Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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Im Vorüberfahren stach uns die Reklametafel eines Bauunternehmers ins Auge, der sich von den Hunderten von Künstlern Santa Fes Aufträge versprach: »Und wenn deine Kunst noch so grottig ist – dein Atelier muss es noch lange nicht sein.«

      Das Herz der Stadt ist die Plaza aus der Gründungszeit der Spanier. Im 19. Jahrhundert war hier die Endstation der Planwagen, die aus dem Osten kommend an die 1500 Kilometer auf dem Santa Fe Trail hinter sich gebracht hatten. Die Kathedrale steht auf der einen Seite, der Palast des Gouverneurs auf der anderen; und wie alle Plätze des spanischen Reiches war er nach den Plänen Philips II. entworfen worden. Den Mittelpunkt bildet ein Obelisk aus rosafarbenem Granit mit einer Gedenktafel für die im Jahr 1862 in der Schlacht von Valverde gefallenen Soldaten der Unionsarmee. Die konföderierten Gegner werden lediglich als »Rebellen« bezeichnet.

      Auf der anderen Seite des Obelisken wird in einer Marmorinschrift der Helden gedacht, »die in mehreren Kämpfen gegen wilde Indianer fielen«. Die Wilden, die hier gemeint sind, waren Prärie-Indianer, die Santa Fe einst angriffen und die spanischen Siedler vorübergehend vertrieben. 1974 wurde das Wort »wild« säuberlich aus dem Marmor geschlagen, aber die Buchstaben sind im Stein immer noch schemenhaft zu lesen.

      KAPITEL FÜNF

      Der einsame Reisende

      Bandelier – Zufluchtsort der Urahnen,

      der Anasazi, »der Leute, die nicht wir sind«.

      An einem extrem kalten Tag im Dezember 1895 setzte ein einsamer Reisender seinen Fuß auf den Bahnsteig von Lamy, Santa Fe. Er war mit einem Zug der Atchinson-, Topeka- und Santa-Fe-Linie aus Denver angekommen. Der Mann war von gedrungener Gestalt, wie ein Ostküstler in einen förmlichen, dunklen Anzug mit Weste und Uhrenkette gekleidet, hatte sich allerdings ein Tuch um den Hals geknotet und einen Cowboyhut aufgesetzt. Er hatte dunkelbraune, glühende Augen und einen Schnauzbart von der Art, die gewöhnlich von Gewichthebern im Zirkus getragen wurde. Er spielte anderen gerne Streiche, war trotz seines sanften Äußeren für sein aufbrausendes Temperament berüchtigt und litt seit seiner Kindheit an Depressionen. Sein Name war Aby Warburg. Er trug einen Pass mit der Genehmigung des Innen- und des Kriegsministeriums in Washington bei sich, der ihn zur Reise durch indianisches Territorium ermächtigte.

      Nun, da er neben den Pferden stand und darauf wartete, dass man seine Koffer auf die Kutsche verlud, die ihn zum Palace Hotel bringen sollte, und da er zu den Gipfeln des Sangre de Cristo hinaufschaute, wurde ihm seine Aufregung bewusst. Er war am Ende einer Tausende von Kilometern langen Reise angekommen, die ihn aber auch zweitausend Jahre zurückführte – in eine Welt, von der er besessen war. Warburgs Lebenswerk kreiste um die Bedeutung der Antike für die moderne Zivilisation.1 Als er 1895 in Lamy aus dem Zug stieg, betrat er das Griechenland der klassischen Antike.

      Aby Warburg war der älteste Sohn einer Hamburger Bankiersfamilie, der sich gegen den Posten eines Seniorpartners in der Bank und für den Beruf des Kunsthistorikers entschieden hatte. In einem Zeitalter, in dem deutsche Forschung sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften die herausragende Rolle spielte, sollte Warburg einer der einflussreichsten Vertreter seines Faches werden. Im Jahr 1895 lebte und forschte er in Florenz, wo er einige Jahre zuvor bereits seine Doktorarbeit über Botticelli abgeschlossen hatte. Er unterbrach seine Studien in der Stadt und ihren Archiven aus familiären Gründen, sein Bruder Paul hatte ihn zu seiner Hochzeit in New York eingeladen. Da Aby Warburg bereits die Trauung eines anderen Bruders versäumt hatte, stand es außer Frage, dass er dieses Mal erscheinen musste. Beide Brüder heirateten in die jüdische New Yorker Bankiersdynastie der Kuhn-Loebs ein. Während des Bürgerkriegs hatten die Kuhns und die Loebs in Cincinnati ein Vermögen mit dem Verkauf von Uniformen an die Unionsarmee gemacht. Dann gingen sie an die Wall Street, gründeten ihr Geldinstitut und mischten die Spekulationsgeschäfte um die Eisenbahn mit einem solchen Erfolg auf, dass ihre Bank zur Zeit der Allianz mit den Warburgs nur von J. Pierpont Morgan übertroffen wurde. Familie Kuhn-Loeb residierte in einer Villa in der Fifth Avenue.2

      Aby Warburg war seiner Familie sehr verbunden, doch New York gefiel ihm nicht; für ihn war die Stadt ein riesiges Kaufhaus. In den Monaten zuvor hatte er sich mit dem Einfluss heidnisch-antiker Symbolik auf die christliche Kunst beschäftigt.3 In Florenz war er auf Entwürfe eines intermedio – einer musikalisch-schauspielerischen Darbietung – von Bernardo Buontalenti für die Hochzeit des Großherzogs Ferdinand von Medici 1589 gestoßen. In dem Stück kämpft Apollo gegen eine Python, und wie in der Legende besiegte er das Ungeheuer, befreite das Land von dessen Schreckensherrschaft und stellte so die Eintracht wieder her. Dem Herzog schmeichelte die Assoziation gehörig. Das dramatische Eindringen eines gewalttätigen mythologischen Geschehens in eine fröhliche christliche Zeremonie wie in dem intermedio gehörte genau zu Warburgs Forschungsgebiet.

      Warburg hielt nichts von »[e]nthusiastische[n] Kunstgeschichtler[n]«4 und war eher an einer psychologischen Betrachtungsweise der menschlichen Kultur interessiert. Ihm war nur allzu bewusst, dass das Material für die Untersuchung primitiver Kulturen zusehends dahinschwand. Ob er ursprünglich vorgehabt hatte, nach New Mexico zu reisen, ist ungewiss; in jedem Fall lernte er an Bord seines Schiffes nach New York einen Mitarbeiter des Washingtoner Smithsonian Instituts kennen, an dem kurz zuvor Forschungsergebnisse über Wandmalereien der Dakota und indianische Religionen erschienen waren. Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten nahm Warburg einen Zug nach Washington, »um die Smithsonian Institution zu besichtigen. Sie ist ja das Gehirn und das wissenschaftliche Gewissen des östlichen Amerika«5. Hier beschäftigte sich Warburg nicht nur mit Wandmalereien, sondern auch mit indianischer Keramik und Ritualen wie dem Schlangentanz der Hopi-Indianer.

      Die Wissenschaftler aus Washington machten Warburg mit der Welt der Hopi bekannt sowie mit den Felshöhlen ihrer entfernten Vorfahren. Nur sieben Jahre zuvor waren diese in Mesa Verde in Colorado von einem Viehzüchter und Hobbyarchäologen entdeckt worden. In einem Gebiet namens Four Corners – hier treffen die Staaten Arizona, Utah, Colorado und New Mexico aufeinander –, das durch die Flüsse Colorado und Rio Grande begrenzt wird, finden sich Unmengen archäologischer Überreste komplexer, bis zu 1400 Jahre alter indianischer Siedlungen. In Washington traf Warburg auch mit James Mooney vom Bureau of Ethnology zusammen, der kurz zuvor den Artikel »Die Geistertanzreligion und der Sioux-Aufstand von 1890« veröffentlicht hatte. In dieser letzten bedeutenden indianischen Widerstandsbewegung hatten die Prärie-Indianer, inspiriert durch den zeremoniellen Geistertanz, die Rückeroberung ihres Landes ins Auge gefasst. Doch ihr Aufbegehren endete mit dem Massaker von Wounded Knee, bei dem über dreihundert Sioux, unter ihnen auch Frauen und Kinder, von der 7. US-Kavallerie niedergemetzelt wurden.

      Warburg interessierte sich besonders für Mooneys These, dass es Parallelen gebe zwischen dem Geistertanz und den Glaubenslehren des Hinduismus, Judentums und Christentums. Es war die Hoffnung, Spuren einer kulturellen Evolution zu finden, die Warburg in das Land der Ureinwohner im Südwesten der Vereinigten Staaten lockte. Er hatte keine unmittelbaren Verpflichtungen, weder in Florenz noch in Hamburg; er hatte Zeit, Beziehungen und Geld. Er hätte auf eigene Kosten reisen können, aber die Kuhn-Loebs ließen ihm einen Freifahrtschein für die Eisenbahnlinie zwischen Atchison, Topeka und Santa Fe ausstellen.

      Warburg war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Der Kampf zwischen den Indianern und den Siedlern New Mexicos war zehn Jahre zuvor zu Ende gegangen, und der in der Schweiz geborene Anthropologe Adolph Bandelier hatte damit begonnen, die Spuren prähistorischen Lebens in der Umgebung zu untersuchen. Das Hochland zwischen dem Colorado und dem Rio Grande war seit 11000 Jahren, seit dem Ende der Eiszeit, von Menschen bevölkert worden – möglicherweise von den unmittelbaren Vorfahren der überlebenden Pueblo-Indianer. Warburg reiste häufig in Begleitung eines Führers in einer Ponykutsche, doch die entlegeneren Gebiete erkundete er auf dem Pferderücken, denn er war – im Gegensatz zu vielen Renaissance-Forschern – ein fähiger Reiter, der seinen Wehrdienst in der berittenen Artillerie der Preußischen Armee abgeleistet hatte. Während seines Aufenthalts in Santa Fe machte Warburg das Palace Hotel zu seiner Basisstation, von der aus er in das prähistorische


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