La Oculta. Héctor Abad
sollen, und sie hat sich genau erklären lassen, wie die Kaffeeernte ausgefallen ist und um wie viel der Durchmesser der Teakbäume im Jahr zugenommen hat. Sie ist völlig ruhig gestorben, im Schlaf, wir haben es überhaupt nicht mitbekommen. Sie hat nicht geklingelt und sie hat auch nicht nach mir gerufen. Als ich sie gefunden habe, lag sie auf der Seite, so wie immer, auf der rechten Seite, genauer gesagt, als hätte sie sich selbst umarmen wollen. Ich hätte ihre Arme fast nicht auseinander bekommen, als ich ihr die Kleider anziehen und sie herrichten wollte. Das Glas Wasser hatte sie ganz ausgetrunken, sie war bestimmt durstig. Angst war ihrem Gesicht nicht anzusehen, es wirkte bloß wie ganz weit weg und gelassen und entspannt. Ich würde auch gern so sterben – der Tod der Gerechten, wie man so sagt.
Während der Totenwache haben wir eine Weile darüber gestritten, ob wir meine Mutter beerdigen oder verbrennen lassen sollen. Ich war dafür, sie verbrennen zu lassen und die Asche auf die Finca zu bringen. Antonio, der immer mit diesem Quatsch daherkommt, die Toten aus unserer Familie dürften nicht verbrannt werden – schließlich sind wir keine Hindus, sondern konvertierte Juden, wie er sagt –, war jedoch dafür, sie im Familiengrab der Ángels in Jericó zu bestatten, und später sollten wir ihre Reste dann hierher überführen, und bei der Gelegenheit auch die von Cobo, auf die Weise könnten wir sie zusammen an der Stelle begraben, die mein Vater sich immer gewünscht hatte. Eva hat gesagt, ihr ist es egal, nach dem Tod sei sowieso alles gleich. Benji, Lucas und meine anderen Kinder waren für Verbrennen, also hatte Toño niemanden, der seinen Vorschlag unterstützt hat, und er musste sich der Mehrheit fügen.
Die Reste meiner Mutter liegen jetzt unter der Zeder, die man von der Rückseite des Hauses aus sehen kann, in Richtung Río Cartama, auf der kleinen Freifläche mit der Bank. Dort ist es ganz besonders grün, weil ringsum alles mit Erdnussgras bewachsen ist. Próspero hat es nicht gefallen, dass wir die Stelle als »Grab« bezeichnen, er hat ihr, taktvoll, wie er ist, den Namen »Ruhestätte« gegeben, und seitdem heißt sie auch für uns so. Von hier aus hat man für meinen Geschmack die schönste Aussicht der ganzen Finca, man sieht nicht nach Westen, zum See, in dem schon so viele Menschen ertrunken sind, sondern in Richtung Sonnenaufgang, in die weite offene Landschaft und in das fruchtbare Cauca-Tal hinab, das jetzt anderen Leuten gehört, alteingesessenen Großgrundbesitzern oder Mafiosi vom alten Schlag, auch wenn es mal uns gehört hat, den früheren Ángels, vor vielen, vielen Jahren.
Antonio
Nach dem Tod meiner Mutter wollte ich ein paar Tage auf der Finca bleiben, in den Bergen versteckt, und meine alten Aufzeichnungen über die Gründung von Jericó, meine Familie, La Oculta und die Gegend hier, im Südwesten der Provinz Antioquia, durchsehen. Ihr Tod brachte mich dazu, mich endgültig an die Ausarbeitung der Geschichte des Ortes und der Finca zu machen. Sich erinnern bedeutet ja gewissermaßen, die Gespenster in die Arme zu schließen, die unser jetziges Leben möglich gemacht haben. Es ist so viel passiert in dieser Gegend, diesem großen weiß-roten Haus inmitten von Wasser und sattem Grün. Einem Grün in allen möglichen Tönungen, verteilt über riesige grüne Berge, und dazu das dunkle Wasser des Sees, in dem sich nicht der blau-weiße Himmel darüber widerspiegelt, sondern die schwarz-grünen Felsspitzen, die höher als der Himmel scheinen und in Richtung Jericó ansteigen, also in Richtung des Dorfs, wo mein Vater und meine Großeltern und Urgroßeltern geboren sind, die Besitzer dieser Finca, die sie urbar gemacht haben, in dem sie Bäume gefällt, Steine bewegt und den Wald niedergebrannt haben, das Einzige, was es seit dem Anfang der Welt hier gegeben hatte.
Morgens laufe ich immer gleich nach dem Aufstehen barfuß über die Wiese vor dem Haus und spüre den Tau an den Zehen. Ich atme tief durch und würde am liebsten beten, wie als junger Mann und als Kind, aber ich weiß nicht mehr, zu wem ich beten soll. Im Stillen sage ich irgendetwas, was einem Gebet an die Vorfahren gleichkommt, obwohl ich auch nicht mehr so wie früher daran glaube, dass der Geist den Tod überlebt. Ein Gebet an die Natur und das Schicksal, das uns diese Finca gegeben hat. Um diese Uhrzeit steigt der Nebel vom Fluss auf, und ich warte, bis er hier ankommt. Langsam nähert er sich in dicken Schwaden und legt sich auf das Haus. Próspero spricht immer von »Frau Schnitterin«, warum weiß ich auch nicht, vielleicht weil der Nebel wie eine Machete übers Gras streicht, als wollte er es mähen. Der Nebel hüllt mich ein, liebkost mich, für einen Augenblick ist die Welt verschwunden, so wie der See und die Berge, ich komme mir vor wie im Inneren eines Glases voll Wasser und Anisschnaps, weiß wie Milch, bis der Nebel schließlich weiterzieht, höher steigt, den waldigen Abhang kitzelt. Dann färbt die Welt sich im Osten rosa oder orangefarben, und der Fluss ist wieder zu sehen, im Winter breit und gelb, im Sommer schmaler und dunkel, tief unten im Tal fließt er dahin, unterwegs zum Río Cauca, und auch die beiden Bergkegel werden wieder sichtbar, »die Brüste von Doña Quiteria«, wie Großvater Josué sie nannte. Mit dem Sonnenlicht kehren die Farben der Vögel und Blumen zurück: die weißen und dunkelvioletten Orchideen, die von den Bäumen hängen, die Orangetöne der Königsstrelitzien, die violetten oder rosa Balsaminen, die rot-schwarzen Flamingoblumen, all die Wunder, die Pilar angepflanzt hat. Manchmal bleibt ein Blättchen an meiner Fußsohle kleben oder ich zerdrücke mit der Ferse einen Erdklumpen, und dann weiß ich, dass der Tau und das kleine Blatt und das Stück schwarze Erde, dass all das ich bin. Ich kenne hier jeden Schmetterling, jede Vogelstimme, alle siebenundneunzig Teakbäume am Zufahrtsweg zum Haus, sämtliche Geräusche – das Rauschen des Bachs, die Zikaden, die Rotschwanzguane, Spottdrosseln und Sperber, die Spechte, die an vertrockneten Trompetenbäumen picken, die Aras, die in toten Königspalmen ihr Nest bauen –, Geräusche, die ich in ihrer Gesamtheit als vollkommene Stille erlebe.
Ich spüre, dass ich ein Teil dieser Finca bin, dieser alten Finca meiner Vorfahren, derjenigen, die ich gekannt habe, wie auch derjenigen, die ich nicht gekannt habe. Ich kann als Einziger aus der Familie die lange Liste ihrer Namen aufsagen, weil mich die mottenzerfressenen Bücher, Taufurkunden und Sterberegister interessieren. Anders als meine Schwestern, die mehr meiner Mutter gleichen und praktischer und zupackender sind als ich, realistischer, stärker in der Gegenwart verankert. In meiner Kommode auf der Finca ist eine Schublade voller Papiere, die ich seit Jahren zusammengetragen oder selbst beschrieben habe. Immer wenn ich dort bin, hole ich die Blätter hervor und verbessere etwas oder ergänze Dinge, die ich gelesen oder im Dorf erzählt bekommen habe. Geschichten, Gerüchte, Halbwahrheiten, Vermutungen, Tatsachen, Gedankenspiele und Träumereien. Es gefällt mir, mich mit diesen Aufzeichnungen zu beschäftigen, sie immer wieder durchzugehen wie jemand, der Münzen oder Karten oder Briefmarken sammelt. Ich streiche liebevoll mit der Hand über die Seiten, schreibe sie ins Reine, überarbeite sie, denke darüber nach. Schon seit Jahren habe ich vor, etwas über die Finca zu verfassen, damit meine Nichten und Neffen und ihre Kinder später Bescheid wissen und sich daran erinnern, wie das alles zustande gekommen ist. Das Folgende zum Beispiel bezieht sich auf die ältesten Tatsachen, die mir über unsere Familie bekannt sind, und eben hiermit möchte ich irgendwann meine Geschichte der Finca beginnen lassen:
Ich weiß nicht, ob wir Juden waren, allzu rein war unser Blut aber offenbar nicht, hatten wir doch nicht bloß jüdische Vornamen, sondern dazu typische Nachnamen von Konvertiten, weshalb es bei uns zu Hause auch immer hieß – worüber man weder Scham noch Stolz empfand –, wir seien möglicherweise Marranen, also Leute, die bloß äußerlich ein christliches Leben führen, insgeheim jedoch anderen Überzeugungen anhängen. Der Erste aus unserer Familie, der nach Kolumbien kam – das damals noch Neugranada hieß –, war ein junger Spanier aus Toledo, Amtsschreiber von Beruf. Sein Name lautete Abraham Santángel. Wir wissen nur wenig über ihn, unter anderem, dass er bei der Ankunft in Cartagena de las Indias gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt war und von dort auf dem Río Magdalena wie auch auf Königswegen, die in Richtung Río Cauca strebten, nach Antioquia gelangte, wo er gegen 1786 eintraf, als die Kolonie bereits im Sterben lag. Irgendwann in der Zeit der Unabhängigkeitskriege diktierte er dann in Santa Fe de Antioquia sein Testament.
Warum es Abraham in diesen abgelegenen Landstrich zog, wo es vielfach so steil und schroff bergauf oder bergab geht, dass selbst die Katzen Mühe haben, sich auf ihren vier Pfoten zu halten, weiß kein Mensch. Sicher scheint bloß, dass ihm die Zukunft in Spanien wenig Gutes verheißen hat. Er muss gehofft haben, hier, auf dieser Seite des Atlantiks, werde das Schicksal ihm womöglich die eine oder andere freudige Überraschung bescheren, fruchtbare, wasserreiche Böden etwa und die