu, wie er seinen Schulranzen mit Dosen Tomatenmark, einer Flasche Olivenöl, Zucker und ein paar Tafeln Schokolade bepackte. Mutti und Papi schnürten ebenfalls ihre Taschen.

      Es war Frühling, April 1942. Gelbliche und hellgrüne Knospen sprossen aus den Zweigen der Weiden und Platanen entlang der Kanäle. Mutti und Papi gingen voraus; Papi trug seine Aktentasche unter dem Arm und Mutti ihren Einkaufskorb. Heinz und ich folgten ihnen über die Straßen aus Kopfsteinpflaster, über kleine Brücken hinunter zu dem Lagerhaus. Meine Tasche kam mir so schwer vor, und zu allem Überfluss löste sich auch noch einer meiner Schnürsenkel. Als ich mich gegen eine Wand lehnte, um mein Schuhband zu binden, klirrten die Dosen und ich bekam einen riesigen Schreck. Heinz griff im Nu geistesgegenwärtig unter meine Tasche und stützte sie. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es war Sonntag, und gewöhnlich hielten sich an Sonntagen nicht so viele Menschen auf den Straßen auf, aber nicht weit von uns wurde ein Markt gehalten, und so gaben wir vor, dorthin zu gehen. Am Lagerhaus angekommen, schlossen wir sofort die große Holztüre hinter uns und stiegen die zwei Stockwerke bis zu unserem Lagerraum hoch. Papi sperrte die Türe auf und wir gingen hinein, um unsere Pakete loszuwerden. »Die Tomaten in den Koffer mit dem Olivenöl und dem Reis«, wies uns Papi an. »Die Sardinen und die Schokolade packen wir in den anderen.«

      »Soll ich die Kondensmilch zu dem Kakao legen?«, fragte ich. Das war wichtig für mich, schließlich wollte ich helfen, so gut ich konnte.

      Nachdem wir die Lebensmittel verstaut hatten, bedeckten wir sie mit Kleidungsstücken und streuten Mottenkugeln darüber. Wir sollten noch mehrere Male dorthin zurückkehren. Später trug unsere geheime Vorratskammer zwar dazu bei, Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen und ihnen zu helfen, die furchtbare Not des Krieges zu überstehen – jedoch wir zählten nicht zu den Glücklichen.

      Am Morgen des 6. Juli kam per Post für Heinz eine Karte mit der Aufforderung, sich in drei Tagen mit Rucksack beim alten Theater, in unserer Nähe, einzufinden. Von dort würde man ihn weiter in ein Arbeitslager irgendwo in Deutschland schicken. Mutti war vollkommen verzweifelt und Heinz versuchte sie zu beruhigen.

      »Ich werde gehen, Mutti«, sagte er tapfer. »Schließlich sind auch alle meine Freunde da. Henk, Marcel und Margot haben auch so eine Karte bekommen.«

      »Sie werden euch wie Sklaven behandeln«, schluchzte Mutti.

      »Sie werden mir nichts tun, wenn ich tüchtig arbeite«, erwiderte Heinz und sah, auf Zustimmung wartend, zu Papi hinüber.

      »Natürlich brauchen sie junge Leute«, murmelte Papi, »aber ich halte es für klüger zu verschwinden.«

      Innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren alle Vorkehrungen getroffen. Papi und Heinz sollten sich getrennt von uns verstecken.

      Alles war von Holländern organisiert, die im Untergrund arbeiteten. Mutti und ich bekamen die Adresse einer Lehrerin, einer Frau Klompe, am anderen Ende von Amsterdam Zuid.

      Wir verbrachten die letzten Stunden im Kreis der Familie. Als es Zeit war, Abschied zu nehmen, klammerte ich mich an meinen heiß geliebten großen Vater.

      »Papi, ich will nicht ohne dich gehen«, weinte ich. Der Gedanke, mich wieder von ihm trennen zu müssen, war kaum zu ertragen.

      »Evertje, sei ein großes Mädchen«, sagte er. »Du musst auf Mutti aufpassen, solange ich nicht da bin.«

      Ich hatte meine Arme fest um seinen Hals geschlungen und schwebte mit den Fußspitzen in der Luft. Er umarmte mich liebevoll, setzte mich wieder ab, hielt mich an den Schultern fest, sah mich ernst an und flüsterte, als ob er betete: »Gott beschütze dich.« Ich fühlte mich auf einmal stark und hörte auf zu weinen. Heinz stand neben mir. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er wischte sie mit dem Handrücken weg, umarmte und küsste mich zum Abschied.

      Ich erinnere mich, wie ich mit Mutti das Haus verließ. Diesmal trugen wir keine gelben Sterne auf unseren Jacken. Verlegen hielt ich eine Zeitschrift vor meiner Brust, um zu verbergen, dass ich den Stern nicht trug. Ich sah mich noch einmal nach der Wiese um, wo wir immer gespielt hatten. Im Licht der frühen Morgenstunde erschien alles verlassen und hoffnungslos elend. Ich hatte mich nicht von meinen Spielkameraden verabschiedet und machte mir Sorgen, dass sie mich nachmittags vermissten, weil keiner wusste, wo ich war. Unser freundlicher Milchmann stand mit seinem Lieferwagen vor der Haustüre. Er


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