La Oculta. Héctor Abad

La Oculta - Héctor Abad


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die Unbekannten durch den Hinterhof eingedrungen waren, mussten sie zuvor den Zufahrtsweg hinaufgekommen sein. Die Autos hatten sie offenbar unten stehen lassen, um keinen Lärm zu machen. Sie wollten mich überraschen, hatten aber nicht mit Gaspars feinem Gehör gerechnet. Wie viele Leute mochten es sein? Und wer waren sie? Bestimmt handelte es sich um diese »Musiker«, denen wir La Oculta »verkaufen oder verkaufen« sollten. Als ich irgendwann fürchtete, beim nächsten Schwimmzug ohnmächtig zu werden, tauchte ich erneut auf. Mit einem Geräusch, das an das Röcheln eines Sterbenden erinnerte, drang die Luft in meinen Körper ein. Ein Lichtstrahl glitt über meine Schulter, woraufhin ich sofort wieder untertauchte. Im selben Augenblick war ein Schuss zu hören. Um meine Verfolger zu verwirren, wandte ich mich nach links. Ich musste mich beeilen, durfte keine Sekunde verlieren. Die über die Wasseroberfläche gleitenden Strahlenbündel zeigten mir immerhin an, welche Richtung ich einzuschlagen hatte – je weiter ich mich von ihrer Quelle entfernte, desto besser.

      Wieder tauchte ich auf, um Luft zu holen. Bei der Gelegenheit sah ich zum Haus zurück. Dort waren sämtliche Lichter eingeschaltet. Am Steg standen zwei Männer, die mithilfe ihrer Taschenlampen hektisch den See absuchten. »Alte Dreckschlampe! Hoffentlich säuftse ab!«, schrie der eine. Ich tauchte wieder unter. Der See war eiskalt, manchmal stieß ich aber auf tröstliche Stellen, an denen das Wasser sich den Tag über aufgewärmt hatte. Mein Blut zirkulierte inzwischen dermaßen heftig, dass ich den Eindruck hatte, mein ganzer Körper sei bloß noch ein einziges riesiges Herz. Vor Angst, aber auch vor Anspannung war ich ganz steif. Und doch sagte mir das wild pochende Organ in meinem Inneren: »Sorg dich nicht, noch bist du am Leben.«

      Ich musste an meinen toten Hund denken. Vier Jahre hatte er bei mir gelebt, und ich liebte ihn fast wie ein Kind. Er schien mir sehr intelligent, oft hatte ich den Eindruck, er könne meine Gedanken lesen. Außerdem passte er sich jederzeit meiner Stimmung an: Er war fröhlich, wenn ich es war, und melancholisch, wenn mich die Trauer befiel. Und erschrocken – aber auch angriffslustig –, wenn ich über etwas erschrocken war. Genau so hatte er sich zuletzt verhalten und mir mit seinem Einsatz das Leben gerettet. Hätten sie ihn nicht umgebracht, wäre er mir wie immer auch ins Wasser gefolgt, und an seinem gelblichen Kopf hätten sie mühelos erkennen können, wo ich mich befand. Erneut tauchte ich auf. Inzwischen war ich weit genug vom Haus entfernt, wo meine Verfolger jetzt lautstark stritten. Von etwas weiter weg, aus der Richtung des Verwalterhauses, waren drei Schüsse zu hören. Bei dem Gedanken an Próspero kniff ich entsetzt die Augen zusammen. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung, schwamm langsam, aber entschlossen und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, ja nahezu ohne das Wasser aufzuwirbeln weiter – wie eine Schildkröte –, den Kopf nur ein winziges Stück über der Oberfläche. Ab und zu drehte ich ihn zur Seite, um Luft zu holen. Die hektisch kreiselnden Strahlen der Taschenlampen reichten kaum noch bis zu mir. Dafür wurde es um mich herum dunkler und dunkler. Am Ufer vor mir konnte ich trotzdem die ersten Schilfhalme ausmachen. Dann hörte ich auf einmal Flügelschlagen über meinem Kopf. Offensichtlich hatte ich eine Gruppe in einem nicht weit entfernten Kapokbaum schlafender Kormorane oder Reiher aufgestört. Vorläufig noch vergeblich tastete ich mit den Zehenspitzen nach dem schlammigen Grund, den ich normalerweise als abstoßende glibberige Masse wahrnahm. Jetzt hingegen hätte ich wer weiß was dafür gegeben, mit den Füßen darin zu versinken.

      Aber ich durfte kein Risiko eingehen, also tauchte ich wieder ganz unter. Erschöpft wie ich war, würde ich nicht einmal eine halbe Minute durchhalten, sagte ich mir und versuchte, bis dreißig zu zählen. Schon bei sechzehn musste ich wieder Luft holen. Diesmal stellte ich fest, dass meine Verfolger inzwischen am Ufer entlanggingen und weiterhin mit ihren Taschenlampen die Wasseroberfläche absuchten, allerdings bewegten sie sich genau auf der falschen Seite – und so lang, wie der See war, würden sie eine ziemliche Zeit brauchen, um ihn zu umrunden. Abgesehen davon, dass ihnen an einem bestimmten Punkt die Uferböschung den Weg versperren würde. Von dort ab kam man nur mit dem entschlossenen Einsatz einer Machete weiter.

      Endlich spürte ich den schlammigen Grund unter den Füßen, jetzt fehlte wirklich nicht mehr viel. Ganz in der Nähe musste auch der große Stein am Ufer sein, auf dem ich mich manchmal sonnte. Von dort führte ein Pfad durch den Bambuswald bis zu der Schotterpiste, auf der man bergaufwärts zur Finca Casablanca gelangt, die meinen Vettern gehört. Sie waren nicht da, schon seit Monaten wagten sie sich nicht mehr her, aber Rubiel, der Verwalter, müsste zu Hause sein. Ihn konnte ich bitten, mich zu verstecken, oder was auch immer. Als ich den Stein ausgemacht hatte, kletterte ich hinauf und gelangte von dort auf festen Boden. Ich zitterte vor Kälte und Angst, und mein Atem ging heftig. Die Schreie und Flüche drangen jetzt nur noch aus weiter Ferne zu mir. Zum Glück kannte offenbar keiner meiner Verfolger sich hier auch nur annähernd so gut aus wie ich. Immer wieder trat ich auf Halmsprossen und hätte vor Schmerz fast aufgeschrien, wenn sich mir die Spitzen in die Fußsohle bohrten, riss mich aber im letzten Augenblick zusammen. Die dornigen Zweige und scharfen Blattkanten zerfetzten mein nasses Oberteil und schnitten mir in Arme und Beine. Irgendwann erreichte ich den Stacheldrahtzaun. Als ich darunter hindurchkroch, blieb ich mit der Bluse an einem der Stachel hängen, der sie am Rücken aufschlitzte, was ich aber erst viel später bemerkte. Als ich bei dem Fahrweg ankam, lief ich so schnell ich konnte bergauf.

      Antonio

      Die neuen Besitzer dieser Bergregion im Südwesten Antioquias wussten nicht recht, was sie damit anfangen sollten. Ihre Suche nach Bodenschätzen oder Salinen blieb erfolglos, weder Gold noch Silber noch Salz noch Kohle schien in nennenswerten Mengen vorhanden zu sein. Auch wertvollere Indioschätze waren nirgendwo zu finden, alles, was in den von ihnen aufgespürten Gräbern zu entdecken war, waren Schalen und Töpfe aus gebranntem Lehm, aber keinerlei Gegenstände aus Metall, bis auf die eine oder andere kleine verrostete Götterfigur. Vereinzelte Grabräuber, die schon früher hier unterwegs gewesen waren, hatten offenbar noch hier und da ein Stück Tumbago gefunden, dieses aber zweifellos umgehend eingeschmolzen, um an den eher geringen Goldanteil dieser Kupferlegierung zu gelangen. Die Keramikgegenstände und Götterfiguren aus Ton wiederum hatten nichts von der geheimnisvollen Schönheit vergleichbarer Objekte anderer einheimischer Kulturen, davon abgesehen, dass zu jener Zeit kaum jemand den Wert dieser Dinge zu schätzen wusste, im Gegenteil, niemand fand etwas dabei, die Grabstätten der Urbevölkerung rücksichtslos auszuplündern. Ja, oft genug wurde alles, was es dort gab, bewusst zerstört, als handelte es sich um Hinterlassenschaften des Teufels, deren Fluch gerade diejenigen, die sich an ihnen vergingen, keinesfalls auf sich ziehen wollten. Besonders gefürchtet waren die Götterfiguren, deren eigentliche Aufgabe es war, über die ewige Ruhe der neben ihren bescheidenen Schätzen Bestatteten zu wachen. Manchmal stieß man auch auf geheimnisvolle Inschriften an Felswänden, die Zeugnis von einer Intelligenz ablegten, die von den Weißen ausgelöscht worden war, bevor Sonne, Regen und Wind sich daranmachten, auch diese letzten Spuren zu tilgen.

      Auch das Holz dieser Berge war vorläufig wertlos, gab es doch keinerlei Wege, um gefällte Bäume abzutransportieren, und Wege anzulegen war in dem abschüssigen und dicht bewachsenen Gelände äußerst schwierig. Dazu kam, dass es regelmäßig heftige Regengüsse gab, die die wilden Flüsse voller Felsen anschwellen ließen und erst recht unschiffbar machten. Von alldem abgesehen waren die neuen Herren dieser Bergwälder jedoch vor allem Kaufleute und besaßen wenig bis keine Erfahrung in Land- oder Forstwirtschaft, was nicht besser dadurch wurde, dass in dieser menschenleeren Einsamkeit nirgendwo Knechte oder Baumfäller aufzutreiben waren, die sie hätten in Dienst nehmen können.

      Die Leute aus Medellín, die sich zuvor über die Kriegsanleihen und wertlosen Papiere der Herren Echeverri und Santamaría lustig gemacht hatten, amüsierten sich nun nicht weniger über die zu nichts zu gebrauchenden Ländereien der beiden. Ohne Leute, die bereit waren, ordentlich zuzupacken, war es unmöglich, hier irgendetwas anzufangen, und in Medellín – dessen Bewohner sich damals bereits für richtige Großstädter hielten, auch wenn ihre Stadt ein elendes Kaff war – jemanden zu finden, der bereit war, in einem unwirtlichen Urwald sein Glück zu versuchen, war nicht einfach. Statt zu Hacke und Machete, Schaufel und Spaten zu greifen, zogen die Bürger der selbsternannten Metropole es vor, dazusitzen und zuzusehen, wie die Zeit verstreicht.

      Als die beiden alten Kaufleute starben, ohne auch nur den geringsten Nutzen aus dem empfangenen Land gezogen zu haben,


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