Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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Ich war bereit dazu. Aber nach all dem, was ich mittlerweile in Erfahrung gebracht habe, würde ich heute eher das Schaltpult kurz- und kleinhauen.« Im Souvenirladen bedankte sich eine äußerst hilfsbereite Dame für meine Unterstützung des Museums und erklärte mir, dass die Silberohrringe – maßstabsgetreue Nachbildungen von Little Boy und Fat Man – noch erhältlich seien, aufgrund von Beschwerden japanischer Besucher jedoch unter dem Tresen aufbewahrt würden. Die Minibomben stammten von Navajo-Silberschmieden. Beim Hinausgehen bemerkte ich einen weiteren Ausstellungsteil mit dem nachdenklichen Titel »Die Herausforderungen nuklearer Führerschaft«.

      Zu der B-29 vor dem Museum waren inzwischen noch weitere furchterregendere Maschinen hinzugekommen, ordentlich in chronologischer Reihenfolge geparkt, jedes Flugzeug schrecklicher als das Vorgängermodell, jeder Name – Matador, Mace (»Keule«), Titan, Thor – bedrohlicher als der davor. Wie sie dort am Rand des Rollfelds aufgereiht stehen, lassen sie mich an das kaputte Spielzeug eines Riesen denken. Ich kam mit einem großen, freundlichen Besucher ins Gespräch, der sich als pensionierter Kernphysiker mit Spezialgebiet Kritische Masse vorstellte. Er erklärte mir, er sei überzeugter Christ und habe sein ganzes Berufsleben mit der Arbeit an Atomwaffen verbracht. »Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie ein Geschenk Gottes sind. Es war das Einzige, wovor die Russen Angst hatten. Ihretwegen haben wir den Kalten Krieg gewonnen.« Irgendwo in den tiefen Bodenschichten unter uns befand sich das einzige staatliche Lager für veraltete atomare Sprengköpfe. Etwa eine Woche nach meinem Gespräch mit dem christlichen Bombenwissenschaftler las ich einen Artikel im Albuquerque Journal, in dem es darum ging, wie oft die Soldaten, die die Nuklearwaffen von der Luftwaffenbasis Kirtland abtransportieren, betrunken seien. Diese Männer werden speziell für den Transport solcher Waffen geschult; wenn sie Sprengköpfe, Plutonium und Atomwaffen in Hochsicherheitsfahrzeugen durch das Land fahren, sind sie schwer bewaffnet. Dem Artikel zufolge war es in den letzten drei Jahren zu sechzehn Vorfällen gekommen, bei denen Alkohol im Spiel war. Es schien bei dem nuklearen Wachpersonal in Mode gekommen zu sein, ihre beladenen LKWs über Nacht vor irgendeiner Bar zu parken, ordentlich die Sau rauszulassen und betrunken einen Streit vom Zaun zu brechen. Aber keine Sorge, am nächsten Morgen waren sie mitsamt den Sprengköpfen ja wieder auf den Straßen unterwegs.

      Die zentrale Aussage des Nationalen Atom-Museums ist die folgende: ein Segen, dass es die Atombombe während des Krieges gab, die Nation kann heute noch stolz auf sie sein. Was die militärische Rechtfertigung des Gebrauchs der Atombombe angeht, ähnelt es dem Königlichen Museum in Tervuren. Beide Einrichtungen halten an überkommenen Mythen fest, die den Nukleus eines Schwarzen Museums der Menschheit in sich bergen. Die zitierte Schlagzeile der New York Daily News war prophetisch. In Kriegszeiten musste von der Berichterstattung über militärische Operationen jede Silbe von der Zensur genehmigt werden. Am Morgen nach dem Bombenabwurf auf Hiroshima – einer Stadt, die in Sekundenbruchteilen in Schutt und Asche gelegt worden war, vorgeblich um die Japaner zur Kapitulation zu bewegen – drohte Präsident Truman jedoch, dass »weitere [Bomben] unterwegs« seien, obwohl er später behauptete, der Atombombeneinsatz wäre »eine taktische Entscheidung gewesen, die den Gebietskommandanten überlassen war«.

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      Die Interstate 25 führt von Albuquerque nach Santa Fe nördlich am Rio Grande entlang. Hier verlief der Pfad, den viele der ersten Kolonialisten im 17. Jahrhundert nach New Mexico, »das Sibirien Neuspaniens«, einschlugen. Hat man Albuquerque hinter sich gelassen, verläuft die Straße parallel zu den Anhöhen im Osten, unter denen es einen dreihundertdreißig Meter hohen Kalk- und Granitfelsen gibt, auf dessen höchsten Zacken man die Antennenmasten und Schirme einer Funkstation ausmachen kann. Im Licht der Abendsonne treten die Risse in der Felswand klar hervor, und vor dem sturmgepeitschten Himmel glänzen die Masten wie die Speere und Banner einer Phantomarmee. Diese Landschaft war die Bühne für das erste Aufeinandertreffen von Nordamerika und Europa nach Kolumbus’ Reise über den Atlantik im Jahre 1492. Dessen Nachfolger siedelten sich in Kuba an. 1519 segelte einer dieser Abenteurer, Hernán Cortés, ohne Auftrag auf der Suche nach Gold zum amerikanischen Festland, stürzte das Aztekenreich und taufte es Neuspanien.

      Cortés befahl seinen Feldherren, von der aztekischen Hauptstadt aus, dem heutigen Mexiko-Stadt, auszuschwärmen, das Land zu erobern und die Einwohner zu bekehren. Dies erwies sich als langwierig und mühselig, doch 1540 gelang es dem spanischen General Francisco Vázquez de Coronado, die fürchterliche nordmexikanische Wüste zu durchqueren und das Gebiet zu erreichen, das heute New Mexico heißt. Der Vizekönig Neuspaniens hatte ihm den Auftrag erteilt, die Indianer zu unterwerfen, sie jedoch gerecht zu behandeln. Coronado setzte sich darüber hinweg und stürmte die ersten drei indianischen Dörfer, auf die er stieß.4 Seine Gewalt war zum Teil seiner Frustration geschuldet, denn man hatte ihn glauben lassen, die Städte im Flusstal des Rio Grande strahlten vor Gold und Silber. Stattdessen fand er Dörfer aus Lehm und Steinen vor. Die vierte Siedlung auf seiner Route, das heutige San Felipe, lag im Schatten von Weiden und Pappeln am Fluss. Hier ließ er das Winterquartier errichten und die Einwohner vertreiben, die in den Sandia-Bergen Zuflucht suchten. In den bis zu 3000 Meter hohen Gebirgszügen waren die Zwillings-Kriegsgötter sowie die Windfrau und ihre höchste Schutzgottheit, die Spinnenfrau, beheimatet.5

      General Coronado zog die folgenden drei Jahre zwischen der Prärie mit ihren Büffelherden und dem Grand Canyon umher und kartografierte ein riesiges Gebiet. Eine Wüstenschlucht etwas südlich von seinem ersten Winterquartier nannte er Jornada del Muerto (»Pfad des Toten«). Da er jedoch kein Gold fand, zog er sich schließlich aus diesem feindlichen Terrain zurück. Bei seiner Rückkehr nach Mexiko-Stadt wurde er festgenommen und wegen Grausamkeit gegen die Pueblo-Indianer angeklagt. Erst fünfundfünfzig Jahre später sollte die nächste militärische Expedition unter dem Befehl von Juan de Oñate und in Begleitung von Franziskanermönchen nach New Mexico zurückkehren und eine befestigte Mission errichten, der sie den Namen Santa Fe gaben, Stadt des Heiligen Glaubens. Ihre Ankunft im Jahre 1595 beendete die große Ära der Kultur der Pueblo-Indianer – fünfundzwanzig Jahre bevor die Pilgerväter Neuengland erreichten.

      Die spanischen Kolonialisten bekehrten die Indianer New Mexicos, bei Bedarf auch gewaltsam, heirateten einige und versklavten andere. 1680 erhoben sich die Indianer und vertrieben die Spanier aus Mexiko. 1692 gewann ein spanischer General namens Don Diego de Vargas das Territorium zurück, das bis zur Unabhängigkeitserklärung Mexikos 1821 Teil des spanischen Kolonialreiches blieb. Zu dieser Zeit bestand das mexikanische Hoheitsgebiet aus dem heutigen Mexiko sowie aus den heutigen nordamerikanischen Bundesstaaten Texas, New Mexico, Arizona, Colorado, Utah, Nevada und Kalifornien.

      Wie Völker aufeinanderfolgten und wie sich Machtverhältnisse änderten, kann heute an Ethnien nachvollzogen werden, die sich wie Gesteinsschichten voneinander abgrenzen. Die ersten »Amerikaner«, die indianischen Ureinwohner, leben in autonomen Gemeinschaften noch auf dem Land ihrer Vorfahren, beziehungsweise in neunzehn über den Bundesstaat verteilten Pueblos. Indianische Historiker haben die Pueblos in drei geografische und drei sprachliche Gruppen eingeteilt. Eine dieser Sprachen besteht wiederum aus drei Dialekten. Da die Pueblo-Indianer immer noch an denselben Orten wie bei der Ankunft der ersten Europäer wohnen, war es ihnen möglich, einen Großteil ihrer ursprünglichen kulturellen Identität zu bewahren. Außerdem hatten sie in gewisser Weise Glück, dass ihr Gebiet von spanischen Katholiken erobert wurde, weil diese im 17. Jahrhundert nicht in der Lage waren, die fremde Kultur zu zerstören. Resultat ist bei den Pueblo-Indianern von New Mexico laut dem Historiker Joe S. Sando eine »einzigartige Mischung europäischer Herrschaftsstrukturen, christlicher Rituale und Überzeugungen sowie Rechtsformen, die den Menschen von der Regierung aufgezwungen wurden«. Trotz »der Bombardierung« durch drei aufeinanderfolgende fremde Herrscher haben sie irgendwie überleben können.

      Die zweite historische Schicht bilden die Nachkommen der spanischen Kolonialisten und der Ureinwohner, die untereinander heirateten und zu den ersten spanischsprechenden Mexikanern wurden. In seinem essayistischen Meisterwerk Das Labyrinth der Einsamkeit beschrieb Octavio Paz sie so:

      Ob alt oder jung, Kreole, Mestize [von spanischem oder von spanisch-indianischem Blut], General, Arbeiter oder Akademiker: der Mexikaner scheint mir ein Wesen zu sein, das sich verschließt und verwahrt. Maske seine Miene, Maske sein Lächeln. In seiner herben Einsamkeit gereicht ihm – ruppig und höflich zugleich – alles zur Abwehr […]. Wie ein Geprellter geht er durchs Leben.6

      In


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