Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser
durch die Straßen der Innenstadt zieht. Es ist eine Zeremonie von unüberbietbarer Erhabenheit, von einzigartiger Dimension. Leiblakaien tragen den Sarg mit dem Leichnam über die Botschafterstiege zur nahen Hofburgkapelle, wo die Einsegnung erfolgt; dann führt der Weg in den Schweizerhof, wo der riesige schwarzlackierte Leichenwagen bereitsteht. 1876/77 hat die k.k. Hofsattlerei das prunkvolle Gefährt hergestellt, dessen Baldachin mit Krone und Adlern verziert ist. Nur drei Mal ist es bis jetzt benützt worden: bei den Beisetzungen von Kaiserinwitwe Maria Anna, Kronprinz Rudolf und Kaiserin Elisabeth.
Unter dem feierlichen Geläut sämtlicher Kirchenglocken der Stadt wird der Sarg auf den Leichenwagen gehoben, das Gespann aus acht schwarzgeschirrten Rappen setzt sich in Bewegung, um den langen Weg über Inneren Burghof, Heldenplatz, Ringstraße, Schwarzenbergplatz, Aspernplatz, Quai und Rotenturmstraße zur Stephanskirche zurückzulegen, wo Kardinal Piffl eine zweite Einsegnung vornimmt. Dann das letzte Stück Strecke in Richtung Kapuzinerkirche: Kärntnerstraße, Kupferschmiedgasse, Neuer Markt. Vor dem schwarzverhängten Portal hält der Zug an, der Sarg wird vom Leichenwagen gehoben, Pater Guardian und der gesamte Kapuzinerkonvent geben dem Verstorbenen das Geleit zu dem im Inneren der Kirche errichteten Katafalk, Sänger der Hofmusikkapelle intonieren das »Libera«.
Vor der Pforte zur Gruft dann das berühmte Ritual: Der Obersthofmeister klopft mit umflortem Stab an das verriegelte Tor und verlangt Einlaß.
»Wer ist da?« fragt Pater Guardian.
»Seine Majestät, der Allerdurchlauchtigste Kaiser Franz Joseph.«
»Ignosco, den kenne ich nicht.«
»Der Kaiser von Österreich und Apostolische König von Ungarn.« Wieder die gleiche Antwort: »Ignosco, den kenne ich nicht.«
Ein drittes Mal ertönt das Klopfen an die unverändert verschlossene Pforte.
»Wer verlangt Einlaß?«
»Ein sündiger Mensch, unser Bruder Franz Joseph.«
Nun endlich geht das Tor auf, ehrerbietig nehmen die Kapuzinermönche den Leichnam in ihre Obhut. Kaiser Karl und Kaiserin Zita, die den Trauerkondukt angeführt haben, verlassen die Kirche und begeben sich zurück in die Hofburg; auch die vieltausendköpfige Trauergemeinde und die die Straßen und Plätze ringsum bevölkernde Menschenmenge lösen sich auf, der über mehrere Stunden eingestellte Straßenbahn- und Stellwagenverkehr nimmt seinen Betrieb wieder auf. Der Leichenwagen mit seinem grandiosen Achtergespann aus schwarzgeschirrten Rappen rollt zurück in die Hofburg.
Es ist das vorletzte Mal, daß er in Funktion getreten ist; nur am 1. April 1989, über 72 Jahre später, wird der kaiserliche Leichenwagen ein allerletztes Mal aus der Remise geholt werden: wenn Kaiserin Zita in der Kapuzinergruft beigesetzt wird. Seitdem ist er außer Dienst gestellt, das republikanische Österreich bedarf seiner nicht mehr, als Museumsstück bildet er eine der Attraktionen der Wagenburg von Schönbrunn.
Es ist deren Kustoden hoch anzurechnen, daß sie bei der Auswahl ihrer Exponate nicht verabsäumt haben, auch jener »Mitwirkenden« des habsburgischen Pompe funèbre zu gedenken, ohne deren Einsatz der kaiserliche Leichenwagen keinen einzigen Schritt von der Stelle gekommen wäre: der Pferde, die ihn unter den bewundernden Blicken der Wiener in prunkvollem Achtergespann durch die Straßen der Stadt gezogen haben.
Ich spreche von dem 1853 im Auftrag des Hofes angefertigten Ölgemälde, das an einer der Wände der Wagenburg prangt und den Blick freigibt auf das k.k. Hofgestüt von Kladrub, wo seit den Tagen Kaiser Rudolfs II., also seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, die Zugpferde für die Karossen der Habsburger gezüchtet werden: die Schimmel- und Rappenhengste der bei den Trauerkondukten eingesetzten Achterzüge und die hellbraunen Halbblüter für die Ausfahrten der übrigen Hofwagen. Daß die Kladruber schon damals – und erst recht heute – im Schatten der berühmteren Lipizzaner stehen, ist eine der vielen Ungerechtigkeiten dieser Welt; nehmen wir das im Jahr 2004 begangene 425-Jahr-Jubiläum des Gestüts von Kladrub zum Anlaß, den »sanften Riesen« aus Ostböhmen, wie man die edlen Tiere immer wieder genannt hat, unsere Reverenz zu erweisen.
Schon Pardubitz, wo ich auf dem Weg nach Kladrub Zwischenstation mache, ist ein Mekka der Pferdefreunde: Die 100 000 Einwohner zählende Hauptstadt Ostböhmens, gut 200 Kilometer nördlich von Wien und 75 Kilometer östlich von Prag, ist berühmt für ihr alljährlich veranstaltetes Steeplechase, das als das älteste und schwierigste Hindernisrennen auf dem Kontinent gilt. Mich aber zieht es an die »Quelle«: Ich will den Ort kennenlernen, aus dem die Pferde für die königlichen Gespanne kommen, den Ort, wo sie geboren, aufgezogen und trainiert werden – zuletzt hat man sie im Frühjahr 2004 im Fernsehen bewundern können, als sie das dänische Kronprinzenpaar anläßlich seiner Vermählung im offenen Landauer durch die Straßen von Kopenhagen gezogen haben.
Ich folge der Straße in Richtung Kolín, hinter der Ortschaft Prelouc biege ich nach rechts ab, überquere die Brücke der an dieser Stelle schmalen Elbe und sehe schon von weitem die ersten Koppeln mit den still weidenden Tieren, die – ähnlich den Lipizzanern – schwarz auf die Welt kommen und mit zunehmendem Alter Grautöne annehmen, um schließlich im makellosesten Weiß zu glänzen: ein Bild, das nicht nur das Herz des Pferdenarren höher schlagen läßt.
Schon der Blick auf die Pforte des im Jahr 2002 in den Rang eines Nationalen Kulturdenkmals der Republik Tschechien erhobenen Gestüts, wo ich von Lenka Gotthardová, der jungen Direktorin, freundlichst erwartet werde, bestätigt, was in allen Prospekttexten betont wird: In Kladrub ist die Zeit stehengeblieben. Das unter Maria Theresia erbaute Schlößchen samt angeschlossener Kirche erstrahlt in aufgefrischtem Kaisergelb, die über das 3000 Hektar große Areal verstreuten Farmen tragen nach wie vor Namen wie »Franzenshof« und »Josefshof«, und unter den Tafeln, die über Identität und Abstammung der einzelnen Tiere Auskunft geben, finde ich nicht nur solche mit Aufschriften wie Generale, Favory und Libanon, sondern auch einen Rudolfo, ja sogar einen »Almhirt«. In den Repräsentationsräumen hinter dem Verwaltungstrakt hängen die Porträts des Gestütsgründers Rudolf II. und Maria Theresias an den Wänden, Gemälde erinnern daran, daß auch Kaiser Franz Joseph und Sisi in Kladrub zu Gast gewesen sind.
Ich bin in guten Händen: Zuzana, die in Prag Zoologie studiert hat und in Kladrub unter anderem für Öffentlichkeitsarbeit und Außenkontakte zuständig ist, übernimmt die Führung. Verschmitzt lächelnd überprüft sie mein Schuhwerk: Pferdeställe und Reithallen sind keine Ballsäle. Die meisten Tiere sind zur Zeit meines Besuches draußen auf ihren Weidegründen; die wenigen, die sich in ihren Boxen aufhalten, wenden sich neugierig dem Gast zu – und noch neugieriger dem Pfleger, der frisches Futter austeilt oder nach dem Brauseschlauch für die morgendliche Dusche greift. Es ist ein heißer Sommertag: Das Reinlichkeitsbad bringt zugleich Abkühlung.
Nach der Feuersbrunst von 1757, der große Teile des Gestüts zum Opfer gefallen sind, hat Kaiser Josef II. sämtliche Einrichtungen erneuern lassen: Ich stapfe über den Strohteppich der Mutter-Kind-Halle, werfe einen Blick in die Veterinärstation, nur das Haus mit den Quartieren für die rund 120 Beschäftigten ist ein moderner Zweckbau. Die schnurgerade vom Hauptplatz wegstrebenden Alleen zu den einzelnen Höfen haben eine Länge von zweieinhalb Kilometern – eine von ihnen führt in den Nachbarort Řecany mit seiner Bahnstation: Hier wurde, wenn hoher Besuch vom Wiener Hof ins Haus stand, der Ankömmling in großem Stil mit der Kutsche eingeholt.
Nebenbei erfahre ich alles über Tagwerk und Jahrespensum der »sanften Riesen«: Dreimal täglich werden sie gefüttert, mit vier Jahren setzt das Training ein, die »Prüfungsfächer« umfassen Sattel, Kutsche und Schwergewicht. Letzteres ist für das künftige Zugtier die wichtigste Bewährungsprobe: Durchschnittlich 90 Prozent der Kandidaten bestehen sie mit Bravour. So viel Aufwand hat natürlich seinen Preis: Mit mindestens 10 000 Euro muß der heutige Käufer rechnen, der sich für einen Kladruber interessiert. Der »Vorrat« ist ausreichend: An die 50 Fohlen sind es in der Regel, die pro Jahr zu dem Grundbestand der rund 300 ausgewachsenen Pferde hinzukommen.
Angefangen hat das Ganze im Jahr 1579: Kaiser Rudolf II., dem altspanischen Hofzeremoniell besonders verbunden, führt aus Spanien und Italien hochwertige Pferde ein und siedelt sie in den abgelegenen Ländereien um Kladrub an, um ein Gala-Zugtier für die kaiserlichen Karossen züchten zu lassen. Die neue Rasse gedeiht