Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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      Einer von Joseph Conrads ersten Eindrücken von Afrika war der eines französischen Kriegsschiffs, das vor der tropischen Küste ankerte und Granaten in einen stillen Wald feuerte. Er beschrieb diesen Augenblick in Herz der Finsternis. »Inmitten dieser unendlichen Leere von Erde, Himmel und Wasser feuerte es, so unglaublich das war, auf einen Kontinent. […] Es steckte eine Spur Wahnsinn in dieser Taktik«2.

      Sein portugiesischer Küstendampfer aus Bordeaux lief eine Kette von Handelsposten an, während er die Westküste von Afrika passierte. Er machte nicht oft in einem Hafen fest, denn es gab nur wenige Häfen, und viele Flussmündungen waren nicht befahrbar. Der Westen Afrikas wird von einer Leeküste geschützt, die für die motorisierten Schiffe im Jahre 1890 nicht mehr so gefährlich wie für Segelschiffe früherer Zeiten, für einen Dampfer mit Motorstörungen aber immer noch potenziell verhängnisvoll war. Dieser geografische Umstand liefert eine weitere Erklärung für die historische Isolation des gesamten Kontinents. Der Sklavenhandel war fünfzig Jahre zuvor abgeschafft worden, und die ersten Forscher mit ihrem Wissensdrang waren inzwischen von Siedlern auf der Suche nach Reichtum abgelöst worden. Das französische Kriegsschiff, das Conrad aufgefallen war, war vor der Küste von Dahomey stationiert, bis dahin eines der berüchtigtsten und gefürchtetsten westafrikanischen Königreiche. Und es feuerte nicht ganz ohne Zweck. Es handelte sich um die Schüsse, die einen drei Jahre dauernden Krieg3 eröffneten, der mit der Niederlage des Königreichs von Dahomey endete. Nach ihrem Sieg legten die Franzosen den Grundstein für Französisch-Westafrika, ein riesiges Kolonialreich, das später in ein Dutzend Staaten aufgeteilt wurde.

      Vierhundert Jahre zuvor waren die ersten portugiesischen Entdecker, nachdem sie den Äquator überquert hatten, weiter südlich entlang der bewaldeten Küste über eine dunkelrote Stelle des Ozeans gesegelt und so auf die Flussmündung aufmerksam geworden, die sie gerade passierten. Hier nahmen die portugiesischen Entdecker – ebenso wie Conrads Schiff – Kurs auf die Küste, um vor Banana im breiten Delta des Kongo zu ankern. Vom Amazonas abgesehen ist dieses weltweit der größte Süßwasserabfluss ins Meer. Hier konnte Conrad endlich aufhören, eine Küste zu betrachten, von der er mehr als genug gesehen hatte. »Da hat man sie vor sich – lächelnd, drohend […], öde oder wild, und immer stumm und doch, als flüstere sie: Komm her, sieh selbst.«4 Im Mündungsgebiet nahm Conrad ein anderes Schiff flussaufwärts zu den ersten Stromschnellen, welche die Schnellstraße ins Innere bis zu einem verhängnisvollen Tag dreizehn Jahre zuvor abgeriegelt hatten. Dort setzte Conrad seinen Weg zu Fuß auf einer Straße fort, die mit den Leichen aneinandergeketteter Männer übersät war, die gezwungen worden waren, Eisenbahnschienen zu verlegen. 370 Kilometer weit musste er sich am Rande eines Kriegsgebietes durchschlagen. Kaum angekommen, wurde Conrad mit dem Grauen und der Brutalität von König Leopolds Freistaat konfrontiert.

      Joseph Conrads Aufenthalt im Kongo hätte ihn fast das Leben gekostet. Er erkrankte an Malaria und an der Ruhr. Bei einem nächtlichen Versuch, sein Kanu durch eine Flussbiegung zu manövrieren, wäre er beinah ertrunken. Sein Schiff hatte im Juni 1890 in Banana angelegt. Im Dezember war er bereits dienstunfähig auf dem Heimweg nach Europa. Während dieser sechs Monate im Kongo unternahm Conrad eine längere Reise flussaufwärts nach Stanleyville, dem heutigen Kisangani, wo sich die »Station im Innern« der belgischen Handelsgesellschaft befand, bei der er angestellt war. Kurz nach Conrads endgültiger Abreise nach Europa wurden einige Händler dieser Kompanie von feindlichen Eingeborenen gefangen genommen, gefoltert und ermordet; laut The Times wurden – nach lokaler Sitte – »ihre Köpfe auf Stangen gespießt und ihre Leichen gegessen«. Conrad entkam diesem albtraumhaften Schicksal. Er überlebte, und zehn Jahre später verfasste er Herz der Finsternis, das man getrost zu den komplexesten und anspielungsreichsten Texten der englischen Literatur zählen kann.

      Herz der Finsternis beginnt eines Nachts etwas flussabwärts von London auf einem in der Themse verankerten Boot. Während ein namenloser Erzähler mit den übrigen Bootsinsassen auf den Wechsel der Gezeiten wartet – erst dann können sie ihre Reise zum Meer fortsetzen –, lauscht er der Geschichte des Seemanns Charlie Marlow. Dieser erinnert sich daran, wie er einst als Flussschiffkapitän von einer Handelskompanie angeheuert wurde, die im Landesinneren einer afrikanischen Kolonie (die große Ähnlichkeiten mit dem Kongo-Freistaat Leopolds II. aufweist) Elfenbein erbeutete. Der Direktor der sogenannten Zentralstation erteilt Marlow den Auftrag, weiter flussaufwärts nach einem Agenten namens Mr. Kurtz zu sehen, dem brillanten und einzelgängerischen Leiter der Station im Innern, einem »Gesandte[n] der Barmherzigkeit und der Wissenschaft und des Fortschritts«5. Die Europäer – hier in Gestalt marodierender Freibeuter, angeführt vom Onkel des Direktors und möglicherweise ebenfalls im Auftrag der Kompanie – hatten vor allem eins im Sinn: »Schätze aus dem Leib dieses Landes reißen, und es steckte nicht mehr Moral in ihrer Sache als in der Tat eines Einbrechers, der einen Geldschrank knackt.«6 Mr. Kurtz war jedoch anderer Ansicht: »Jede Station sollte ein Hort der Erleuchtung und der Aufklärung sein; auch ein Handelsposten, gewiss, aber ein Ort der Bildung, der Erziehung, eine Etappe auf dem Weg zum besseren Menschen.« Mit anderen Worten spiegelt der Konflikt zwischen dem Direktor und Mr. Kurtz den Konflikt zwischen den wahren und den vorgeblichen Zielen König Leopolds im Kongo wider.

      Marlow schildert seine Flussreise erschüttert in den Begriffen seiner Zeit; er sieht Afrika mit den Augen eines englischen Seemanns, der zum Diener der Kolonisation wurde. Herz der Finsternis ist sehr vielschichtig; wie F. R. Leavis in The Great Tradition festhält, ist Marlow eine Erfindung, »für die Conrad mehr als eine Verwendung hat, die zugleich immer mehr und weniger als eine Figur ist und immer irgendetwas anderes als nur ein hervorragender Kapitän.«7 In diesen Umständen ist er ein Mann, der in einem albtraumhaften Land gefangen ist. Marlow beschreibt seine gefährliche Reise flussaufwärts – der Strom ist voller Strudel und verborgener Felsen, und die Völker an seinen Ufern befinden sich im Aufstand. Er beschreibt sein Zusammentreffen mit Mr. Kurtz, dessen Folgen und schließlich seine Rückkehr nach Europa.

      Der Historiker Jean Stengers widersprach der Lesart, Conrads Erzählung als Anklage gegen König Leopolds Regime zu deuten, weil die meisten Verbrechen, die unter der Regierung des Kongo-Freistaats begangen wurden, im Rahmen der Kautschukgewinnung stattfanden, und diese begann erst ein oder zwei Jahre, nachdem Conrad den Kongo verlassen hatte. Das entspricht zwar der Wahrheit, doch für Conrad war die Kritik am Verhalten gewisser Kautschuksammler nicht der springende Punkt. Es ging ihm vielmehr darum, die grundsätzliche Beschaffenheit der kolonialen Beziehungen infrage zu stellen und ein Problem zu beleuchten, das tiefer wurzelte als alle Gräueltaten im Zusammenhang mit der Gewinnung einer einzelnen Ressource. Die Gewalt, die Conrad mit eigenen Augen sah, war keine Folge des Kautschukhandels; sie war untrennbar verbunden mit dem Vordringen der Europäer, sie war die Antwort auf den Widerstand der einheimischen Herrscher und ihrer Truppen. Sie war außerdem eine Folge des Elfenbeinhandels, den die Behörden des Freistaates den Afrikanern aus den Händen nahmen und monopolisierten. Conrads Briefe und sein Tagebuch belegen, dass eine allgegenwärtige bedrohliche Atmosphäre herrschte; seine Figur Marlow erinnert sich, dass die Männer, die »in dieser Finsternis lebten, eine unermessliche, geheime, verborgene Welt bewohnten, die nichts von der unseren wusste«. Die Kolonialisierung war grauenvoll genug, lange bevor Kautschuk zur Kostbarkeit wurde.

      Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf den Kongo oder auf Afrika. Obwohl die Geschichte im Kongo spielt, ist die Finsternis nicht die des finstersten Afrikas. Selbst wenn der Kongo im Herzen des Kontinents liegt, so ist das Herz im Titel ganz und gar nicht afrikanisch; es ist das koloniale Herz mit seiner »undurchdringlichen Finsternis«8, die Zukunft und die Folge der Kolonialisierung, also die Welt, in der wir heute leben. Diese tiefere Bedeutung entfaltet sich nach und nach im Verlauf der Reise.

      Während ich in der Abfluglounge im Flughafen von Brüssel mit dem Regisseur Manu Riche wartete, kaufte ich mir Le Soir mit einem bebilderten Bericht von einem Flugzeugabsturz in Goma im östlichen Kongo, dem einundzwanzig Menschen zum Opfer gefallen waren. Eine DC-9 der einheimischen Fluggesellschaft Hewa Bora war beim Start verunglückt. Da wir mit Brussels Air flogen, hatte das nichts mit uns zu tun. Dann fragte ich Manu, ob er je von Hewa Bora gehört habe, und er meinte, soweit er wisse, hätten wir unsere nächsten beiden Flüge bei der Gesellschaft gebucht.

      In der vorangegangenen Nacht hatte ich einen ungewöhnlich lebendigen Traum von einer alten Dame und einem weinenden Hund. Einen dieser Träume,


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