Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser
und das bedeutet bei Wagenpferden: 16 Paare, die in punkto Größe und Gestalt, Bewegung und Geschwindigkeit, Temperament und Charakter perfekt zueinanderpassen müssen. »In Anbetracht des harten Wiener Granitpflasters«, lese ich in einem 1890 erschienenen Leitfaden zur Aufzucht der Kladruber Rasse, sind »knochenstarke Beine und feste Hufe« eine wichtige Voraussetzung. Und weiter: »Wagenpferde müssen sicher und vollkommen in Gehorsam sein, ruhig stehen und besonders beim Stadtdienste leicht und gut wenden.«
Am Wiener Hof legt man auch diesbezüglich größten Wert auf würdevolles Gebaren – im Gegensatz zum forschen Preußen, wo Kaiser Wilhelm es vorzieht, mit seinen Orloff-Trabern im Eilschritt nach Potsdam zu sausen. »Kaiser Franz Joseph hingegen«, so drückt es einer der früheren Gestütsleiter von Kladrub aus, »ließ die Pferde gemächlich und pompös agieren, damit das Volk, wenn es ihnen vom Straßenrand aus zuschaute, ja vielleicht stundenlang auf ihr Erscheinen gewartet hatte, das erhabene Schauspiel in aller Ruhe genießen konnte.«
Nichts bleibt in Kladrub dem Zufall überlassen; die 1890 im nahen Pardubitz veröffentlichte »Instruktion zur Belehrung der Chargen und Stationsleiter in den k.k. Staats-Hengsten-Depots« schreibt bis ins kleinste Detail »Stallordnung, Wartung und Pflege« vor. Greifen wir ein Beispiel heraus, das Tränken:
»Zum Tränken der Hengste ist frisches Brunnenwasser zu verwenden, doch dürfen die Tiere niemals im erhitzten Zustande getränkt werden. Ist das Wasser sehr kalt, so ist es dadurch zu mildern, daß es eine Stunde vor dem Verabreichen im Tränkgefäße im Stalle stehengelassen wird. Auch ist, um das gierige Saufen zu verhindern, eine Handvoll Heu auf das Wasser zu legen. «
Noch strenger die Regeln in Sachen Fortpflanzung:
»Das Belegen der Stuten darf erst beginnen, wenn die Hengste vom Ausreiten zurückgekehrt, gut abgeputzt und ausgeruht sind. Eine halbe Stunde vor dem Mittagsfutter ist mit dem Belegen zu endigen. Des Nachmittags dürfen nur solche Hengste zum Belegen verwendet werden, die entweder bei einfachen Sprüngen des Vormittags nicht gedeckt haben oder denen zwei Sprünge des Tages erlaubt sind.«
Wie geht es nach dem Zusammenbruch der Monarchie mit dem vormaligen k.k. Hofgestüt weiter? Mehr schlecht als recht: Die edlen Tiere kämpfen um ihr Überleben, mit nur je 16 Stuten und zwei Beschälern beider Farbschläge, also Schimmel und Rappen, wird mühsam versucht, den Zuchtbetrieb aufrechtzuerhalten. Ein Fanatiker, der es auf die radikale Ausmerzung aller »österreichischen Überbleibsel« abgesehen hat, läßt sich dazu hinreißen, die beiden Schimmelhengste zu vergiften.
Das Desaster ist vollkommen, als man zwischen 1924 und 1929 dem Ruf der heimischen Bauern nach kräftigen Ackergäulen nachzukommen versucht und schwere Oldenburger nach Kladrub holt. Erst 1941 kann mit der Regenerierung der Rappen begonnen werden; auch gelingt es trotz der deutschen Besatzung, die Tiere von der Front fernzuhalten.
Neue Gefahr für die Erhaltung der Kladruber droht nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kommunisten die Macht im Land übernehmen: Aus dem Gestüt wird ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, der vor allem die Rinder- und Schweinezucht forciert. Immerhin gelingt es den verantwortungsbewußten Männern an der Spitze des Unternehmens, die zuständigen staatlichen Instanzen davon zu überzeugen, daß es zu den nationalen Pflichten gehört, die »einzige bodenständige Pferderasse« zu erhalten, und so muß man, als sich mit der Wende von 1989 ein neuer Aufschwung für Kladrub abzeichnet, nicht gerade bei null anfangen.
Heute erlebt der Besucher das Národni hřebčin als gutfunktionierenden Staatsbetrieb, der unter keinen Umständen privatisiert werden darf; das Landwirtschaftsministerium der Republik Tschechien, dem er unterstellt ist, hat ihn zum nationalen Kulturdenkmal erklärt, zur »Gen-Reserve« in Sachen Pferdezucht. Geht eines der zum Verkauf freigegebenen Tiere ins Ausland, müssen zwei Ministerien in Prag ihre Zustimmung erteilen. »Es ist fast so wie bei der Veräußerung eines kostbaren alten Gemäldes aus einem der großen Museen«, sagt einer der internationalen Experten, der es wissen muß, und er fügt hinzu: »Das Altkladruber Pferd von heute unterscheidet sich in nichts von seinem Vorgänger aus dem 16. Jahrhundert, wie man ihn auf den historischen Darstellungen abgebildet findet.«
Zwar machen die Kladruber auch als Reit- und Dressurpferde Furore, doch ihre eigentliche Stärke ist und bleibt das Gespann. Der Besucher, der nicht das Glück hat, einem der großen Turniere beiwohnen zu können, die mehrmals im Jahr an Ort und Stelle stattfinden, kann sich zumindest bei einer der Kutschfahrten, die das Gestüt – je nach Wunsch zweispännig oder vierspännig – anbietet, von Schönheit und Talent der »sanften Riesen« überzeugen, und fällt sein Aufenthalt in die kalte Jahreszeit, kann er von der Karosse auf den Schlitten umsteigen.
Eine zusätzliche Freude erwartet den Gast, der aus Österreich anreist: In Kladrub ist nichts von jenen Vorbehalten zu spüren, die noch immer in vielen Teilen des heutigen Tschechien gegenüber der »alten Zeit« gehegt werden, da hier noch der Kaiser im fernen Wien den Ton angegeben hat. »Herzlich willkommen« lese ich auf der am Eingang des Gestüts angebrachten Tafel, die den Besucher über die Besichtigungstermine informiert, und ich lese es nicht nur in Tschechisch und in Englisch, sondern auch in fehlerfreiem Deutsch.
»Dein Lachen endet vor der Morgenröte …«
Im Gegensatz zu seinem sieben Jahre älteren Bruder Carl, der auf Geheiß der Mutter einen kaufmännischen Beruf ergreift und schließlich als k.k. Staatsbuchhaltungsoffizial in Mailand sein Fortkommen findet, wendet sich Franz Xaver Wolfgang, der musikalischere der beiden Mozart-Söhne, dem väterlichen Metier zu und versucht sich als Pianist, Klavierlehrer, Chorleiter, Theaterkapellmeister und Komponist. Von Koryphäen wie Sigismund von Neukomm, Andreas Streicher, Johann Nepomuk Hummel, Johann Georg Albrechtsberger und Antonio Salieri ausgebildet, kann der sechs Monate vor Vaters Tod Geborene tatsächlich mancherlei Erfolge verbuchen: Konzertreisen führen ihn durch halb Europa, die Liste seiner eigenen Kompositionen zählt dreißig Werke. Zumindest Fleiß kann man dem Filius also nicht absprechen. Was ihm fehlt, ist der Zug zum Genialischen: Franz Xaver Wolfgang steht zeit seines Lebens im übermächtigen Schatten des Vaters. Da hilft es auch nichts, daß Mutter Konstanze ihren Letztgeborenen, als sie dessen Musikalität erkennt, in Wolfgang Amadeus umbenennt.
Eines allerdings hat »Wowi«, wie er als Kind gerufen wird, dem berühmten Vater voraus: Während dieser, knapp sechsunddreißigjährig am »hitzigen Frieselfieber« verstorben, sich mit einem Begräbnis dritter Klasse begnügen muß und in einem Schachtgrab des Wiener Vorstadtfriedhofs St. Marx beigesetzt wird, von dem man bis heute nicht einmal die genaue Lage weiß, erhält Franz Xaver Wolfgang eine standesgemäße Beerdigung, und auch der Grabstein, den die ihm befreundete, drei Jahre ältere Baronin Josephine Cavalcabo, geb. Gräfin Castiglioni, in Auftrag gibt, rückt die Verdienste des Verblichenen ins rechte Licht. Die Inschrift, ursprünglich von keinem Geringeren als dem Dichter Franz Grillparzer entworfen, vor der endgültigen Ausführung durch den Steinmetz jedoch leicht abgewandelt, lautet:
»Wolfgang Amadeus Mozart, Tonkünstler und Tonsetzer, geb. 26. Juli 1791, gest. 29. Juli 1844, Sohn des großen Mozart, ähnlich dem Vater an Gestalt und edlem Gemüte. Der Name des Vaters ist seine Grabschrift, so wie seine Verehrung des ersteren der Inhalt seines Lebens war. «
Ort des funeralen Geschehens ist Karlsbad. 1835 hat Mozart junior in Begleitung Frédéric Chopins das erste Mal den renommierten böhmischen Kurort aufgesucht; jetzt, am 17. Juni 1844, trifft er an der Seite seines Lieblingsschülers, des achtzehn Jahre alten Pianisten Ernest Pauer, als Kurgast Nr. 1032 in Karlsbad ein. Doch der Dreiundfünfzigjährige, seit zwei Jahren Vollwaise, ist bereits zu hinfällig, als daß es noch ärztliche Hilfe für ihn gäbe: Sechs Wochen nach seiner Ankunft stirbt er an Magenverhärtung und wird am 1. August auf dem Andreas-Friedhof zu Karlsbad beigesetzt. Musiker der Kurkapelle begleiten den Trauerkondukt, Sänger des örtlichen Musikvereins intonieren einen Choral, in der Stadtkirche wird noch am nämlichen Tag Vater Mozarts Requiem aufgeführt. So wie Grillparzer von seiner in Karlsbad zur Kur weilenden Freundin Kathi Fröhlich die Sterbenachricht erhält, gedenkt er des »guten Sohnes« mit einem eilends verfaßten achtstrophigen Gedicht.
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