La Oculta. Héctor Abad

La Oculta - Héctor Abad


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und das sie mit meinem Vater geteilt hatte. Davor war es das Bett von Großvater Josué und Großmutter Miriam gewesen. Im Zimmer war alles so, wie es meine Mutter eingerichtet hatte. Seit Cobos Tod hatte sie keinerlei Veränderungen zugelassen. Im Schrank hing immer noch rechts ihre Kleidung und links seine – die weißen Hemden, der typische Antioquia-Hut aus Palmfaser, die Reitstiefel, die Badeschuhe, mit denen er zum Wasserfall in der Schlucht ging, die Bermuda-Shorts, Schlafanzüge und Strümpfe. Lauter alte Sachen, wie man sie auf dem Land trägt, und so abgenutzt, dass man sie nicht an die Bauern hätte weitergeben können. Ein altes Bild von den Eltern meines Vaters im Alter von etwa vierzig Jahren. Und Familienfotos: die Erstkommunion der Kinder, die Hochzeit sowie Schnappschüsse aus der Zeit, als sie in Bogotá gewohnt hatten. Außerdem, in einem Rahmen über dem Bett, das nicht ganz formvollendete Sonett, das mein Vater über La Oculta gedichtet und mit dem Namen der Finca überschrieben hat:

      Hart das Bett, schlecht die Matratzen,

      gleichwohl liegen, wenn es dunkel,

      stocksteif ohne jegliches Gemunkel

      unsere Gäste da und ratzen.

      Morgens tun die Hüften weh,

      doch der Schmerz ist bald vorbei:

      Doña Bertas Frühstücks-Ei

      Übertrifft selbst Priesters Glorie.

      Alsdann heißt die süße Pflicht,

      Lesend in der Hängematte ruhen,

      mittags Yuca gibt’s dafür, mit Huhn.

      Drauf um drei ein Bad im Felsenbache,

      und zum Abend leckre Bohnen. Aus das Licht –

      Auftakt für der Nachbarin Geschnarche.

      Cobo und Anita schnarchten zu Lebzeiten wie in einem schlecht gesetzten Kontrapunkt, was ich jedoch nie wieder zu hören bekommen würde. Ein Schnarchkonzert ist eine laute und unangenehme Angelegenheit, und alle Schnarcher – ich gehöre zu ihnen – müssen den Spott ihrer Mitmenschen ertragen, auch weil Schnarchen eins der Dinge ist, an denen man erkennt, dass ein Mensch alt wird. Andererseits zeigt es wenigstens, dass man noch atmet, und ich empfand in diesem Augenblick nicht nur Trauer darüber, dass mein Vater schon seit Jahren nicht mehr schnarchte, sondern auch darüber, dass der Schlaf meiner Mutter, obwohl sie, Pilars geschickten Händen sei Dank, nicht ganz so tot wirkte, ein Schlaf ohne Atem und folglich ohne Schnarchen war. Ich sehnte mich nach ihrem Schnarchen, wie ich mich nach ihrem Atem sehnte. Eva sagte zu Pilar, ab sofort wolle sie über das Zimmer unserer Eltern bestimmen, weshalb Pilar dort bitte nichts anrühren und nichts verändern solle. Sie solle weder die alte Kleidung wegwerfen, noch die Fotos austauschen, noch die Bücher forträumen, noch die Decken oder die Matratze erneuern, noch eine andere Lampe und ein anderes Nachttischchen anschaffen, noch im Bad neue Fliesen verlegen, noch die Schränke entleeren und auch nicht Papas Gedicht abhängen. Pilar sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, kaum etwas verachtet sie nämlich so sehr wie sentimentales Festhalten an altem Plunder und ausgedientem Zeug. Wenn sie, was selten vorkam, mit meiner Mutter über etwas stritt, dann hierüber: »Wann gibst du Próspero endlich Papas Hemden, Mami?«, sagte sie jedes Mal, wenn meine Mutter auf die Finca kam. Worauf Anita mit ihrer sanften, aber festen Stimme erwiderte: »Lass gut sein, Pilar, ich möchte es nun einmal so. Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, kannst du damit machen, was du willst.« Pilar durfte über alles bestimmen, was die Finca betraf, nur was Cobos und Anitas Zimmer anging, hatte sie nichts zu sagen. Eben deshalb wollte Eva, dass dieses Zimmer ihr zufiel und ihr privates Königreich wurde, der einzige Ort in La Oculta, an dem jemand anders als Pilar die Entscheidungen traf.

      Eva

      Nachdem ich mehrere Jahre nicht auf La Oculta gewesen war, bin ich schließlich, nur um meiner Mutter eine Freude zu machen, doch wieder hingefahren, das aber auch nur, weil sie beschlossen hatte, eine Familientradition wieder aufleben zu lassen, und zwar, gemeinsam auf der Finca Weihnachten zu feiern. In Wirklichkeit hatten wir alle mehrere Jahre lang nicht auf die Finca fahren können – zuerst wegen der Guerrilla, die dort regelmäßig Leute ausraubte, entführte und umbrachte, dann wegen der Paramilitärs, die dort regelmäßig Leute erpressten, ausraubten und umbrachten. Als wieder halbwegs normale Verhältnisse einzogen – als der Staat wieder mehr oder weniger der Einzige war, der Menschen töten durfte –, kehrte als Erste Pilar auf die Finca zurück, und schon bald begann sie fieberhaft, das Haus instand zu setzen, das, was niedergebrannt war, neu zu errichten, und alles wieder in seinen früheren, ja sogar in einen besseren Zustand zu bringen. Bis sie sich zuletzt entschloss, ganz dorthin zu ziehen, natürlich mit Alberto, der gerade pensioniert worden war, woraufhin meine Mutter uns hartnäckig damit in den Ohren lag, dass wir alle zusammen die Weihnachtsferien auf La Oculta verbringen sollten. Am liebsten auch noch die Osterferien, wie sie nicht müde wurde zu betonen, aber wenn das nicht möglich war, dann wenigstens die Weihnachtsferien. Mama hatte eine Theorie, an die sie sich zeitlebens hielt: Die Alten müssen sich ihre Gesellschaft erkaufen. Einmal hörte ich, wie sie das Tante Mona, ihrer Schwester, am Telefon erklärte:

      »Sieh mal, Mona, ich weiß, dass wir Alten dafür bezahlen müssen, wenn wir nicht allein sein wollen, und trotzdem, besser können wir unser Geld gar nicht ausgeben. Eben deshalb können wir unseren Kindern ihr Erbe aber nicht auf einen Schlag auszahlen, solange wir noch am Leben sind, das geht bloß in kleinen Partien, sonst riskieren wir, einsam und verlassen im Armenhaus zu enden.«

      Meine Mutter lud also immer alle ein, und deshalb kam im Dezember auch jedes Mal Toño aus New York, mit oder ohne Jon, und außerdem fast immer zu Ostern, und manchmal, wenn er genug von seinem Leben in Harlem hatte und Mama überraschen wollte, sogar ganz ohne Vorankündigung mitten im Jahr. Wenn wir nicht mindestens zwei oder drei Mal im Jahr zusammenkommen, sagte meine Mutter, verlieren wir den Zusammenhalt und hören auf uns zu lieben und sind irgendwann keine Familie mehr. Damit wir gar nicht erst mit irgendwelchen Ausreden anfingen, erledigte sie selbst alle nötigen Einkäufe und übernahm die anfallenden Kosten für ihre Kinder und Enkelkinder – für das Essen, den Wein und die Dienstmädchen. Schon im Juni begann sie mit den Vorbereitungen für die von ihr so genannte »Saison« und ließ kein Sonderangebot ungenutzt, um an Weihnachten alles beisammen zu haben – Palmherzen, Artischocken oder Erbsen in der Dose und was es sonst noch an gut haltbaren Lebensmitteln gibt, dazu Seife und Toilettenpapier. »Aber keinen Alkohol«, sagte sie, »wer Rum, Bier, Whisky oder Schnaps trinken möchte, muss sich das selbst besorgen.« Die einzige Ausnahme war Wein, wenn er irgendwo günstig angeboten wurde. Anfang Dezember kaufte sie dann auch die nicht ganz so gut haltbaren Sachen, und Mitte des Monats brachte sie schließlich einen kleinen Lastwagen auf den Weg, auf dem zusätzlich, bereits fertig verpackt, die Weihnachtsgeschenke für die Kinder, Enkel, Arbeiter und Hausmädchen verstaut wurden.

      Mit ihrem Tod fiel der beständigste Teil meines Lebens weg, das spürte ich deutlich. Und alles, was weniger Bestand hatte, auch La Oculta, verlor für mich jeden Sinn. In den Weihnachtsferien wäre ich immer schon viel lieber anderswohin verreist, gerne weit weg, nach Patagonien, zum Beispiel, oder nach Mexiko oder Guatemala, aber zuletzt verzichtete ich jedes Mal darauf, um meiner Mutter nicht die Freude zu nehmen, die gesamte Familie um sich herum zu versammeln. Aber jetzt, wo sie nicht mehr da ist, habe ich nicht vor, noch einmal auf die Finca zurückzukehren, zumindest nicht an Weihnachten.

      Ich habe immer mit meiner Mutter in der Bäckerei gearbeitet, noch näher hätte ich ihr also unmöglich sein können – wir verbrachten den ganzen Tag zusammen. Sich ihrem Willen zu widersetzen, und dazu dem von Pilar, und die Ferien einmal nicht mit der Familie zu verbringen, war jedoch ebenso ein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits, so schlimm empfand ich diese Verpflichtung gar nicht, schließlich habe ich selbst die Finca sehr geliebt. Damit vorbei war es erst, als ich dort einmal fast umgebracht worden wäre. Als ich danach zum ersten Mal wieder auf die Finca kam – zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest –, zitterte ich vor Angst, als ich das Haus betrat und die Dielen unter meinen Füßen knarrten. Aber Benjamín war dabei und legte mir zur Beruhigung den Arm um die Schulter, und Pilar und Alberto waren auch da – sie lebten inzwischen auf der Finca –, und mein Bruder auch – er war aus New York gekommen –, und natürlich meine Mutter, die wie immer quicklebendig und völlig klar im Kopf


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