La Oculta. Héctor Abad

La Oculta - Héctor Abad


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war viel hübscher als ich und besser in der Schule und eine viel bessere Tänzerin. Sie hat deshalb auch immer gesagt, sie will Tänzerin und Psychologin werden. Vom vielen Tanzen hatte sie einen wunderschönen Körper, um von ihrem Gesicht gar nicht zu reden, ihr Gesicht war einfach perfekt, und so lächeln wie sie, das würde so manche Schönheitskönigin auch gern können. Sie hatte langes schwarzes Haar, wunderbar feine Gesichtszüge und die weißesten Zähne, die ich jemals gesehen habe. Außerdem war sie immer heiter und ausgelassen – über alles konnte sie lachen. Vielleicht lag es daran, dass sie so schön war, jedenfalls konnte sie von nichts genug bekommen, von allem wollte sie mehr und mehr. Und immer noch besser sollte es sein. Wir sind zusammen auf eine Klosterschule gegangen, ins Colegio de la Presentación, und sie hat ständig irgendwelche Auszeichnungen bekommen. Sie war immer die Klassenbeste, ohne Ausnahme. Ich gehörte bestenfalls zum Durchschnitt, abgesehen davon, dass ich in ihre Klasse ging, weil ich einmal durchgefallen war. Wenn Eva von der Schule nach Hause kam, war ihre dunkelblaue Uniform immer voller Medaillen – sie hatte die rote Medaille für Mathematik, die gelbe für Religion, die blaue für gutes Benehmen, die weiße für Spanisch, die grüne für Erdkunde, die gestreifte für Musik, die pinkfarbene für Geometrie, die orangefarbene für Fleiß, und mehr gab es nicht. Sie sah aus wie ein General. Ich dagegen hatte keine einzige Medaille, nicht mal eine klitzekleine. Ich weiß noch, dass ich sie einmal, als wir gerade aus dem Schulbus ausgestiegen waren, gezwungen habe, mir eine von ihren Medaillen abzugeben. Eine Freundin von mir hat mir geholfen und sie von hinten festgehalten, und ich hab ihr die schönste von allen Medaillen abgenommen, die dreifarbige, wie unsere Landesfahne. Die hab ich mir an die Brust geheftet und war total stolz auf mich, und als ich nach Hause kam, hat mein Vater ganz beglückt gefragt, wofür ich die Medaille bekommen habe, und weil ich selbst nicht wusste, wofür sie war, habe ich gesagt, die ist für die Liebe zur Schule. Eva hat mich im Rücken meines Vaters hasserfüllt angestarrt, aber sie hätte es nicht über sich gebracht, mich zu verraten, und mein Vater hat mir für meine geklaute Medaille einen so dicken Kuss gegeben, wie Eva ihn für alle ihre Medaillen zusammen noch nie bekommen hatte, und dabei hatte sie sich durchaus dafür angestrengt. Heute tut mir das wirklich wahnsinnig leid. Natürlich hat mein Vater sich auch über Evas Medaillen gefreut, aber bei ihr war das ganz normal – dass ich für etwas ausgezeichnet werde, war dagegen etwas Besonderes.

      Eva ging auf die Universität, ich dagegen brach im letzten Jahr der Oberstufe die Schule ab und heiratete Alberto. Ich weiß, dass Eva sich damals gefragt hat: Ob es sich wirklich lohnt, ständig so viel zu lernen und niemals auch nur ein klein bisschen nachlässig zu sein? Geht es Pilar nicht viel besser, die schon alt zur Welt gekommen ist und inzwischen wie die reinste Oma aussieht? Seit wir zusammen auf der Schule waren, ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und eigentlich müssten wir jetzt sagen können, wem es besser ergangen ist. Eigentlich – aber unsere Leben sind völlig verschieden, und ich finde keins von beiden ganz schlecht. Ich glaube, wir unterscheiden uns vor allem in zwei oder drei Dingen: Eva hat keinen Ehemann, ich schon. Ich gehe regelmäßig zur Kirche, sie nicht. Sie hätte im Grunde nichts dagegen, La Oculta zu verkaufen, ich dagegen möchte hier weiterleben und auch sterben. Dieses Stück Land, das Gefühl, einen Ort zu haben, an dem ich mich irgendwann zur letzten Ruhe betten kann, einen Ort, an dem die anderen mich beerdigen können, wo ich ein Teil meiner eigenen Erde werden kann. Ich weiß nicht, ob die Leute in anderen Weltgegenden genauso sind, wir aus Antioquia sind jedenfalls zeitlebens besessen von der Vorstellung, ein eigenes Stück Land zu besitzen. Selbst die Ärmsten haben hier eine Finca oder träumen davon, eine zu haben, und sei sie bloß fünfzig Quadratmeter groß, ein Gärtchen mit drei Reihen Gemüse und vielleicht noch einem Blumenbeet. Kein Land zu besitzen ist so, als hätte man keine Kleidung und nichts zu essen. Und so wie man zum Leben Wasser und Luft und ein eigenes Heim braucht, braucht man unserer Auffassung nach auch ein eigenes Stück Land, und sei es bloß, um darauf zu sterben.

      Worin Eva und ich uns vielleicht am stärksten unterscheiden, ist unsere Einstellung zur Ehe und zur Liebe. Ich glaube, früher war es besser: einmal und für immer. Eva dagegen, vielleicht weil ihr Liebesleben von Anfang an ganz anders war, findet es besser, wenn es niemals für immer ist, sondern immer bloß vorläufig, in der Schwebe, ja geradezu mit Verfallsdatum, wie Joghurt oder Marmelade. Manche Leute entscheiden sich auch für etwas dazwischen: In der Nähe von La Oculta, auf der Hazienda La Ley, wohnt ein gewisser Iván Restrepo, und der hat zwei Ehefrauen. Prósperos Bruder arbeitet dort, und von ihm wissen wir, dass Don Iván ihn immer anruft, bevor er auf die Finca fährt, und entweder sagt: »Aquileo, morgen komme ich mit Consuelo.« Und dann weiß Aquileo, dass er die Möbel, Bilder, Fotos und den sonstigen Schmuck von Doña Consuelo hervorholen muss. Oder aber Don Iván ruft an und sagt: »Aquileo, morgen komme ich mit Amparo.« Und dann räumt Aquileo schleunigst Doña Consuelos Sachen weg und holt dafür die von Doña Amparo hervor – das betrifft auch das Geschirr, das Besteck und die Töpfe. Aquileo darf dabei kein Fehler unterlaufen, auf den Fotos zum Beispiel sind unter anderem jeweils die Kinder zu sehen, die Iván mit der einen oder anderen der beiden Frauen hat. Es gibt es einen Kellerraum auf der Finca, wo, je nachdem, welche Frau gerade zu Besuch ist, die Sachen der anderen aufbewahrt werden. Den einzigen Schlüssel dazu besitzt Aquileo. Amparo weiß allerdings sehr wohl, dass es Consuelo gibt, und Consuelo weiß ebenso gut von Amparos Existenz – dumm sind sie beide nicht, sie wollen bloß nichts voneinander wissen. Einmal ließ Aquileo vor einem Besuch Doña Amparos aus Versehen ein Foto stehen, auf dem Doña Consuelo neben den Kindern zu sehen ist, die sie von Don Iván hat. Als Doña Amparo eintraf, tat sie, als würde sie das Foto nicht sehen. Don Iván machte Aquileo mit Blicken auf die Verwechslung aufmerksam, woraufhin Aquileo in den Keller eilte, um das richtige Foto zu holen und gegen das andere auszutauschen. Wir amüsieren uns köstlich über Don Iváns Jonglierkünste, er ist wirklich ein sehr netter Mensch, und von Aquileo lassen wir uns nach seinen Besuchen immer genau erzählen, wie es wieder gelaufen ist. Von Aquileo wissen wir auch, dass Doña Amparo für ihr Leben gern zum Einkaufen nach Miami fährt, weshalb Iván regelmäßig mit ihr dorthin reist. Doña Consuelo wiederum ist versessen auf Europa, weshalb Iván immer wieder mit ihr nach Europa fährt, wo sie angeblich vor allem in Konzerte und Museen gehen. »Er verwöhnt sie beide«, sagt Aquileo, »so verschieden sie sind – die eine mag klassische Musik und die andere Rancheras, die eine liest und die andere trinkt gern. Sie haben sogar verschiedene Freundeskreise.«

      In Wirklichkeit weiß doch kein Mensch, was genau das richtige Leben ist. So lebt jeder eben, so gut er kann. Toño lebt mit einem Mann zusammen, Eva ist ständig auf der Suche, Iván Restrepo ist Bigamist, und Muslime können bis zu vier Ehefrauen haben, was ich vollkommen in Ordnung fände, wenn auch die Frauen vier Männer haben dürften. Was mich betrifft, ich bin eines Tages Alberto begegnet, und seitdem gibt es für mich nur noch ein mögliches Leben.

      Eva

      Ganz wieder zur Ruhe gekommen war ich nicht mehr, seit ich den Zettel mit der Aufforderung, die Finca zu verkaufen, erhalten hatte, das muss ich zugeben. Oder sagen wir: Alle meine Sinne waren von da an hellwach. Alles an dem Zettel war abstoßend, die linkische Handschrift, die vielen Schreibfehler, der hochtrabende Spitzname El Músico. Von wegen Musiker. Wenn jemand nichts mit Musik zu tun hatte, dann diese Leute. Die einzige Musik, von der sie etwas verstanden, war die von Gewehrkugeln, knatternden Maschinenpistolen und Drohungen. Die Urheber derartiger Botschaften waren, soweit man wusste, teils Drogenhändler, teils gewöhnliche Räuber, teils illegale Goldsucher oder Paramilitärs. Sie trieben in der Gegend um Támesis, Salgar und Jericó ihr Unwesen und rissen sich Finca um Finca unter den Nagel. Und dabei konnten sie weder Nachbarn noch Zeugen brauchen.

      Trotzdem versuchte ich, mich auf den Roman zu konzentrieren. Ich weiß noch, dass auf der letzten Seite eine Anmerkung meines Vaters stand, ein Zitat wahrscheinlich, er hatte sie nämlich in Anführungszeichen gesetzt: »So sollte Literatur sein: randvoll mit Handlung, so dass kein Platz für Klischees oder sentimentale Abschweifungen bleibt. Immer wieder hatte man vor ihm von Joyce, Kafka und Proust geschwärmt, aber er hatte beschlossen, nicht die Richtung der so genannten psychologischen Schule oder des Bewusstseinsstroms einzuschlagen. Die Literatur sollte wieder so sein wie die Bibel oder Homer – Handlung, Spannung, Bilder und dazu nur eine Prise Gedankenspielereien.«

      Plötzlich richtete Gaspar die Ohren auf, erhob sich –


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