La Oculta. Héctor Abad

La Oculta - Héctor Abad


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pochendem Herzen das Licht und starrte in die Dunkelheit, dorthin, wo das Bellen und Knurren des Hundes zu hören waren. Die Strahlen von zwei oder drei Taschenlampen durchbohrten die Finsternis, dann blitzte es auf und im selben Augenblick waren ein Schuss und gleich danach Gaspar zu hören, der vor Schmerz aufjaulte. Noch ein Blitz und noch ein Schuss. Dann wurde es still und das Licht der Taschenlampen erlosch.

      Fast wäre ich losgerannt, um dem Hund beizustehen. Doch ich überlegte es mir gerade noch rechtzeitig und schlug eine andere Richtung ein. Mir war klar, dass ich nur über den See würde entkommen können. Ich durchquerte den Flur, stieg in völliger Finsternis die kleine Holztreppe hinunter, die zum Anleger führt, streifte im Laufen die Sandalen ab und holte tief Luft, als ich schließlich auf dem Steg stand. Hätte ich heute doch bloß kurze Hosen angezogen, sagte ich mir noch, bevor ich mich ins eiskalte Wasser stürzte. Obwohl ich die Augen weit offen hielt, sah ich rings um mich nur noch völlige Schwärze. Ich hielt die Luft an und entfernte mich unter Wasser so schnell ich konnte vom Ufer und damit vom Haus. Ich tauchte kurz auf, sog gierig so viel Luft wie irgend möglich in meine Lungen und ließ mich wieder unter die Wasseroberfläche sinken.

      Dann fing ich an zu zählen. Eins zwei drei … Ich wusste, dass ich normalerweise fast eine volle Minute unter Wasser bleiben konnte, in dem Schwimmbad in Medellín, wo ich beinahe täglich trainierte, war das eine meiner Lieblingsübungen. Bevor ich bei sechzig angekommen war, würde ich den Kopf nicht aus dem Wasser strecken. Vier fünf sechs sieben. Aber langsam zählen, ermahnte ich mich innerlich, jede Zahl muss wirklich einer Sekunde entsprechen. Acht neun zehn elf. Auf einmal glaubte ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf zu hören. Zwölf dreizehn vierzehn fünfzehn sechzehn. Schwimm niemals bei Nacht im See. Achtzehn neunzehn zwanzig einundzwanzig. Nur wenn jemand reinfällt, der nicht schwimmen kann. Zweiundzwanzig dreiundzwanzig vierundzwanzig fünfundzwanzig. Oder wenn es um dein eigenes Leben geht. Sechsundzwanzig siebenundzwanzig achtundzwanzig neunundzwanzig. Ich schaffe es nicht, sagte ich mir. Dreißig einunddreißig zweiunddreißig dreiunddreißig. Gleich bekomme ich einen Herzinfarkt. Vierunddreißig fünfunddreißig sechsunddreißig. Die bringen mich um, wenn sie mich sehen. Siebenunddreißig achtunddreißig neununddreißig. Ich musste ein bisschen Luft ausatmen. Vierzig einundvierzig zweiundvierzig. Danach fühlte ich mich etwas besser. Und dann spürte ich, wie mir mein langes Haar übers Gesicht strich. Dreiundvierzig vierundvierzig fünfundvierzig sechsundvierzig siebenundvierzig. Gleich platzen meine Lungen, mir ist schon ganz schwindlig. Achtundvierzig neunundvierzig. Ich muss ganz langsam auftauchen, man darf nichts hören. Fünfzig einundfünfzig zweiundfünfzig. Ein bisschen noch. Dreiundfünfzig vierundfünfzig. Mein Kopf tut weh, und überall kribbelt es, langsamer jetzt. Fünfundfünfzig sechsundfünfzig. Nur einmal Luft holen und dann sofort wieder abtauchen. Siebenundfünfzig achtundfünfzig neunundfünfzig. Ein klein bisschen noch, noch zwei Armzüge. Sechzig einundsechzig zweiundsechzig dreiundsechzig. Ich tauchte auf.

      Pilar

      In den Schulferien arbeitete Eva immer in der Bäckerei meiner Mutter. Sie half ihr bei der Buchführung. Dafür benutzte sie eine Rechenmaschine mit Kurbel. Mit Bleistift erstellte sie sehr sorgfältig Listen aller Ausgaben auf grünen Blättern, die groß wie Kissenbezüge waren. Meine Mutter hatte irgendwann bei uns im Stadtteil Laureles ein kleines Geschäft aufgemacht, die »Panadería Anita«, aber die Sache mit den Ein- und Ausgaben bekam sie nur schwer in den Griff, also alles, was Zucker, Mehlsorten, Öl, Butter, Hefe, den Stromverbrauch der Backöfen und das Gehalt des zunächst bloß einen angestellten Bäckers anging. Zum Bleistiftspitzen benutzte Eva ebenfalls ein Gerät mit Kurbel, und sie sorgte dafür, dass ihr Stift immer schön spitz war, damit alle Zahlen sauber und gut lesbar gerieten. Wenn sie mit der Buchführung fertig war, ging sie in die Backstube und half beim Zubereiten von Blätterteig und Pastetenfüllungen.

      Toño war damals noch ganz klein und lebte in einer anderen Welt. Er war als Nachzügler geboren worden, wir Schwestern hatten jedenfalls nicht gedacht, dass wir noch einmal ein Geschwisterchen bekommen würden. Als Baby behandelten Eva und ich ihn wie eine Puppe. Er war ein wunderschönes Kind mit langen schwarzen Locken und feinen Gesichtszügen wie ein Mädchen. Auf der Straße fragten die Leute oft: »Wie heißt denn die Kleine?« Und er antwortete dann manchmal halb wütend, halb amüsiert: »Antonia.« Sein Gesicht war und blieb sehr weiblich, und nachdem er bis heute wenig Bartwuchs hat, hat seine Erscheinung etwas Uneindeutiges, als wäre er Mann und Frau zugleich. Seine Stimme ist sanft und melodiös, wie bei einem Italiener. Er ist groß und schlank und hat lange, schmale und gepflegte Hände, mit denen er elegante Bewegungen ausführt, wie ein Balletttänzer. Als meine Mutter die Bäckerei eröffnete, war er sieben oder höchstens acht und verbrachte den ganzen Tag mit seiner Geige. Er übte von früh bis spät, und die Geige war »klein, aber fein«, wie mein Vater sagte, der sie extra für ihn in den USA bestellt hatte. Manche Leute, vor allem andere Kinder oder auch seine Vettern und Kusinen, sagten damals schon, Toño sei irgendwie seltsam. Wenn er Angst vor einem Insekt hatte oder stundenlang vor dem Spiegel stand und sein pechschwarzes Haar kämmte, sagte mein Vater immer: »Jetzt sei mal ein Mann, mein Sohn, ein richtiger kleiner Mann!« Auch seine Augen waren pechschwarz, und wenn er einen eine Weile ansah, hatte man den Eindruck, sein harter, bohrender Blick würde einen im Innersten ausforschen. Außer seinem Blick hatte er aber nichts Hartes an sich. Wenn er auf La Oculta war, traute er sich nicht, ein Pferd zu besteigen, eine Kuh zu melken oder auch nur eine Grille in die Hand zu nehmen. Obwohl wir ihm das Schwimmen beigebracht hatten, weigerte er sich, im See zu baden – er behauptete, die Ertrunkenen würden ihm vom Grund aus zurufen, er solle ihnen Gesellschaft leisten: »Komm, uns ist so kalt hier unten.« Und im Dezember war es angeblich noch schlimmer, dann stimmten sie nämlich Weihnachtslieder für ihn an: »Komm, o mein Heiland Jesu Christ …« Die Spiele der anderen Kinder reizten ihn nicht, er hatte weder Lust auf Fußball noch darauf, mit Steinen nach Vögeln zu werfen, er hatte Angst, ein hart getretener Ball könnte ihn an den Händen treffen, und das, wo er seine Finger behütete, als wären sie aus Glas. Wenn Martica kam, die Maniküre, um meiner Mutter die Nägel zu lackieren, wollte er sich auch jedes Mal die Hände machen lassen. Großvater Josué sagte, weil wir vielen Frauen Toño ständig verwöhnten, würde er am Ende selbst ein kleines Fräulein werden, und mein Vater und meine Mutter sahen dem Treiben bekümmert zu, wussten aber nicht, was sie dagegen unternehmen sollten. Eva und mir gefiel er jedenfalls so, wie er war.

      Ich war für jede Art von Rechnereien völlig unbegabt, und noch schlimmer war es, wenn es ums Teigkneten und Kuchenbacken ging, deshalb habe ich Eva und meiner Mutter auch nie in der Bäckerei geholfen. Lieber ging ich mit meinen Freundinnen aus, oder mit Alberto, der mich ins Kino, auf Partys oder zu Familienfeiern mitnahm. Die Panadería Anita heißt heute noch so, obwohl wir sie in der schlimmen Zeit nach Cobos Tod verkaufen mussten, als das ganze Land zum Teufel zu gehen schien und Eva irgendwann keine Lust mehr hatte, ein dermaßen schwieriges Geschäft am Laufen zu halten. Meine Mutter steckte das Geld, das sie für die Bäckerei bekam, in Aktien, und von den Dividenden lebte sie bis ans Ende ihrer Tage. Anfangs, als wir Kinder waren, hatte meine Mutter, die nie auf eine Universität gegangen war, die Buchhaltung der Bäckerei noch einigermaßen im Griff, doch als nicht nur wir wuchsen, sondern auch das Geschäft, und Eva schließlich das Alter erreichte, in dem sie zu studieren hätte anfangen können, wurde es meiner Mutter, gerade weil die Bäckerei so erfolgreich war, allmählich zu viel.

      Wenn ich genauer darüber nachdenke, war es allerdings doch so, dass jemand in Evas Fall Schicksal spielte und sie anwies, meiner Mutter zu helfen. Eigentlich hätte Eva nämlich etwas Geisteswissenschaftliches studieren wollen – sie hatte immer davon geträumt, Psychologin oder Tänzerin zu werden –, aber mein Vater sagte, sie solle sich in Betriebswirtschaft einschreiben, dann könne sie sich in unserem Familienbetrieb nützlich machen. Eva war damals alles andere als aufrührerisch, im Gegenteil, gutwillig, wie sie war, fand sie nichts dabei, ihre Pläne zu ändern, ja sie freute sich fast darüber. Weil die Anordnung von Cobo kam, es zugleich der Wunsch meiner Mutter war und sie selbst es durchaus vernünftig fand, die Familie zu unterstützen, willigte sie ohne zu zögern ein. Sie besaß seit jeher ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Und obwohl ihr Gefühl ihr sagte, dass sie nicht die geborene Geschäftsfrau war, stimmte sie zu und lernte alles, was dafür nötig war, und das keineswegs schlecht. Eva schien die Entscheidung nie bereut zu haben, zumindest ließ sie meinem Vater gegenüber nie etwas Derartiges durchblicken. Meiner


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