Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser
Werktag angereist sind, eine Sonderschicht einlegt, steht an der Schloßpforte bereit, um – eine Kollektion historischer Photos, einen Lageplan, ein tschechisch-deutsches Wörterbuch sowie einen eigens angefertigten Spickzettel in der Hand – für alle zu erwartenden Fragen gerüstet zu sein. Für die Eintragung ins Gästebuch bittet er, Federkiel und Tintenfaß zu benützen; die Filzpantoffeln, die in größerer Zahl bereitstehen, sind für Schülergruppen bestimmt, die es mit dem Respekt vor dem alten Gemäuer und den kostbaren Fußböden weniger genau nehmen. Václav ist auf die unterschiedlichen Interessen der Schloßbesucher eingestellt: Die deutschen Gäste, so berichtet er, würden sich nach Rilke erkundigen, die österreichischen eher nach Karl Kraus. Wir bekommen also den noch nicht restaurierten Karl-Kraus-Trakt im ersten Stock zu sehen: Studierstube, Schlafzimmer und Bad. Und im Obergeschoß Hausherrin Sidonies Reich mit der schönen alten Bibliothek im Mittelpunkt, zu deren Schätzen eine komplette Kollektion der »Fackel«-Bände zählt. Auch hier Familienbilder von einst an den Wänden, dazu das große Ölporträt von Sidonie, das 1934 jener Max Švabinsky gemalt hat, den Sidonie Nádherny zwar weniger umsorgt hat als die beiden ihr devot ergebenen Dichter, den sie dafür aber jederzeit bereit gewesen wäre zu heiraten.
Wir begeben uns ins Freie: Václav geleitet uns durch den wunderschönen 15 Hektar großen Park, den Karl Kraus in so vielen seiner Gedichte besungen hat, er zeigt uns dessen Lieblingswiese, den Teich mit den schreienden Schwänen, den steinernen Tisch, an dem der Gast bei Schönwetter geschrieben hat, den weitab an einer der Schloßmauern angelegten Erbfriedhof, auf dem nicht nur die Familienmitglieder, sondern auch die Haushunde bestattet worden sind.
Im schlicht improvisierten Souvenirshop sind Postkarten erhältlich, auf denen die morbide Romantik der zum Renaissanceschloß umgebauten Wasserfeste eingefangen ist (die später durch Barockisierung und neugotische Umbauten abermals ihr Gesicht verändert hat). Auch ein Foto der von Rilkes Gattin Clara Rilke-Westhoff modellierten Marmorbüste Sidonie Nádhernys liegt auf, ein Schnappschuß des viersitzigen Cabriolets, mit dem sie und Karl Kraus ihre Autoausflüge unternommen haben, sowie – aus neuester Zeit – eine Serie kindlichnaiver Schloßzeichnungen, die aus einem Schülerwettbewerb hervorgegangen sind.
Auch auf alle Karl Kraus betreffenden Fragen erhält der Besucher Auskunft. Der große Spötter, der durch seine Aufenthalte in Janowitz und seine leidenschaftliche Liebe zu Sidonie Nádher-ny zum Dichter mutiert, ist mit diesem Land ja schon lange vor der schicksalhaften Begegnung mit der elf Jahre jüngeren Aristokratin aufs innigste verbunden: Böhmen ist seine Geburtsheimat. In der nordböhmischen Kleinstadt Gitschin, Wallensteins Lieblingsresidenz, in der der berühmte Feldherr nach seiner Ermordung auch bestattet worden ist, betreibt Vater Jakob Kraus eine Papierhandlung, ehe er es mit einer ebenso einfachen wie genialen Idee zu immensem Wohlstand bringt: Er verlegt sich auf die Herstellung geklebter Papiersäcke, die bald in allen Teilen der Habsburger-Monarchie, ja in ganz Mitteleuropa massenhaft Abnehmer finden.
Am 28. April 1874 kommt – als neuntes Kind – Karl zur Welt; in Gitschin verbringt er seine ersten Lebensjahre. Als er drei Jahre alt ist, übersiedelt die Familie nach Wien. Hier besucht er Volksschule und Gymnasium, hier unternimmt er seine ersten Schritte als Schauspieler, als Vorleser, als Zeitungsmitarbeiter. Noch während des Universitätsstudiums (das er vor der Zeit abbricht) reift in dem Vierundzwanzigjährigen der Plan zur Herausgabe der satirischen Zeitschrift »Die Fackel«, 1902 erscheint sein berühmter Essay »Sittlichkeit und Kriminalität«, es folgen Aphorismensammlungen, weitere Essaybände, schließlich die öffentlichen Vorlesungen, in denen er auch sein mimisch-deklamatorisches Talent voll entfalten kann. Die Frau an seiner Seite ist eine junge Wienerin, die er 1904 während eines Urlaubs in Ischl kennengelernt hat: Helene Kann. Was ihn an der ebenso schönen wie geistreichen Person besonders entzückt, sind ihr Einfallsreichtum, ihr Witz. Ihr widmet er sein 1909 erscheinendes zweites Buch: »Sprüche und Widersprüche«.
Es kommt das Jahr 1913. Das Lieblingslokal des Neununddreißigjährigen ist zu dieser Zeit das Café des Wiener Ringstraßenhotels Imperial. Hier stellt ihn am 8. September einer seiner Bekannten, der Sportarzt Max Graf Thun Hohenstein, einer weitläufigen Verwandten vor, die zu Besuch in Wien weilt: der elf Jahre jüngeren Baronesse Sidonie Nádherny von Borutín.
Die streng-schöne Aristokratin mit dem hellwachen Geist und dem seherischen Blick und der alternde, neuerdings auch von mancherlei beruflichen Rückschlägen irritierte Schriftsteller kommen sogleich miteinander ins Gespräch, spüren, daß sie einander eine Menge zu sagen haben, setzen die begonnene Konversation noch am selben Abend bei einem gemeinsamen Diner fort. Sidonie ist seit dem Selbstmord ihres Lieblingsbruders seelisch angeschlagen: Der einige Jahre ältere Johannes Nádherny hat sich vor drei Monaten während eines Spitalsaufenthalts in München das Leben genommen, weil er sich für unheilbar krank hielt. Die Eltern, 1898 in den Freiherrenstand erhoben, sind schon seit längerem tot, Sidonie muß also nun die Agenden des Bruders übernehmen, der nicht nur Schloß Janowitz, die jüngst noch um drei Meierhöfe erweiterten Besitzungen der Familie, verwaltet hat, sondern, ein durch und durch kunstsinniger Mann, der Schwester auch in punkto Musik, Theater und Kunst ein inspirierender Mentor gewesen ist. Sidonies Zwillingsbruder Karl hingegen, ausgebildeter Jurist, entledigt sich der mit der Erbschaft verbundenen Aufgaben durch Pachtverträge; damit ihm die Schwester nur ja nicht auf der Tasche liegt, drängt er darauf, daß sie eine standesgemäße Ehe eingeht, die ihre Versorgung sichert.
Sidonie ist selig, in Karl Kraus einem Menschen zu begegnen, dem sie alle ihre Sorgen anvertrauen kann. Man verabredet sich auch für den folgenden Tag, unternimmt eine Fiakerfahrt durch den Prater und einen Ausflug in den Wienerwald, läßt sich von Kraus’ Freund Adolf Loos zu einem gemeinsamen Gabelfrühstück und von der Pädagogin Eugenie Schwarzwald zum Souper einladen. Als man auseinandergeht und Sidonie zur Heimreise aufbricht, lädt die elf Jahre Jüngere ihre neue Bekanntschaft zu einem baldigen Besuch auf Schloß Janowitz ein.
Ende November trifft Karl Kraus auf dem prachtvollen Besitz 50 Kilometer südlich von Prag ein. Hat er Sidonie schon in den zwischenzeitlich abgesandten Briefen offen zu erkennen gegeben, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlt, so sind es nun auch das Schloß mit dem romantischen Park, dem stillen Teich und der Sidonies Einsamkeit teilenden Menagerie aus Pferden, Hunden, Schwänen und Nachtigallen, die auf den notorischen Stadtmenschen stärkste Faszination ausüben.
So oft es ihm der Terminkalender erlaubt, wiederholt Karl Kraus seine Besuche in Janowitz; zwischendurch werden Briefe, Postkarten und Telegramme gewechselt. Tritt dabei eine zu lange Pause ein, leidet er Todesangst um die verehrte Freundin: »Ich habe den gestrigen Tag mit Warten verbracht. Lauern, ob ein Telegramm in den Kasten fällt. Über zwanzigmal lief ich ins Vorzimmer, wenn ich die Klappe fallen zu hören glaubte.«
Mit zunehmender Häufigkeit gehen nun auch Verse, die die sich anbahnende Liaison zum Gegenstand haben, auf dem Postweg nach Böhmen. Sie haben Titel wie »Verwandlung« oder »Sendung«, »Zuflucht« oder auch »Mit dir vor einem Springbrunnen«. Oder – einfacher, direkter: »Sidi!« Der große Spötter Karl Kraus schlägt auf einmal völlig ungewohnte Töne an, wird zum schwärmerischen Hymniker, zum Poeten:
Nun bin ich ganz im Licht,
das milde überglänzt mein armes Haupt.
Ich habe lange nicht an Gott geglaubt.
Nun weiß ich um sein letztes Angesicht.
Wie es den Zweifel bannt!
Wie wirst du Holde klar mir ohne Rest.
Wie halt’ ich dich in deinem Himmel fest!
Wie hat die Erde deinen Wert verkannt.
Wie glänzt mir deine Pracht!
Dein Menschliches umarmt, der beten will.
Er heiligt es im Kuß. Wie ist sie still
von Sternen, deiner Nächte tiefste Nacht.
Zum Namenstag schickt er der Angebeteten einen Vers, dessen Zeilenanfänge »Sidonie« ergeben; ein andermal ist es gar ein vierundzwanzigstrophiges Gebilde, dessen Vierzeiler allesamt mit den geliebten Buchstaben S, I, D und I beginnen. Am Ende werden es an die