La Oculta. Héctor Abad
ein, besorgte alles Nötige, kochte für alle und war während der gemeinsam dort zugebrachten Wochen die Sonne, deren Anziehungskraft sich die um sie kreisenden Planeten in Gestalt ihrer Kinder und Enkelkinder nicht entziehen konnten. Entsprechend schwierig war es, ja fast unmöglich, sich diesen Ort auf einmal ohne sie vorzustellen. Ohne meine Mutter, ohne ihre Fröhlichkeit, ihre Rezepte, ihre Einkäufe, würde es auf der Finca nie mehr sein wie zuvor. Es sei denn, jemand, Eva oder Pilar, übernahm ihre Rolle, aber ich war mir nicht sicher, ob sie dazu bereit wären. Ich würde jedenfalls niemals die nötige Energie und Liebe aufbringen, um so wie sie die gesamte Familie an diesem Ort zusammenzuführen und zu vereinen.
Jon begleitete mich zum Flughafen und half mir bei der Buchung. Die Maschine, die direkt nach Medellín flog, war schon gestartet, also würde ich in Panama zwischenlanden müssen. Da meine Hände zitterten und ich nahezu unfähig war, Englisch zu sprechen, übernahm Jon alles für mich und bezahlte mit seiner Kreditkarte. Wir umarmten uns lange, dann ging ich allein durch die Sicherheitskontrolle und zu meinem Gate. Ich musste warten, und so ging ich auf meinem Laptop die alten Fotos meiner Mutter durch, Jugendfotos, auf denen sie den Betrachter in ihrer ganzen Schönheit anlächelte, voller Energie und mit so viel Leben vor sich. Auf einem hielt sie mich als einjähriges Baby in den Armen, und wir sahen einander glücklich und verliebt in die Augen. Ich lud es auf meiner Facebook-Seite hoch, wo man heute ja die wichtigen Dinge bekanntgibt, Traueranzeigen und Beileidsbekundungen, und während ich ein paar Zeilen dazuschrieb, kamen mir die Tränen und fielen auf die Tastatur. Ob die Leute um mich herum mir zusahen, weiß ich nicht, es war mir egal. Bald trafen die ersten Kommentare meiner Freunde ein, manche sehr schön, und viele enthielten alte Erinnerungen an Anita, wie wir, ich an erster Stelle, meine Mutter immer genannt hatten: Ana, Anita.
Es war Nacht, als ich in Medellín ankam. Am Ausgang erwartete mich Benjamín, Evas Sohn. Der jüngste meiner Neffen war schön und traurig. Wir umarmten uns. Vor uns lagen noch fast vier Stunden Fahrt bis nach La Oculta. Die Totenwache auf der Finca hatte schon begonnen, und Pilar hatte bereits dafür gesorgt, dass am nächsten Tag in dem nahegelegenen Ort Jericó eine Trauermesse abgehalten werden würde. Benjamín erzählte, seine Mutter sei gleich, nachdem sie mich angerufen hatte, hingefahren. Tante Pilar habe die Großmutter gewaschen und hergerichtet, ein Arzt die Sterbeurkunde ausgestellt, und der Priester aus Palermo sei da gewesen, um die Tote zu segnen.
Vor zwei oder drei Jahren war, ebenfalls in La Oculta, Tante Ester gestorben, die Schwester meines Vaters – die Finca schien sich in den Ort zu verwandeln, den unsereins aufsucht, wenn das Ende naht. Tante Ester litt unter einer schweren Nierenschwäche, eine Transplantation kam in ihrem hohen Alter aber nicht mehr infrage, weshalb sie fast vier Jahre lang regelmäßig zur Dialyse musste. Trotzdem verschlimmerte ihr Zustand sich zusehends, so dass sie irgendwann erklärte, sie habe genug von der Dialyse und allen sonstigen Therapien und wolle bloß noch nach La Oculta, um dort zu sterben. Pilar nahm sie in Empfang, sie freute sich, sie bei sich zu haben und sich um sie zu kümmern, denn Ester war ihre Lieblingstante. Man stellte ein Krankenbett in ihr ehemaliges Mädchenzimmer und bezahlte eine Pflegerin dafür, dass sie die Nächte an ihrer Seite verbrachte. Esters Kinder kamen hin und wieder aus Medellín, um ihre Mutter zu besuchen und sich bei Pilar zu bedanken. Allmählich ging es mit Tante Ester zu Ende – sie wurde immer schwächer und bleicher und dünner und zerbrechlich wie ein Vögelchen. Zuletzt begann man, ihr Morphium zu verabreichen. Als offensichtlich wurde, dass sie große Schmerzen hatte und sie schließlich das Bewusstsein verlor, schickte Pilar die Pflegerin mit den Worten, sie solle in die Küche gehen und die Suppe warm machen, hinaus, nahm eine Spritze und verpasste ihrer Tante eine viel größere Dosis Morphium als sonst, fünf Ampullen hintereinander, wie sie mir später heimlich sagte, woraufhin Tante Ester sanft verschied, so entspannt, dass ihr Körper zu atmen vergaß. Anschließend rief Pilar Tante Esters Kinder an, teilte ihnen mit, dass ihre Mutter ganz ruhig gestorben sei, und machte sich daran, sie herzurichten, damit sie Tante Ester in angemessenem Zustand vorfanden, wenn sie kamen, um sie abzuholen.
Unser Vater, der Arzt war, hatte Pilar gezeigt, worauf es beim Zurechtmachen der Toten ankommt. Pilar ist die älteste von uns Geschwistern, und die Älteste zu sein hat Vor- und Nachteile. Es bringt bestimmte Verantwortlichkeiten mit sich, die keines der jüngeren Geschwister übernehmen kann. Pilar lässt sich durch nichts einschüchtern, mag die Aufgabe noch so unüberwindlich erscheinen. Sie ist sich für nichts zu fein, sie kennt keine Furcht. Wenn etwas nahezu unlösbar scheint, sagen wir uns: Wenn Pilar das nicht schafft, schafft es niemand.
Die Toten sprechen nicht, die Toten fühlen nicht, den Toten macht es nichts aus, wenn man sie nackt, bleich, hohlwangig – sozusagen im schlimmsten Augenblick ihres Lebens – zu sehen bekommt. Pilar hat eine sehr vertraute und liebevolle Art, mit den Toten umzugehen. Sie benimmt sich, als ob es ihnen tatsächlich etwas ausmachen, ja, als ob es ihnen wehtun würde, dass sie sich in so einem abstoßenden Zustand präsentieren müssen. Der erste und der letzte Blick sind sehr wichtig, sagt Pilar immer, so wie die Mutter ihr Kind beim ersten Mal sehen möchte, will später auch das Kind seine Mutter beim letzten Mal sehen, in gutem Zustand, und deshalb mache sie das alles. Und sie macht das so gut (man könnte glauben, die Toten seien lebendig), dass Arturo, ein Sohn Tante Esters und erfolgreicher Unternehmer, beim Anblick seiner toten Mutter – es war geradezu eine Freude, sie zu betrachten – Pilar vorschlug, gemeinsam ein Geschäft aufzumachen (er würde das Geld beisteuern und meine Schwester ihre geschickten Hände). Meine Schwester lehnte ab und erklärte, dass sie sich nur um die Toten der Familie kümmere, Geld wolle sie damit nicht verdienen. Sollte ich auf La Oculta sterben – was sich alle aus unserer Familie wünschen –, möchte ich, dass Pilar mich zurechtmacht.
Pilar hat unsere toten Großeltern hergerichtet, mehrere Tanten und Onkel, ihre Schwiegermutter, meinen Vater, nachdem sein Herz über all dem Leid wegen seines ältesten Enkels Lucas explodiert war, und auch die Kinder ihrer engsten Freundinnen. Und jetzt Anita. Was genau sie dabei jedes Mal macht, wissen wir anderen nicht, nur, dass sie Watte, Kerzen und Mullbinden benutzt, um verschiedene Körperöffnungen zu verschließen. Mit den Gesichtern hat der Tod Mitleid, sagt sie, denn dadurch, dass man ein wenig anschwillt, wenn man gestorben ist, verschwinden viele Falten. Weil die Toten andererseits aber so bleich sind, muss man ihnen zuallererst ein wenig Farbe verpassen. Je nach Hautton braucht es die richtige Creme, Rouge, Lippenstift, Puder, Wimperntusche und sogar Injektionen, um der Haut eine gewisse Vitalität zurückzugeben. Pilar hat mit dem Schminken und Frisieren viel Erfahrung, schon als kleines Kind war sie es, die meiner Mutter vor großen Festen die Haare machte. Bei den Verstorbenen nimmt sie Fotos zu Hilfe, und zwar möglichst ältere, als der Betreffende noch etwas jünger war. Aus New York bringe ich ihr immer Kosmetikartikel, feine Nagelscheren und besondere Pinzetten mit. Darüber freut sie sich am meisten, diesmal aber hatte ich keine Zeit, um egal was zu besorgen, ich steckte bloß zwei Lippenstifte ein, die ich in der Woche zuvor billig bekommen hatte, der eine scharlachrot, der andere grellpink, jedenfalls stand es so auf der Packung. Mit im Gepäck hatte ich dafür die Neuigkeit, dass nach dem Tod unserer Mutter als Nächste wir mit dem Sterben an der Reihe seien. Was sich Pilar aber längst klargemacht hatte, denn als Benjamín und ich eintrafen, sagte sie zur Begrüßung, an diesem Morgen sei ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie sich ab sofort unter die Alten zu zählen habe.
In La Oculta ging ich zuerst in Anitas Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck war sanft wie immer, mit dieser seltsamen Mischung aus Schönheit und Entschlossenheit. Pilar hatte ihr ein sehr hübsches besticktes rotes Kleid angezogen, das ich ihr einmal aus Mexiko mitgebracht hatte. Rot war die Farbe, die ihr am besten stand, und selbst jetzt sah sie fröhlich darin aus. Pilar erzählte, früh am Morgen sei sie durch einen Regenguss geweckt worden und aufgestanden, um bei Anita nach dem Rechten zu sehen. Dass es dort so still und ruhig gewesen sei, habe sie misstrauisch gemacht. Da habe sie das Licht eingeschaltet und festgestellt, dass Mama tot war. Bei dieser Vorstellung wurde ich noch trauriger, doch ich behalf mir, indem ich meine Schwestern umarmte.
Die ganze Nacht saßen wir neben meiner toten Mutter, tranken Kaffee und beteten Avemarias und Vaterunser, die, wenn man sie oft genug wiederholt, durch ihren gleichmäßigen Rhythmus eine beruhigende Wirkung erzeugen. Nach und nach trafen alle meine Neffen und Nichten ein, die Enkel meiner Mutter, mit ihren Kindern und Ehepartnern. Irgendwann war es auf La Oculta so voll, als wäre Dezember, aber es war