Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser

Die böhmische Großmutter - Dietmar Grieser


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Tod, nützt er sogar dazu, Wally Neuzils Nachfolgerin Edith Harms, die er 1915 geheiratet hat, die böhmische Heimat seiner Mutter nahezubringen. Ob er ihr bei dieser Gelegenheit auch die Stätte seines höchsten Glücks und zugleich seiner tiefsten Schmach gezeigt oder aber um das »herrliche Sommerhäuschen«, aus dem er verjagt worden ist, einen großen Bogen gemacht hat, wissen wir nicht. Es war in der Zwischenzeit umgebaut und vergrößert worden, hatte einen zweiten Zugang erhalten, war aber weiterhin – da ohne Wasser, Strom und Kanalisation – nur eingeschränkt bewohnbar. Während des Zweiten Weltkrieges als Flüchtlingsquartier genutzt, wird es nach der Vertreibung seiner neuen Besitzer im Sommer 1945 ein Verfallsobjekt und erst gegen Ende der achtziger Jahre zu neuem Leben erweckt.

      Einer der heutigen Grundstücksnachbarn, eine ehemalige Kunsterzieherin aus Deutschland, die sich wie Schiele in Krumau verliebt und am südlichen Moldauufer angesiedelt hat, zeigt mir den Weg, den ich ohne fremde Hilfe niemals finden würde: An der Brücke, die früher von der Linzerstraße zur alten Schießstätte führte, klettern wir die paar Stufen zu dem Wiesengrund hinab, der hier den Flußlauf säumt, und bekommen nach Durchqueren eines Übungsgeländes für radfahrende Kinder das gesuchte Objekt ins Visier: ein brüchiges Mäuerchen, ein paar hochaufragende Bäume und dahinter, strahlend hell getüncht und mit frischem rotem Mansardendach gekrönt, Schieles Gartenhaus. Um seinen weiteren Erhalt zu sichern, ist es unter staatlichen Denkmalschutz gestellt. Würde Schiele heute hier Einzug halten, fände er im Gegensatz zu den primitiven Wohnverhältnissen von damals jeglichen Komfort vor.

      Apropos Komfort: Als Schiele nach seiner Ausweisung noch drei Mal zu Kurzbesuchen nach Krumau wiederkehrt, nimmt er, inzwischen von zahlungskräftigen Abnehmern seiner Bilder bestürmt und also besser bei Kasse als im Sommer 1911, im vornehmen Hotel Zum goldenen Engel Quartier. Zu den Krumauer Verwandten seiner Mutter, die bei seiner Verächtlichmachung und Verfolgung anno 1911 kräftig mitgemischt haben, hat er jeglichen Kontakt abgebrochen. Das wird sich übrigens, was seine Mutter betrifft, auch in Wien fortsetzen: Die beiden, ohnedies in gespannter Beziehung zueinander stehend, haben einander immer weniger zu sagen. In einem Brief an Arthur Roessler schüttet Schiele sein Herz aus und beklagt voller Bitternis, »daß sie für mich nicht das geringste Verständnis besitzt und leider auch nicht viel Liebe«.

      Stifter allerwege

      Im Sommer 1857 hat der knapp zweiundfünfzigjährige Adalbert Stifter ein Erlebnis, das ihn zutiefst aufwühlt: Er sieht zum ersten Mal das Meer. Begleitet von Frau und Ziehtochter, hat er eine Reise in den Süden angetreten – zuerst zu den Verwandten in Klagenfurt, dann weiter nach Triest. Der Anblick des fremden Elements löst in dem vielfach unglücklichen Mann, der sein Leben zu fünf Sechsteln hinter sich hat, gewaltige Erschütterungen aus:

       »Ich wußte nicht, wie mir geschah. Ich hatte eine so tiefe Empfindung, wie ich sie nie in meinem Leben gegenüber von Naturdingen gehabt hatte. Jetzt, da ich es gesehen, glaube ich, ich könnte gar nicht mehr leben, wenn ich es nicht gesehen hätte. «

      Heute hätte er es vor der Haustür. Zwar nicht das Meer, doch immerhin ein Gewässer von 44 Kilometer Länge und bis zu 12 Kilometer Breite: Es ist der 1959 fertiggestellte Moldau-Stausee, der das Land östlich des Böhmerwaldes mit Strom versorgt. Und mit Touristen.

      Der Literaturfreund, Stifters Doktrin vom »sanften Gesetz« im Sinn, braucht sich dennoch nicht zu schrecken: Nur Paddelboote und Ausflugsschiffe sind zugelassen, lautlose Autofähren ersetzen lärmreiche Brücken, und an den Ufern gehen Angler ihrem stillen Tagwerk nach oder ziehen Radfahrer vorüber. Sogar die örtlichen Fremdenverkehrsstrategen, obwohl festen Willens, die nur zweimonatige Sommersaison in Hinkunft zu verlängern, scheinen von »ihrem« Dichter gelernt zu haben und propagieren einen »sanften Tourismus«.

      Sobald man die österreichisch-tschechische Grenze bei Wullowitz und die ersten paar Straßenkilometer mit den offenbar unvermeidlichen Animierlokalen à la »Paradiso« und »Kamasutra« hinter sich hat, regieren nur noch Wasser und Wald: Baumriesen lassen ihre Fichten- und Lärchenzweige hoch über den Asphalt hängen, fliegende Händler bieten frisch gebrockte Heidelbeeren an, postmoderne Ferienbungalows wetteifern mit den schäbigen Datschas aus der kommunistischen Zeit. Dazwischen Wegkreuze, hinterm Ufergebüsch versteckte Campingplätze, einfache Proviantbuden – es könnte alles viel schlimmer sein. Den Besuch bei meiner tschechischen Übersetzerin hebe ich mir für den Rückreisetag auf; Jana Dušková lebt mit ihrer Familie in Loučovice, der letzten Ortschaft vor der Talsperre. Unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit will ich Oberplan erreichen, mein vorrangiges Ziel. Hier ist am 23. Oktober 1805 der Leinenwebersohn Adalbert Stifter zur Welt gekommen, hier hat er seine Kindheit verbracht, und hierher ist er auch als erwachsener Mann wieder und wieder zurückgekehrt.

      Schon meine ersten Kontakte mit den Einheimischen belehren mich, ich könne getrost »Oberplan« sagen: Horní Planá, wie der Name der 2000-Seelen-Gemeinde heute offiziell lautet, lebt von den deutschsprachigen Touristen, und die Leute aus dem Ort, die nach 1945 die vormals zu 95 Prozent deutschen Siedler verdrängt haben, haben sich klugerweise darauf eingestellt.

      Auch mit ihrem »Lokalmatador« wissen sie umzugehen: Gleich am Ortseingang erblicke ich eine Tafel mit stilisiertem Stifter-Porträt, »Rostbraten Adalbert« lese ich auf der Speisekarte der Gastwirtschaft, die dem Stifter-Geburtshaus gegenüberliegt, und dortselbst wartet auf den Besucher eine vorzügliche Dokumentation zu Leben und Werk des Verehrten.

      Nach dem Brand von 1934 originalgetreu wiedererrichtet, birgt der behäbige zweigeschossige Bau Memorabilien wie Stifters Reisezylinder und Reisepaß, eine Staffelei erinnert an seinen Zweitberuf als Maler, und das lateinische Lehrbuch in einer der Vitrinen lenkt den Blick auf den verehrten Landschulmeister Josef Jenne, der seinem Lieblingsschüler »Bertl« nicht nur Lesen und Schreiben, Zeichnen und Singen beigebracht, sondern dem vielfach Begabten, nach elterlichem Wunsch für einen geistlichen Beruf Bestimmten den Weg zur höheren Schule gewiesen hat.

      Bei der Wiedereröffnung des Stifter-Hauses hat man übrigens auch an den berühmten Feldstein gedacht, der sich neben dem Eingang befand; hier hat der Bub, allein oder an der Seite des Großvaters, seine ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt eingefangen:

       »Ich saß gerne im ersten Frühlinge dort, wenn die milder werdenden Sonnenstrahlen die erste Wärme an der Wand des Hauses erzeugten. Ich sah auf die geackerten, aber noch nicht bebauten Felder hinaus, ich sah einen Geier darüberfliegen, oder ich sah auf den fernen blaulichen Wald, der so hoch ist, daß ich meinte, wenn man auf den höchsten Baum hinaufstiege, müßte man den Himmel angreifen können.«

      In der Schausammlung des Stifter-Hauses fehlt es auch nicht an Zeichen der Endlichkeit: Der Sargschlüssel erinnert daran, daß dem Dichter nur eine Lebenszeit von 62 Jahren vergönnt gewesen ist, und die Fotos von den durch den Moldau-Stausee ausgelöschten Dörfern erklären, wieso manche der dem Stifter-Leser vertrauten Ortsnamen heute von der Landkarte verschwunden sind.

      Im Obergeschoß des Stifter-Hauses erwartet den Besucher eine eigene Überraschung: Die stimmungsvollen Böhmerwald-Fotos, die hier zu einer separaten Ausstellung vereinigt sind, stammen von Adalbert Stifters Hand – es ist ein 1950 geborener Nachkomme, dessen Eltern der Versuchung nachgegeben haben, ihren Sohn auf den berühmten Vornamen zu taufen. Der heute Fünfundfünfzigjährige übt einen Doppelberuf aus, ist in der Verwaltung der Erzdiözese Salzburg tätig und zugleich als Theaterfotograf bei den Salzburger Festspielen akkreditiert.

      An einer der Außenmauern der Pfarrkirche von Oberplan die Grabplatte von Stifters Mutter Magdalena – die des Vaters wäre auf dem Friedhof der oberösterreichischen Gemeinde Gunskirchen zu suchen, wo Johann Stifter, als sein Erstgeborener zwölf Jahre alt war, unter einem umgestürzten Leiterwagen zu Tode kam. Der 1906 auf dem Gelände des nahen Gutwasserberges angelegte Stifter-Park mit dem secessionistischen Dichterdenkmal, nach dem Zweiten Weltkrieg als Fußballplatz, Freilichtkino und Kleingartenkolonie genutzt, wird von einer nach der »sanften Revolution« von 1989 gegründeten Vereinigung gutwilliger Idealisten und freiwilliger Helfer Zug um Zug wiederhergestellt, und daß man sich dieser gewaltigen Aufgabe erklärtermaßen »zu Ehren unseres Landsmannes Adalbert Stifter« unterzieht, ist ein erfreulicher Beweis dafür, daß sich zumindest in Oberplan das vielpropagierte


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