La Oculta. Héctor Abad

La Oculta - Héctor Abad


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und Schluchten erkundeten, so dass ich allmählich wieder Mut fasste. Als ich nach so langer Zeit schließlich Próspero gegenüberstand, dem Verwalter, der zwar älter, aber so gut wie unverändert war – einen oder zwei Zähne hatte er verloren, davon abgesehen war er so herzlich und gleichzeitig zurückhaltend wie immer –, konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken und schloss ihn lange in die Arme. Ein bisschen war es, als würde ich einem Gespenst begegnen, einem Menschen, der vor Jahren gestorben und auf einmal wieder auferstanden war.

      Wieder im See schwimmen konnte ich erst, nachdem ich mehrere Tage lang misstrauisch seine Oberfläche beäugt und mich gefragt hatte, ob ich tatsächlich erneut in dieses düster-unheilvolle Wasser steigen wolle. Nichts kostete mich auch nur annähernd so viel Überwindung, und als ich mich schließlich dazu durchrang, hatte ich das Gefühl, eine schwere Phobie zu überwinden, es war, als müsste ich mit bloßen Fingern einen großen schwarzen Schmetterling aus meinem Zimmer tragen oder eine Giftschlange packen und fortschleudern. Irgendwann habe ich auch wieder ein Pferd bestiegen. Aber beide Male zitterte ich am ganzen Leib und musste gegen die Erinnerungen ankämpfen, die über mich hereinbrachen. Als ich auf dem Pferd saß, spürte ich ein heftiges Stechen im Po, so schmerzhaft war der Gedanke an das, was geschehen war. Völlig abgestreift habe ich diese Erlebnisse bis heute nicht, ich muss immer noch Tabletten nehmen, Schmerz- und Schlaftabletten, und daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Früher bin ich regelmäßig mit meinem Freund Caicedo um die Wette geschwommen – er hatte 1956 an der Olympiade in Melbourne teilgenommen –, fünf- oder sechsmal von einem Ufer zum anderen, ich war richtig gut, auch wenn ich mit Toño wandern gegangen oder mit meinem Sohn ausgeritten bin, und ich habe es genossen, mit meiner Mutter und Pilar zusammen zu sitzen und zu nähen und alte Geschichten zu erzählen. Dabei haben wir jedes Mal viel gelacht und großen Spaß gehabt, und das gab uns das Gefühl, dass sich all das Leid trotzdem gelohnt hatte. Etwas erzählen ist eben einfach, aber es durchmachen müssen … ist ganz was anderes.

      Ich erinnere mich daran, als wäre es heute passiert, dabei ist es schon über fünfzehn Jahre her. Pilar lebte damals noch nicht auf der Finca, sie hatte aber gesagt, ich könne unbesorgt dorthin fahren; seit die Paramilitärs die Guerrilla vertrieben hätten, gebe es keine Raubüberfälle und Entführungen mehr, alles sei wieder in Ordnung. Also habe ich mich, ganz allein, auf den Weg gemacht, ich wollte eine Woche bleiben und mich einfach nur ausruhen und an nichts denken. Es war Ende Mai, das Wetter war wunderbar. Ich war Anfang vierzig und immer noch eine schöne Frau, zumindest haben alle anderen das gesagt. Ich hatte mich gerade von meinem Freund getrennt, er war einer von den Idioten, mit denen ich mir manchmal die Zeit vertreibe. Später tut es mir jedes Mal leid, und ich ärgere mich, dass ich schon wieder so viel Zeit für eine sinnlose Hoffnung vergeudet habe.

      Zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft bekam ich einen seltsamen Brief. Próspero, der sich schon seit Ewigkeiten als Verwalter um La Oculta kümmert, brachte ihn mir und sagte dazu, ein Kind aus dem Dorf habe ihn abgegeben. Auf dem einmal gefalteten Stück Papier, ohne Umschlag, stand einfach nur »Eva Angel« – sonst nichts, weder eine Anrede noch Adresse –, und als ich den Zettel auseinanderfaltete – genau genommen handelte es sich um eine Seite, die jemand aus einem Rechenheft gerissen hatte –, hatte ich folgenden in Druckbuchstaben geschriebenen Text vor mir:

      DOÑA PILAR HAM WIRS SCHON GESAKT

      ENTWEDER SIE VERKAUFEN DIE FINCA

      ODER SIE VERKAUFEN SIE. DIESE GEGENT IS NIX

      FÜR ALTE DRECKSWEIBER WO ALLEIN LEBM. ENTWEDER

      SIE VERKAUFEN ODER IHRE WAISENKINDER TUNS.

      HEUT NACHMITTAG UM DREI WARTEN WIR AUF SIE

      IM PARCK IN PALERMO. PÜNKTLICH.

      BRINGEN SIE DIE PAPIERE MIT

      DANN FANGEN WIR GLEICH MIT DEN FERHANDLUNGEN AN.

      DRITTE UND LETZTE WARNUNG.

      EL MUSICO

      WENN SIE NICH KOMMEN SIND SIE

      FÜR DIE FOLGEN SELPS FERANTWORTLICH.

      Próspero erklärte, einmal hätten sie ihn am Eingang der Kirche von Palermo abgepasst, um ihm zu sagen, er solle Pilar mitteilen, sie würden in Dollar bezahlen, und das in zwölf Monatsraten. Obwohl der von ihnen festgelegte Preis viel höher war als der Verkehrswert von La Oculta, wussten wir, dass diese Leute jedes Mal nur die erste Rate bezahlten, um anschließend, kaum war der Kaufvertrag unterschrieben, die gesamte Finca in Besitz zu nehmen, überall auf der Suche nach Gold mit Baggern die Erde zu durchwühlen und Koka- oder Mohnplantagen anzulegen. Und falls jemand wagte, auf Einhaltung des Vertrages zu bestehen, ließen sie ihn einfach verschwinden und brachten ihn um. El Músico oder einen seiner Leute hatte ich bislang nicht persönlich kennengelernt, aber sie waren in der ganzen Gegend berüchtigt.

      Damals gab es zwar schon Mobiltelefone – riesige, tonnenschwere Apparate –, aber man konnte sie nur in der Stadt benutzen. Auf der Finca hatte man keinen Empfang, und ein Festnetzanschluss war dort nie eingerichtet worden. Also benutzte ich ein Funksprechgerät, um mich mit Pilar in Verbindung zu setzen, dabei konnte ich allerdings nicht völlig frei und offen sprechen, denn Anrufe per Funk konnten auf allen benachbarten Fincas und auch in dem nahegelegenen Ort Palermo mitgehört werden. Es gab einen Privatkanal, bei dem nicht ganz so viele Leute mithörten, aber wirklich sicher konnte man sich auch dort nicht sein. Ich teilte Pilar also einigermaßen verklausuliert mit, was los war, und sie verstand, zumindest halbwegs, worum es ging. Sie antwortete, ich solle mir deswegen keinen Kopf machen, diese Typen seien Spinner, aber auch Feiglinge, sie werde den Metzger in Palermo anrufen, der die Kontaktperson sei, und die Sache klären, in jedem Fall habe sie die Kerle aber bereits wissen lassen, dass wir nicht im Traum daran dächten, La Oculta zu verkaufen, und wenn sie uns in diesem Augenblick hören könnten, dann sollten sie das ruhig, umso besser. So ist eben Pilar, immer kampflustig, nicht so ängstlich wie ich. Wirklich beruhigt war ich danach allerdings nicht, ich blieb jedoch auf der Finca, statt sofort abzureisen, was ich eigentlich hätte tun sollen. Ich war so gerne dort, in La Oculta konnte ich nach Herzenslust lesen und Yoga machen und Salat und Gemüse essen, die Blumen im Garten bestimmen, der unter Pilars Pflege schöner gediehen war denn je, im See schwimmen, zu Pferd die Umgebung erkunden, entweder bergauf, ins Hochland, Richtung La Mama, wo es kalt war, oder bergab, runter zum Río Cartama, ins warme Tiefland. Außerdem hatte ich damals in La Oculta noch das Gefühl, an einem Ort zu sein, wo mir nichts passieren kann – ringsherum lauerte die Wildnis mit ihren Bedrohungen und Gefahren, aber auf der Finca selbst fühlte ich mich sicher und geschützt wie im Inneren einer uneinnehmbaren Festung, wie auf einem Schloss mit Zugbrücke, wobei der See, wie in einem Märchen, die Rolle des Festungsgrabens übernahm, in dem sich Krokodile tummelten, obgleich es sich in Wahrheit bloß um Leguane, Karpfen und Schildkröten handelte.

      Auch wenn ich La Oculta später nie wieder so geliebt habe wie zuvor und obwohl ich jetzt tatsächlich entschlossen bin, die Finca zu verkaufen, muss ich zugeben, dass von allen Landschaften der Welt, die ich bislang kennengelernt habe, keine mich so berührt hat wie die rings um die Finca. Wo auch immer ich unterwegs bin, ich trage sie stets in mir. Vielleicht gibt es schönere Landschaften, anmutigere, weniger dramatische, aber das ist nun mal diejenige, die sich mir eingeprägt hat. Die Landschaft, bei deren Anblick sich, sobald wir auf der Finca eintrafen, das Gesicht meines Vaters unweigerlich aufhellte. Als ich hier einmal neben ihm in der Hängematte saß und den See und die Berge betrachtete, stellte ich fest, dass dieser Platz an diesem Nachmittag und bei diesem Licht und in dieser Gesellschaft tatsächlich der schönste Ort auf der ganzen Welt war. Und so ist es mir dort später noch öfters ergangen, in leuchtenden Augenblicken, die nur der Begeisterung zu vergleichen sind, die man beim Betrachten mancher Bilder oder beim Hören einer bestimmten Musik erleben kann, zum Beispiel wenn Antonio, begleitet von einer Orchesteraufnahme, uns Teile eines Violinkonzerts vorträgt oder wenn ich mit meinem Freund Santiago Opernarien anhörte, mit Santiago, dem Witwer, wie sie ihn bei uns zu Hause nannten, also mit dem Lebensgefährten, von dem ich mich kurz vor Mamas Tod getrennt habe.

      Auch als ich bereits mehrere Jahre nicht mehr auf der Finca gewesen war, brauchte ich nur die Augen zu schließen, um sie, eingebettet in die sie umgebende Landschaft, vor mir zu sehen. Heute noch träume ich mehrmals im


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