Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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die Justiz«). Ein Gerichtssaal nach dem nächsten war menschenleer und ungenutzt, niemand fragte mich, was ich dort zu suchen hatte, es gab keine Überwachungskameras. An den Wänden eines verlassenen Korridors hingen Fotografien längst verstorbener, graugesichtiger Männer in schwarzen Roben.

      Schließlich stieß ich auf einen Gerichtssaal, in dem zwei lebende Anwälte saßen und Zeitung lasen. Eine Seitentür öffnete sich und drei Polizisten führten einen jungen Mann in Hemdsärmeln herein, dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Der Gefangene sah sich um, doch die Juristen schenkten ihm keine Beachtung. Er setzte sich. Die kleine Gruppe wartete, drei in Uniform, zwei in Roben, einer in Handschellen, aber keine Türen öffneten sich und keine Richter kamen, um sich auf die entfernte Bank zu setzen.

      Am Ende eines anderen Flurs befand sich eine unauffällige Aufzugtür aus Stahl. In der Hoffnung, hier entlang auf die Kuppel gelangen zu können, drückte ich auf den Knopf mit der Ziffer vier. Der Aufzug fuhr nach unten, nicht nach oben, und hielt in einem Stockwerk, das sich als Ebene fünf herausstellen sollte. Hier in der Tiefe gab es keine Heizung. Eine einzelne Glühbirne warf ein spärliches Licht auf eine Stahltür und den verspäteten Hinweis: interdit aux publiques. Das Licht flackerte, es schien keinen Schalter zu geben. Ein Labyrinth aus Tunneln und mit Drahtgittern gesicherten Regalen verlor sich in der Finsternis. Akten mit der Beweisführung und den Urteilen, die von den längst verstorbenen Männern auf den Fotos gesprochen worden waren. Was für ein Denkmal für die letztendliche Vergeblichkeit des Lebens von Menschen, die ihren Scharfsinn für juristische Streitfälle einsetzen. Als die Lichter erneut flackerten, rief ich den Aufzug. Zu meiner Überraschung kehrte er zurück.

      Das Justizministerium will aus dem Gerichtsgebäude König Leopolds ausziehen; seit fünfzig Jahren sind hier Renovierungsmaßnahmen überfällig. Die Fassade bröckelt, das Gebäude ist zu groß, als dass man es bewachen könnte, und zu viele Häftlinge fliehen durch die unterirdischen Labyrinthe. Es thront über der Stadt, ein Mausoleum menschlichen Missgeschicks und Leidens, eines der letzten verbleibenden Symbole eines vereinten Belgiens.

      Unter König Leopolds kaiserlichen Entwürfen befanden sich Pläne für weitere Einrichtungen, die niemals vollendet wurden, unter ihnen das Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren. Dieses 1899 eröffnete Museum ist in einem prächtigen Schloss in einem Wäldchen zwanzig Kilometer außerhalb von Brüssel untergebracht. Anfänglich sollte es Leopolds wissenschaftlichen und humanitären Fortschritt im Kongo dokumentieren. Dieses Gebäude war ursprünglich als Teil eines deutlich größeren Palastes vorgesehen, welcher nicht nur ein Museum Zentralafrikas beherbergen sollte, sondern eines der gesamten Menschheit. Doch der König starb, der Erste Weltkrieg brach aus und das imperiale Vorhaben wurde aufgegeben.

      Mehr als zweihundertfünfzig Jahre lebte das Volk der Kuba nach Sitte und Gesetz unter seinen Königen, entwickelte ein kulturelles Gedächtnis und schuf mit gewebten Textilien und Holzschnitzereien Objekte von hohem künstlerischen Wert. Ihr Land an den Ufern des Flusses Kasai lag so tief im Wald, dass sie mehr als vierhundert Jahre von Händlern und Sklavenfängern unbehelligt blieben, die aus dem Osten und Westen vordrangen. Als Leopold II. im Jahre 1885 seine Herrschaft über das an den Fluss Kongo grenzende Gebiet ausrief, erklärte er ein Zehntel dieses Territoriums, 250000 Quadratkilometer, die halbe Fläche Frankreichs, zum Eigentum der Krone. Dieses Gebiet grenzte an das Königreich von Kuba. Leopold hatte niemals das Geringste von Kuba gehört, für ihn war es nur eine Region, in der viele der ertragreichsten natürlichen Kautschukwälder lagen, die es in Zentralafrika noch gab. Der König der Kuba hatte jedoch von den Belgiern gehört und jedem die Todesstrafe angedroht, der diesen Eindringlingen half, den Weg ins Königreich zu finden.

      Der Autor Adam Hochschild berichtet allerdings von einem presbyterianischen Missionar, dem Afroamerikaner William Sheppard, der nach Kuba kam und die Hauptstadt erreichte, ohne geköpft zu werden. Sheppard war zwar gekommen, um das Evangelium zu verkünden, und das tat er sicherlich auch, wahrscheinlich hat er jedoch deutlich mehr von den Kuba gelernt als sie von ihm. Auch ihre außergewöhnliche Schönheit scheint ihm nicht entgangen zu sein, denn er nahm sich eine junge Geliebte – eine umgekehrte Konversion.

      Mr. Sheppard warf keinen Schatten des ›Grauens‹ wie die Abgesandten Leopold II., die als Kautschukhändler acht Jahre später auf den Spuren des Missionars nach Kuba kamen. 1900, zwei Jahre nach der Eröffnung des Museums in Tervuren, erreichten belgische Truppen die Hauptstadt des Königreiches, plünderten sie und zwangen die Einwohner als Kautschuksammler zur Sklavenarbeit. Kurz danach betraten Archäologen und Ethnografen den Schauplatz und schickten schon bald die ersten Kisten mit Kulturschätzen von Kuba nach Tervuren.

      Die sechs Monate im Kongo prägten Conrad für den Rest seines Lebens. Nachdem er einige Tage in Brüssel verbracht hatte, nahm er den Zug nach Bordeaux, wo ein portugiesischer Küstendampfer auf ihn wartete, um ihn nach Banana an der Mündung des Kongo zu verschiffen. Seine Reise nach Brüssel war erfolgreich verlaufen; er war als Dampfschiffkapitän angeheuert worden und hatte einen Dreijahresvertrag mit der Société anonyme Belge pour le commerce du Haut-Congo unterschrieben.

      In Herz der Finsternis erinnert sich Conrad an die Stadt, die er hinter sich ließ. Er beschreibt eine »schmale, menschenleere Straße in tiefem Schatten«5, »die so still und wohlanständig war wie eine gut gepflegte Friedhofsallee«6. Dorthin hatte man ihn zum Vorstellungsgespräch gebeten. Im Vorzimmer saßen strickende Frauen, »die das Tor zur Finsternis bewachten«. »Nicht viele von den [Männern] sahen sie jemals wieder – nicht die Hälfte – bei weitem nicht.«7 Die Sterberate derjenigen, die nach Matadi und weiter flussaufwärts zu den Handelsposten im Wald gesandt wurden, war hoch. Conrads eigene Gesundheit wurde durch seinen kurzen Aufenthalt im Kongo zerrüttet, und der Skipper, den er ersetzen sollte, war von Afrikanern ermordet worden.


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