Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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in Kinshasa alle Sicherheitsstandards unterläuft, der Strahlenschutz der zweihundert Mitarbeiter unzureichend beziehungsweise nicht vorhanden ist, obwohl die Gefahr besteht, dass er die Wasserversorgung der Stadt kontaminiert, wurde 2006 ein Vertrag mit einem britischen Bergbauunternehmen namens Brinkley Africa unterzeichnet. Im Gegenzug zur Reparatur des Reaktors und dessen Nutzung für medizinische Forschung bekam Brinkley Africa die Lizenz zum Abbau von Uran: Sie durfte die stillgelegte Uranmine in Shinkolobwe in der Provinz Katanga öffnen. Im März 2007 verhaftete Kongos Forschungsminister Sylvanus Mushi den Direktor der Kommission für Atomenergie, Dr. Fortunat Lumu, welcher das Abkommen mit Brinkley unterschrieben hatte, und warf ihn ins Gefängnis. Dr. Lumu wurde vorgeworfen, »eine große Menge Uran gestohlen« zu haben. Nach einer Woche wurde die Anklage fallengelassen und Lumu auf freien Fuß gesetzt. Allerdings bedeutete es das Ende für Brinkley Africa. Laut Minister Mushi war Dr. Lumu nicht der Einzige, der »Staatsgefährdendes« im Schilde führte. Seinem eigenen Vorgänger Gérard Kamanda wa Kamanda wurde vorgeworfen, insgeheim geplant zu haben, den Gewinn aus dem Verkauf von gestohlenem Uran für die Kampagne seiner eigenen Wiederwahl zu verwenden. Kamanda wa Kamanda leugnete das entschieden. Er behauptete, es sei Ziel des Vertrags mit Brinkley gewesen, den gefährlichen und widerrechtlichen Export von Uran zu unterbinden. Er verteidigte sich auch damit, dass er ein ehemaliger Schützling von Präsident Mobutu sei, während sein Nachfolger Mushi nichts von Wissenschaft verstehe und es ihm an Glaubwürdigkeit mangele. Außerdem sei Mushi lediglich ein ehemaliger Kommandeur der Mai-Mai-Stammesmiliz, die dafür berüchtigt war, ihren Kindersoldaten vorzumachen, dass ju-ju-Amulette Kugeln abfangen könnten. So wurde aus dem Streit einer dieser klassischen Interessenkonflikte zwischen zwei einflussreichen Männern, bei dem beide Seiten nur darauf bedacht waren, Gewinne aus den reichen Erzvorkommen des Kongo in die eigene Tasche zu wirtschaften. Zehn Jahre nach Mobutus Abgang wurde die Schatzkiste der Nation immer noch von der Führungsriege der Nation geplündert.

      Kinshasas Kernreaktor hat nie ein einziges Volt Energie geliefert. Heute steht er halb verfallen am Rande des Universitätscampus. Die CIA bestätigte das folgende Szenario: Sollte irgendjemand einen der verbliebenen Brennstäbe – die beiden fehlenden wurden nie ersetzt – stehlen und mit Dynamitstangen umwickeln, hätte er eine wirkungsvolle schmutzige Bombe, und dann hieße es: »Gute Nacht, Kinshasa.«

      Vom Kontrollraum zum Mittelpunkt des Reaktors führt eine Brücke, von der die Mitarbeiter die Stäbe zur Inspektion herausziehen. Und zwar mithilfe einer ganz normalen Angelrute, die neben dem Zugang zur Brücke abgestellt ist. Diese Methode wird allen Ernstes bei der äußerst heiklen Entnahme der Brennstäbe angewandt. Im Kontrollraum sticht einem sofort das vollkommen veraltete Steuerpult aus dem Jahr 1980 ins Auge, vor dem ein Tisch mit einer großen gelben Taste steht, mit der man den Reaktor hochfährt. Damit das Personal die Schaltfläche nicht versehentlich betätigt, wurde ein durchsichtiger Eisbehälter aus Plastik darüber gestülpt. Er ist so rissig wie die Wände des Reaktors.

      Der ehemalige Direktor des Zentrums für Nuklearforschung ließ sich von diesen praktischen Problemen nicht weiter beeindrucken. Bevor er seinen Posten in Kinshasa antrat, hatte er ein paar Jahre an der University of California in Berkeley verbracht. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er einen Artikel über die Zukunft der afrikanischen Wissenschaft, der aus seiner Sicht vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch »kreative Energie« fehlte. Den Grund dafür suchte er nicht in den mangelnden Finanz- und Ausbildungsressourcen, sondern im »psychologischen Charakter der Afrikaner«. Wissenschaftlicher Fortschritt sei für die Menschen in Afrika nie zwingend notwendig gewesen, und die mündliche Überlieferung, die südlich der Sahara vorherrsche, rege nicht zum selbständigen Denken an. Afrikanische Wissenschaftler sollten sich um mehr bemühen als um eine zweitklassige Nachahmung kolonialer Wissenschaft, die sich mit der Chaostheorie in eine Sackgasse manövriert habe. Er kam zu dem Schluss, dass die afrikanische Psyche mit ihrer kreativen Vorstellungskraft der westlichen bald überlegen sein werde.

      In der Zwischenzeit behauptet der Kernreaktor – wie Stanleys Schiff, die Messingkanonen in den unbeleuchteten Baracken des Nationalmuseums oder der »schon ganz vom langen Gras überwuchert[e]«16 Dampfkessel, den Marlow passierte – seinen Platz unter den erbeuteten Totems der Kolonialherrschaft. Kinshasa ist weniger die Hauptstadt eines souveränen Staates als vielmehr das verlassene Steuerpult eines längst untergegangenen Reiches. Die Schlüssel sind im schwülheißen Reich der Bäume jenseits der Brandung und der Stromschnellen verschwunden.

      Die Fahrt zum Flughafen in Papa Thomas’ üblichem unbekümmertem Tempo führte über eine neue Route vorbei am Institut Georges Simenon, benannt nach dem belgischen Romanautor, der mehrere Bücher über die colons verfasste, die Kolonisten von Belgisch-Kongo, von denen keines ein schmeichelhaftes Licht auf sie wirft. Dann kamen wir am Institut enseignement médiatique vorbei, einer geschlossenen Journalistenschule, die ausgebrannt war, womöglich durch Granatfeuer. Sowie wir langsamer wurden, überfiel uns der Geruch afrikanischer Städte aus verrottender Vegetation, vor sich hin moderndem Müll und Abwässern, die in der schwülen Hitze eine beißende Mixtur bildeten, die kaum einzuatmen war.

      Papas Handy trällerte. Er fuhr rechts ran, obwohl wir unseren Flug erreichen mussten, und unterhielt sich ausführlich mit einem lieben, lange verschollenen Freund. Am Straßenrand bemalte ein auf einem Hocker stehender Künstler eine Werbetafel für eine Online-Ausbildung in Bürokommunikation. Schulkinder bahnten sich in ihren unwahrscheinlich weißen Hemden und gebügelten kurzen Hosen einen Weg zwischen umgestürzten Bäumen, Pfützen tropischer Gewittergüsse und baufälligen Hütten mit den handgemalten, wunderbar optimistischen Namen: »Maison la Gloire«, »Chez Mère Pierrette«, »Faculté de la Sade«, und schließlich »Maison Don de Dieu«, wo mit Klempnerzubehör und Hygieneartikeln gehandelt wurde. Papa Thomas beendete seine Unterhaltung. Eine riesige Polizistin in gelber Bluse winkte uns zurück in den Verkehr der Schnellstraße, bevor sie ihre Arbeit beendete und die Menge vor sich wie eine Bugwelle teilte, um an ihr Ziel zu gelangen, an das Laboratoire de l’Elégance.

      Das originellste Schild hing über einem Barbiersalon – »Espace Schengen«. Seit dem Schengener Abkommen ist es ja nur noch eine kurze Seereise von der Saharaküste zu den kanarischen Inseln oder von Libyen zur Mittelmeerinsel Lampedusa und von dort über die Autobahn nach Brüssel und zum Justizpalast.

      Conrad brauchte fast zehn Jahre, um seine Erfahrungen in Afrika in einen kaum hundert Seiten langen Roman zu destillieren. Ein vielschichtiger, dichter Text, dessen Lektüre sich immer wieder lohnt und der dem Bösen und dem Wahnsinn, die im Kongo-Freistaat ihr Unwesen trieben, auf den Grund geht. Er schildert die übermächtige Präsenz des Urwalds, die kriminelle Energie unter der Maske rechtmäßiger Gewalt, die Versklavung, die Furcht vor dem Unbekannten, die Heftigkeit des afrikanischen Gegenangriffs, das tödliche Klima, die Ausbeutung des Landes. Die Finsternis des Titels spiegelt die kindliche Idee des fernen Unbekannten und ganz wörtlich das erstickende Dunkel des hohen Waldes. Doch Finsternis wird schnell zu einer Metapher für den Tod, der so viele Agenten der Kompagnie erwartete, ebenso wie für die finsteren Absichten der Direktoren, die Geheimhaltung ihrer Geschäfte, die Furcht, die ihnen ihre aufsässigen Opfer einflößten, und für den Einfluss, den all das auf die zentrale Figur, auf Mr. Kurtz hat.

      Zu der Zeit, als Conrad an dem Roman schrieb, griff die britische Armee in Transvaal auf der Suche nach Gold die Burenrepubliken an und pferchte Zivilisten in Konzentrationslagern zusammen, in denen Tausende Frauen und Kinder an Krankheiten und Mangelernährung starben. Derweil trieben die europäischen Nationen, die sich die Zivilisierung Afrikas zum Ziel gesetzt hatten, ihre offenen und geheimen Vorbereitungen für einen globalen Krieg voran.

      Während sich die europäischen Großmächte – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland – ihrer Selbstzerstörung immer weiter näherten, vervielfachten sich die Friedenskonferenzen, -kongresse und -tagungen. Auf der Haager Friedenskonferenz 1899 wurden Ausschüsse zu Fragen der Bewaffnung und des Kriegsrechts einberufen. Eine führende Figur auf dieser Konferenz, ebenso wie auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz 1907, war Auguste Beernaert, einer der belgischen Politiker, die sich am stärksten für Leopolds afrikanisches Abenteuer einsetzten. Leopold II. schätzte seinen ehemaligen Premierminister Beernaert so sehr, dass er ihm das höchste Kompliment zollte, indem er ihn »den größten Zyniker des Königreichs« nannte. Beernaert bestätigte den König in seiner Einschätzung,


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