Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser

Die böhmische Großmutter - Dietmar Grieser


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nächstes Ziel bildet. Es ist jenes auf der gegenüberliegenden Seite des Moldau-Stausees tief im Wald von St. Thomas versteckte Relikt, das für den jungen Adalbert Stifter von überragender Bedeutung gewesen ist. Mit 34 hält er die »zerfallene Ritterburg« in einem seiner schönsten Ölbilder fest; drei Jahre später, in seiner berühmten Erzählung »Der Hochwald«, schildert er, wie sie »von dem Tale aus wie ein luftblauer Würfel anzusehen« sei, »der am obersten Rande eines breiten Waldbandes schwebet«.

      Während des 13. Jahrhunderts von einem Ritter Wittigo aus dem nahen Krumau als Festung errichtet, fällt die nur aus Wehrmauern und Turm bestehende Anlage in späterer Zeit an das Geschlecht der Rosenberger, die den Burgfried zu einem der größten von ganz Böhmen ausbauen. Hier schmachtet König Wenzel IV., als er im Zuge eines Feudalherrenaufstandes in den Kerker geworfen wird. Immer wieder wechselt Burg Wittinghausen ihre Besitzer, ist schließlich ganz dem Verfall preisgegeben, und erst 1871, als Kronprinz Rudolf den Originalschauplatz von Stifters Roman »Witiko« in Augenschein nehmen will, werden, dem hohen Besuch zu Ehren, die allernötigsten Ausbesserungs- und Konservierungsarbeiten vorgenommen.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Gelände – der nahen Grenze zu Österreich und Bayern wegen – Sperrgebiet, der für militärische Zwecke unbrauchbaren Burgruine ein stählerner Turm zur Luftraumüberwachung an die Seite gestellt. Daß sich 1998 erstmals Kräfte zu regen beginnen, die die Revitalisierung der Anlage und die Umwandlung des Burgfrieds in einen Dreiländereck-Aussichtsturm zum Ziel haben, ist niemand anderem als Adalbert Stifter zu verdanken: Die eilends gegründete Bürgervereinigung Wittinghausen/Vítkuv Hrádek mag nicht mit leeren Händen dastehen, wenn es am 23. Oktober 2005 den 200. Geburtstag des Böhmerwalddichters zu feiern gilt. Das ist übrigens alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Auch unter den erklärten Büchernarren Tschechiens bilden die Stifter-Leser heute wie ehemals eine verschwindende Minderheit.

      Šumava heißt der Böhmerwald auf tschechisch, also »die Rauschende« – das ist schon vom Lautmalerischen her anheimelnd, anziehend. Auch wimmelt es in der 1999/2000 zur »Landschaft des Jahres« erklärten Region, die auf der deutschen Seite in den Nationalpark Bayerischer Wald übergeht, von Stifter-Motiven. Plöckenstein lautet eines der Ziele; wer sich von Oberplan aus, immer in Westrichtung fahrend, der wildromantischen Mixtur aus Heidewiesen und Hochmoor, aus Berggipfel und Bergsee nähern will, muß aufpassen, daß er beim Studium der Landkarte keine Straße erwischt, die sich als bloßer Wanderweg entpuppt. Die Bäume werden von Mal zu Mal höher, die Felsbrocken größer, die Fahrbahn enger. Bei dem Weiler Jeleni Vrchy ist das Auto abzustellen; eine Jausenstation bietet Stärkung für den Zwei-Stunden-Marsch, den der fränkische Schriftsteller Klaus Gasseleder, ein begnadeter Literaturpilger von für seine Generation ungewöhnlicher Ausdauer, so eindrucksvoll beschrieben hat.

      Mich reizt vor allem ein Kuriosum, dem Gasseleder beim Aufstieg auf den Plöckenstein nachspürt. Es ist jenes unausgeführt gebliebene Projekt des seinerzeitigen Böhmerwaldvereins, das oberhalb des Plöckensteinsees eine monströse Stifter-Huldigung vorsah: In zwei Meter hohen Buchstaben sollten Kurzzitate aus dem Werk des verehrten Dichters in die Seewand gemeißelt werden, vom Geburtsort Oberplan aus mit dem Fernglas lesbar. Doch Fürst Schwarzenberg, der Grundbesitzer, versagte dem in der Tat irrwitzigen Plan seine Zustimmung, und so blieb es bei der 1875 realisierten Miniaturversion eines steinernen Obelisken von 15 Meter Höhe, dessen Inschrift heute selbst aus nächster Nähe nur mit Mühe zu entziffern ist: »Auf diesem Anger, an diesem Wasser ist der Herzschlag des Waldes.« Kein Geringerer als der berühmte Ringstraßenarchitekt Heinrich von Ferstel, der Erbauer der Votivkirche und der Wiener Universität, hat die Entwürfe gezeichnet.

      Was mir bei meinen Streifzügen durch Adalbert Stifters Böhmerland noch fehlt, sind die Spuren, die der in seinen jungen Jahren so glücklose Liebhaber hinterlassen hat. »Ich bitte Dich, weiche mir nicht aus, sag es mir geradezu – ich kann und will nicht länger in diesem Zwitterverhältnis zwischen Freundschaft und Liebe schweben!« beschwört der Fünfundzwanzigjährige die drei Jahre jüngere Friedberger Kaufmannstochter Fanny Greipl, die er, nach der Gymnasialzeit in Kremsmünster nunmehr Student in Wien, während der Sommerferien in der alten Heimat kennengelernt hat.

      Das stolze Mädchen, im Elternhaus streng gehalten und auch von so manchem ansehnlicheren Jüngling, als es der pockennarbige, schlecht gekleidete und im Umgang ungeschickte Adalbert Stifter ist, heftig umworben, verhält sich abweisend. Zwar stickt sie ihm – als Gegengeschenk für das Aquarell, das Stifter von Fannys Geburtsort Friedberg gemalt hat – einen Tabaksbeutel, doch seine schwärmerischen Briefe läßt sie unbeantwortet, und greift sie ausnahmsweise doch zur Feder, so nur, um ihm mitzuteilen, daß ihre Mutter einen armen Schlucker wie ihn nie und nimmer als Schwiegersohn akzeptieren würde. Das Haus des reichen Leinenhändlers Greipl auf dem Marktplatz von Friedberg darf Stifter lediglich als Motiv in sein Aquarell einfügen; als Ort des ersehnten Beisammenseins mit der »herzinnigst geliebten Freundin« bleibt es ihm verschlossen.

      Verschlossen bleibt es auch mir. Zwar finde ich Friedberg/Frymburk in groben Zügen noch genau so vor, wie es mir von Stifters Bild her vertraut ist, erkenne den langgezogenen Hauptplatz mit dem baumbestandenen Grünstreifen, dem schmalen Rinnsal und dem alten Brunnen, und wenn ich mir die Veränderungen wegdenke, die die nach wie vor anmutigen Bürgerhäuser in den 175 Jahren erfahren haben, die in der Zwischenzeit verstrichen sind, ersteht noch immer ein erstaunlich klares Bild jenes Schicksalsortes, den Stifter an mehreren Stellen seines Werkes verewigt hat. Manchmal nennt er ihn bei seinem wirklichen, manchmal gibt er ihm den Namen Pirling. Wieso Pirling? Vielleicht soll ihm die dichterische Verfremdung eine Hilfe sein, den Schmerz des abgewiesenen Liebhabers zu lindern.

Mittelböhmen

      »Wie glänzt mir deine Pracht!«

      Schon die Wagenfahrt durch das naive Land war so schön …« Auch heute noch stimmt Rilkes schwärmerische Beschreibung seiner Annäherung an Schloß Janowitz. Einunddreißig ist der Dichter, als er im Herbst 1907 den Besuch der Prager Cézanne-Ausstellung mit einem Abstecher auf den Landsitz seiner Seelenfreundin Sidonie Nádherny von Borutín verbindet. Hier die sanften Hügel, die ihn an »leichte Musik« erinnern, dort die flachen Äcker und Apfelbaumreihen »wie ein Volkslied ohne Refrain«.

      Bis zu der Kreisstadt Benešov geht es, von Prag kommend, auf fast gerader Strecke Richtung Süden; erst dort setzt die Suche nach jenen leicht in die Irre führenden, wenig befahrenen Nebenstraßen ein, die uns ans Ziel bringen sollen: Vrchotovy Janovice lautet die heutige Ortsbezeichnung.

      Nirgends würde man altösterreichische Nostalgie weniger vermuten als auf dem Bahnhof dieses von häßlichen Industriebauten geprägten Städtchens. Eine Gedenktafel, goldene Schrift auf schwarzem Grund, klärt den Reisenden darüber auf, daß in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in dem kleinen Raum, der heute die Kanzlei des Bahnhofsvorstandes bildet, hohe und höchste Herrschaften auf ihren Zug gewartet haben: Kaiser Franz Joseph, der auf der Fahrt nach Prag einen Zwischenstop eingelegt, Thronfolger Franz Ferdinand, der im nahen Schloß Konopište residiert und Kaiser Wilhelm II., den die Jagdlust zu exklusiven Vergnügungen in die böhmischen Wälder gelockt hat. Der computerbestückte Schreibtisch des Bahnhofsvorstehers bildet einen reizvollen Kontrast zu den alten, hinter Glas gerahmten Photographien, die nach wie vor an den Wänden hängen: Momentaufnahmen von den Aufenthalten der Potentaten in dem mit sparsamer Eleganz ausstaffierten Salon. Der zur Abfahrt bereitstehende Schülerzug ist abgefertigt, der freundliche Beamte der Tschechischen Staatsbahnen kann sich uns zuwenden und die Ereignisse von damals, die er nur vom Hörensagen kennen kann, in einem kuriosen Gemisch aus Tschechisch und Deutsch zu schildern versuchen. Auch den weiteren Weg nach Vrchotovy Janovice beschreibt er bis ins Detail: Erst, als er ganz sicher ist, wir würden all die Abzweigungen, Kurven, Brücken, Waldstücke und Tankstellen nicht durcheinanderbringen, entläßt er uns mit einem herzlichen »Grüß Gott«.

      Auch das Schloß, das unser Reiseziel bildet, bietet sich dem Auge des Besuchers so dar, wie es vor hundert Jahren Rainer Maria Rilke beschrieben hat: »durch einen alten Wassergraben abgetrennt, mit Fenstern und Wappenschildern gleichmäßig bedeckt, mit Altanen, Erkern und um Höfe herumgestellt, als sollte niemals jemand sie zu sehen bekommen«.

      Wir


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