La Oculta. Héctor Abad

La Oculta - Héctor Abad


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zu schlagen und unter neuen Himmeln sein Glück zu versuchen, Abraham Santángel besaß darüber hinaus jedoch den Mut, diesen Traum in die Tat umzusetzen, und nahm dafür eine gefährliche Reise ins Ungewisse auf sich.

      Allzu freigebig scheint sich das Schicksal ihm gegenüber jedoch nicht erwiesen zu haben, zumindest dem Erbe nach zu urteilen, über das er in seinem Testament verfügte. Darin heißt es, dass das Wenige, was es zu verteilen gebe – die Liste ist kurz und übersichtlich und besteht aus einer Stute, einem Pferdegeschirr, etwas Kleidung und einigen Möbeln: einer Truhe, einem Kerzenleuchter, einem Bett aus Lorbeerholz und einem Tisch samt neun Hockern –, seinen Kindern zufalle, die er bitte, es aufzuteilen, so gut sie könnten und ohne in Streit zu geraten, woraufhin er sie dem Alter nach aufzählt: Susana, Eva, Esteban, Jaime, Ismael, Esther und Benjamín, allesamt hervorgegangen aus seiner rechtmäßigen Verbindung mit Betsabé Correa, geboren in Yolombó. Wer Betsabés Eltern waren, erwähnt er nicht, sie könnte folglich eine Schwarze, Indiofrau, Mestizin oder auch Kreolin gewesen sein, abgesehen davon, dass sie, aufgrund ihres Vornamens, durchaus einer Familie von Konvertiten hätte entstammen können, wenngleich es am wahrscheinlichsten ist, dass sie ursprünglich der einheimischen Bevölkerung angehörte oder eine Mulattin war. Wie dem auch sei, seinen Kindern legt Abraham nachdrücklich ans Herz, bis ans Ende von Betsabés Tagen für diese zu sorgen und sie zu achten, falls sie nicht wollten, dass sie sein Fluch aus dem Jenseits treffe. Am Ende fügt er wie beiläufig hinzu, er schreibe dieses Testament, weil seine Gesundheit ihm Sorgen bereite, und nachdem er keine Mittel besitze, um seine Familie zu unterhalten, und ihnen außer den erwähnten Kleinigkeiten nichts zu vererben habe, weise er seine Söhne hiermit an, falls sie nicht als Taugenichtse enden wollten, hart zu arbeiten und sich der eigenen Hände zu bedienen. Den Frauen wiederum erteilt er den Rat, sich früh und gut zu verheiraten, und das mit friedliebenden und rechtschaffenen Männern. Söhne wie Töchter wiederum fordert er auf, Sorge zu tragen, dass sie ein ehrenhaftes Leben führen, ohne den Nachnamen Ángel zu beschmutzen – Ángel, wie er hier am Ende schreibt, und nicht Santángel –, dessen Ursprung, wie sie sehr wohl wüssten – und das ist der rätselhafteste Teil des Dokuments –, dessen Ursprung also »niemals Anlass zu Scham oder Schande geben darf«. Abschließend gibt er ihnen noch einen Ratschlag, der zu einer Art Wahlspruch der Familie werden sollte: »Vergesst nie, dass ihr nicht mehr, aber auch nicht weniger als die anderen seid. Versucht als Gleiche unter Gleichen zu leben, arbeitet und befehlt niemandem, aber lasst euch auch von niemandem befehlen.«

      Dass wir dieser Empfehlung bis heute folgen, ist der Grund dafür, dass man uns liebt oder hasst. Statt zu befehlen, erklären wir lieber oder bitten um etwas, und statt zu gehorchen, überlegen wir, ob das, was man von uns fordert, vernünftig und durchführbar ist und zu Recht gefordert wird. Lieber erledigen wir die Dinge mit eigenen Händen, und falls wir doch einmal Hilfe benötigen, sind wir trotzdem die Ersten, die sich an die Arbeit machen. Und für andere setzen wir uns immer dann ein, wenn diese sich ebenfalls an der Arbeit beteiligen und nicht bloß danebenstehen und Befehle erteilen, als wären sie etwas Besseres. So etwas ertragen wir nicht.

      Wir, die Ángels aus Jericó, stammen vom fünften Sprössling Abrahams ab, also von Ismael, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts in El Retiro niederließ. Womit genau er sich dort beschäftigte, wissen wir nicht, ganz schlecht kann es ihm jedoch nicht ergangen sein, denn er hinterließ Esteban, seinem Ältesten, eine Saline. Isaías wiederum, Ismaels Zweitgeborener, wanderte 1861 in den Südwesten aus, als Jericó noch nicht Jericó hieß, sondern in einigen Dokumenten Aldea de Piedras und in anderen Felicina, und dort nahm all dies seinen Anfang, denn mit Isaías beginnt auch die Geschichte von La Oculta.

      La Oculta war einst ein Stück Urwald, dann eine Kaffeeplantage und ein Gut, auf dem Viehwirtschaft betrieben wurde, heute ist es ein Haus mit ein wenig eigenem Land drum herum. Die Grenzen waren durch Bäume und Bäche, Zäune und Gräben markiert, deren genauen Verlauf heute niemand mehr kennt. Ich, Antonio, vielleicht der Letzte der Familie, der den Nachnamen Ángel trägt, möchte für meine Schwestern Pilar und Eva und, da ich keine eigenen Kinder habe, für meine Neffen und Nichten die Geschichte dieser Finca erzählen, an die wir uns klammern, als wäre sie das letzte Brett, das uns Schiffbrüchigen beim Untergang der Welt bleibt.

      Dies also ist der erste Entwurf für den Anfang meines kleinen Buches. Manchmal kommt er mir jedoch zu ausführlich vor, weshalb ich eine kürzere, knappere Variante verfasst habe – in jedem Fall war ich mir nicht ganz sicher, wie ich den Beginn dieser Geschichte gestalten soll, die für mich mit dem Beginn der Geschichte des Dorfes zusammenfällt, welche sich ohne Rückgriff auf die Geschichte meiner Familie zumindest seit dem Eintreffen Abrahams in der Neuen Welt aber nicht erzählen lässt:

      Der Erste aus unserer Familie verließ eines Tages Toledo und fuhr übers Meer, um in ein Land zu gelangen, wo das Leben weniger hart und weniger karg wäre, ein Land, in dem sein Name, Abraham Santángel, ihm nicht zum Nachteil gereichen sollte, und dort kam mehrere Jahre nach seiner Ankunft in Antioquia aus dem Bauch seiner Frau Betsabé Ismael zur Welt, sein fünftes Kind. Ismael zeugte mit Sara Isaías, der mit seiner Ehefrau Raquel Elías zeugte, welcher mit seiner Ehefrau Isabel einen Sohn mit Namen José Antonio bekam, der mit Mercedes Josué zeugte, welcher Miriam heiratete, die meinen Vater Jacobo zur Welt brachte, der mit meiner Mutter Ana meine beiden Schwestern Pilar und Eva und mich zeugte.

      So weit die Abstammungslinie unseres Familiennamens Ángel, der zuvor Santángel lautete und zweifellos mit mir, der ich Antonio heiße, aussterben wird. Wem Gott keine Kinder schenkt, dem schenkt der Teufel Neffen und Nichten, heißt es. Und das stimmt, denn ich habe zwei Neffen mit Namen Gil und Bernal, doch den Namen Ángel tragen sie nur an zweiter Stelle. Was mir egal sein sollte, aber es ist mir nicht egal, auch wenn es fast das Einzige ist, was mir an meinen Neffen nicht gefällt. Es wird andere Ángels geben, aber von anderen Zweigen der Familie, weshalb es für mich so ist, als verschwände unser Name mit mir von dieser Welt. Dass ich so viel über meine Vorfahren spreche und mich ständig mit meinen Ursprüngen beschäftige, und das im Wissen, dass ich niemandes Vorfahr oder Ursprung sein werde, ist traurig. Und doch ist es so. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil es für mich schwierig wäre, welche zu bekommen, da mir Männer gefallen und keine Frauen, und darüber hinaus, weil Jon von der Möglichkeit, Kinder zu adoptieren, nicht viel hält, und ich selbst, glaube ich, auch nicht. Die Namen meiner Vorfahren habe ich aus den Geburts-, Tauf- und Sterberegistern von Jericó zusammengetragen, unserem Dorf in Antioquia, und mithilfe anderer notarieller Aufzeichnungen konnte ich nachweisen, dass der erwähnte Isaías, unser erster Vorfahr in Jericó, der in El Retiro als Sohn von Ismael Ángel und Sara Cano und als Enkel von Abraham Santángel und Betsabé Correa, beide nicht unbedingt seit Urzeiten Christen, zur Welt gekommen war, dass dieser Isaías Ángel also am 2. Dezember 1886 die Urkunden unterzeichnete und registrieren ließ, in denen die Finca La Oculta zum Eigentum unserer Familie erklärt wird.

      Pilar

      Toño interessiert sich für die alten Geschichten, die Herkunft der Familie, die Vorfahren, die Nachnamen. Mir liegt nicht das Geringste daran. Was mich betrifft, Pilar Ángel de Gil, reichen meine Erinnerungen gerade mal bis zu Großvater Josué und Großmutter Miriam. Josué Ángel und Miriam Mesa, und das war’s auch schon. Na gut, meinetwegen bis zu meiner Urgroßmutter, Merceditas, mit Nachnamen Mejía, oder Ditas – Mamá Ditas haben wir immer gesagt, oder vielmehr Mamaditas. An Mamaditas erinnere ich mich aber nur von ein paar Besuchen in dem großen Haus in Jericó, und weil ich ein gutes Gedächtnis habe, nicht so wie Toño, der sich an nichts erinnern kann und deshalb alles erfindet. Was er hört, glaubt er, und was er glaubt, schreibt er auf, und was er aufschreibt, darüber fängt er an nachzudenken, und dann erfindet er alles, was er nicht weiß, und glaubt es gleichzeitig – so ist Toño. Er ist so naiv und leichtgläubig wie die dümmsten Dorftrottel, und nirgendwo gibt es so viele Dorftrottel wie in Jericó, denn am Anfang waren alle, die dort gewohnt haben, Vettern oder Kusinen, und sie haben untereinander geheiratet. Das Einzige, was noch nicht vorgekommen ist, ist jemand mit einem Schweineschwanz, aber von allem Übrigen haben wir mehr als genug – Asthma, Epilepsie, Schizophrenie, Kurzsichtigkeit, Arthritis, Bluterkrankheit, was Sie wollen.

      Wirklich, von den Großeltern aufwärts interessieren mich meine Vorfahren kein bisschen. Großvater Josué und Großmutter Miriam dagegen spielen


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