Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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mit einem Fahnenmast. Grauer Backstein an einem grauen Tag. Eine schmuddelige blau-rote Flagge hängt, schlaff von Abgasen und Regen, am Mast. Viele der Reihenhäuser sind mittlerweile Wettstuben und Schnellrestaurants. Die windschiefen Schornsteine scheinen nur von dem Gewirr rostiger Antennen gestützt zu werden. Jahrelang war diese Gegend ein Rotlichtviertel gewesen. Am Eingang von Gray’s Inn Road Nr. 281 waren am Tag meines Besuchs zwei Überwachungskameras und drei unbeschriftete Klingeln unter der Flagge angebracht. Es war nur ein Hauseingang in King’s Cross, aber schon hier spürte ich Afrika – nach dreißig Jahren – deutlich. Die unbekannte Flagge, die Klingeln ohne Schilder, das Gefühl, selbst aus den Bäumen beobachtet zu werden – alles lief auf die Frage hinaus: »Willst du hier wirklich rein?«

      In den 1970er Jahren war ich mir jedenfalls sicher gewesen, raus zu wollen. Das war in Obervolta gewesen, dem späteren Burkina Faso. Die Hauptstadt heißt nach wie vor Ouagadougou. Damals gab es Probleme wegen eines Ausreisevisums. Das gar nicht existierte. Wenn man mich damals mit der Forderung nach einem nicht existenten Dokument konfrontierte, weigerte ich mich zu zahlen. Ich hatte kein Geld und mehrere Jahre Arbeit in Afrika hinter mir. Ich schwor: Sollte es mir gelingen, mich an diesem Uniformierten vorbeizudrücken, ohne für dieses imaginäre Visum zu zahlen, dann wäre es das letzte Mal.

      Jetzt boten mir die fehlenden Klingelschilder erneut eine Chance, nicht in den Kongo zurückzukehren. Aber ich hatte mich vertraglich zur Reise verpflichtet, also brauchte ich ein kongolesisches Visum. Keine der Klingeln funktionierte, doch die Tür der Botschaft gab auf leisen Druck nach – und damit hatte ich meine Chance vertan. Hinter mir fiel die Tür ächzend ins Schloss. In einer dunklen Ecke moderten Hochglanz-Visitenkarten von Prostituierten vor sich hin. Es gibt Gerüchte, nach denen der kongolesische Botschafter in Tokio einmal das Dienstgebäude verkaufte. Das Personal landete vermutlich in einem japanischen Gegenstück zu Nr. 281. Im Schummerlicht konnte ich am Rand der Finsternis die ungestrichenen Wände des Flures ausmachen, die den Eindruck erweckten, als habe es vor kurzem gebrannt. Von der rußigen Decke baumelte ein Sicherungskasten an einem einzelnen Kabel. An der gegenüberliegenden Wand konnte ich durch die Glasscheibe neben einer Tür etwas erkennen, was nach dem Tresen eines Wettbüros aussah. Zwei vergitterte Schalter waren besetzt; über dem einen stand: »Konsularabteilung – Visa«.

      Hinter diesem Gitter im Empfang der kongolesischen Botschaft in der Gray’s Inn Road saß eine majestätisch schöne Frau in einem prachtvollen wallenden Gewand. Sprach man sie auf Englisch an, antwortete sie auf Französisch. Entgegnete man ihr auf Französisch, wechselte sie wieder zu Englisch. Oder andersherum. Eine Frage der Macht. Sie reichte mir ein detailliertes Formular. Die Gebühr für das Visum betrug vierzig Pfund. Die Bearbeitungszeit, sagte sie, werde sich sehr lange hinziehen, ja, eigentlich könne sie mir gar kein Datum für die Fertigstellung nennen. Es sei denn, ich entscheide mich für den Express-Service, der höchstens vierundzwanzig Stunden dauere. Die Gebühr belaufe sich auf weitere dreißig Pfund, in bar, ohne Beleg. Auf einem weiteren Formular hatte ich meinen guten Leumund zu bestätigen. Wenn ich den Express-Service in Anspruch nähme, dürfe ich eigenhändig versichern, dass ich polizeilich nicht bekannt war. So viel zu dem Vorsatz, den ich in Ouagadougou gefasst hatte. Siebzig Pfund wechselten den Besitzer. Sie nahm meine Opfergabe an, ohne zu lächeln. Das Visum wurde innerhalb von zwölf Stunden ausgestellt. Der Flug ging von Brüssel.

      KAPITEL ZWEI

      Der Justizpalast

      Im November 1889 ging Józef Teodor Korzeniowski, ein polnischer Händler und Seemann, in London an Land, um nach Arbeit zu suchen. Zwölf Jahre zuvor hatte er sich in einer dunklen Stunde in Marseille in die Brust geschossen.1 Die Kugel hatte sein Herz verfehlt. Danach hatte er ein Kapitänspatent erworben, fand aber kein Schiff. Er erfuhr jedoch, dass sich Binnenschiffkapitänen eine Perspektive im Kongo-Freistaat eröffnete, einem riesigen Gebiet im Innern Afrikas, das sich König Leopold von Belgien als persönliches Lehnsgut angeeignet hatte. Also galt es, Erkundigungen in Brüssel einzuziehen. Korzeniowski war König Leopold als Mann bekannt, dem es ein Anliegen war zu helfen; er wurde vor allem dafür gerühmt, eine Zivilisierungsmission in Afrika zu finanzieren.

      Die afrikanische Unternehmung, die dem polnischen Kapitän eine Chance zu bieten schien, war eines der erstaunlichsten politischen Vorhaben der Epoche, für das es weder Vorbilder noch Nachahmer gab. Es entsprang dem Willen eines einzelnen Mannes, des Monarchen eines wohlhabenden, aber unbedeutenden europäischen Landes, der sich nebenher zum Despoten eines immensen Gebietes in der unerforschten Welt aufgeschwungen hatte. Jeder Tagträumer kann in seinem Lehnstuhl solchen Illusionen nachhängen, doch Leopolds Genialität bestand darin, dass er die führenden internationalen Staatsmänner seiner Zeit dazu brachte, sein privates Reich anzuerkennen. Durch geschickte Manöver brachte er 1885 ein Gebiet von der Größe Westeuropas in seinen Besitz, das er so lange ausplünderte, wie es ihm nur möglich war.

      —

      Bis heute ist die Demokratische Republik Kongo, der ehemalige Kongo-Freistaat, danach Belgisch-Kongo und später Zaire, mit Abstand die größte Nation Zentralafrikas. Leopold kündigte seine territorialen Absichten an, als er im kleinen Kreis erklärte, dass »Belgien auch einen Teil von diesem ausgezeichneten afrikanischen Kuchen«2 abbekommen müsse. Seine damaligen Konkurrenten waren Großbritannien, das mächtigste Land der Erde, Deutschland, die bedeutendste Nation Europas, die von einem weiteren Genie namens Bismarck regiert wurde, Frankreich als zweite Weltmacht sowie Portugal, die Kolonialmacht, die sich damals bereits in der Kongoregion festgesetzt hatte. Leopold steckte sie alle in die Tasche. Seine Taktik bestand darin, den geplanten Vorstoß in den Kongo als philantropische Unternehmung zu tarnen. Doch selbst ein Genie ist auf Glück angewiesen, und seine Glückssträhne begann, als er den englischen Forscher Henry Morton Stanley in seine Dienste nahm, den die anderen europäischen Regierungen nicht zu würdigen wussten.

      Leopold saß bereits neun Jahre auf dem belgischen Thron, als Stanley 1874 von der Insel Sansibar an der Küste Ostafrikas aufbrach, um nach der Quelle des Nils zu suchen. Drei Jahre blieb seine Expedition im Urwald verschwunden. Als sie an der Atlantikküste wieder auftauchte, hatte Leopold auf der von ihm einberufenen Geographischen Konferenz in Brüssel zwei wichtige Weichen gestellt: die Gründung der Internationalen Afrika-Gesellschaft mit König Leopold als Präsident und die Ankündigung der wissenschaftlichen Erforschung des Kongobeckens. Zum Wohle Afrikas und der Menschheit plante man dort auch die Errichtung von »Missions- und Forschungsstationen«. Sobald Stanley nach Europa zurückgekehrt war, warb ihn der König an, und gemeinsam überlegten sie, wie sie den Kongo unterwerfen und ausbeuten konnten.

      Bis zum 19. Jahrhundert war Afrika vor europäischen Eindringlingen durch gewaltige, größtenteils natürliche Barrieren geschützt. Wegen der starken Brandung war das Anlegen an vielen Stränden zu riskant, und die großen Flüsse, die den Kontinent entwässerten, versteckten ihre Mündungen hinter Sandbänken. Dazu kamen Stromschnellen, bedrohliche Urwälder mit todbringenden Pflanzen und unbekannten wilden Tieren, das Fieber und nicht zuletzt die Speere. Nachdem Stanley 1877 den Kontinent von Ost nach West durchquert hatte und aus den Wäldern von Boma wieder aufgetaucht war, waren diese Hindernisse nicht mehr unüberwindlich. Zwar hatte er die Quelle des Nils nicht gefunden, dafür aber den Kongostrom und seine wichtigsten Nebenflüsse kartografiert und auf diese Weise ein Bild des undurchdringlichen Urwalds erstellt, das ebenso genau war wie das Röntgenbild eines menschlichen Skeletts. Es würde seinen Zweck erfüllen.

      Einen großen Teil des Reichtums aus der Plünderung des Kongo nutzte Leopold II., um die Hauptstadt seines Landes so prachtvoll herauszuputzen, dass sie es mit Berlin oder Paris aufnehmen konnte. Die königlichen Pläne hatten eher kaiserliche Ausmaße, und in weniger als zwanzig Jahren war Brüssel verwandelt. Im April 1890, als Józef Teodor Korzeniowski dort eintraf, nahmen die neuen Paläste, Chausseen, Parks und Arkaden bereits Gestalt an. Ein paar Jahre später rief sich der polnische Seekapitän, der


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