Angefühlt. Jona Mondlicht

Angefühlt - Jona Mondlicht


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kleinen Steine knirschen bei jedem Schritt unter den Sohlen. Während Alexander entschlossen voranschreitet, dreht sich Sarah kurz um. Einmal, zweimal. Stets sieht sie Lia unbeweglich vor Brunos Grab stehen. Immer weiter entfernt. Es fühlt sich an wie ein Abschied auf ewig, denkt sie. Wie das Zuschlagen eines Buches nach dem letzten Kapitel. Und irgendwie ist es das auch zwischen Lia und Bruno: Das letzte Kapitel. In diesem Moment schreibt es sich.

      »Was für ein Zettel war das?« Alexanders Frage schneidet sich in ihre Gedanken. Scharf. Mehr kontrollierend als neugierig. Er sieht Sarah nicht an und folgt mit großen Schritten dem Kiesweg, sodass sie Mühe hat, neben ihm zu bleiben.

      »Ein Brief«, erklärt sie zügig. »Ein paar Worte von Bruno.« Erst dann bemerkt sie, dass sie ihm keine Rechenschaft schuldig ist. Ihre Antwort war ein Automatismus wie der zwischen Kind und Vater, Schüler und Lehrer.

      Alexanders Gesichtszüge bleiben regungslos. »Und an wen ist er gerichtet?«

      Es ist die Art und Weise, wie er seine Fragen stellt, denkt Sarah. Präzise, klar und so, dass ihnen eine Anweisung zum unverzüglichen und ehrlichen Antworten innewohnt. Sie muss sich eingestehen, dass ihr das imponiert. »Er ist an mich gerichtet«, antwortet sie wahrheitsgemäß.

      Alexander schiebt die Hände in die Taschen und geht weiter. Schweigend.

      Sarah beobachtet ihn von der Seite. Sein kantiges Kinn, die ausgeprägten Wangenknochen und die gerade Nase lassen ihn wie eine Skulptur erscheinen. Streng sieht er aus, wenn er so nachdenklich ist. Das fiel ihr bereits vor einem Vierteljahr auf, als sie ihm in Lias Wohnung zum ersten Mal begegnete.

      Sie dreht sich erneut um. Die Frau verharrt noch immer vor dem Grab. Aus der Entfernung erweckt sie den Eindruck, erfroren zu sein. In gewisser Weise, denkt Sarah traurig, trifft das wohl auch zu.

      »Steht etwas in diesem Schreiben, von dem Lia erfahren sollte?«

      Sarah bemerkt, dass Alexander bereits einen Schritt vor ihr ist. Hastig eilt sie wieder an seine Seite. »Nein«, sagt sie und unterdrückt ihren schnellen Atem. Brunos Brief ist ausschließlich an sie selbst gerichtet. Er schrieb ihn als Abschied. Als Ermunterung, ihre Neigung zuzulassen. Und als Mahnung, keine Zeit zu verschenken. »Bruno war der gleichen Meinung wie Lia.«

      Alexander dreht sich ihr zu und schaut sie überrascht an. »Der gleichen Meinung? Zu welchem Thema?«

      »Dass ich den einen Menschen suchen soll, der zu mir passt.« Sarah zuckt einmal mit den Schultern. Alexander weiß von ihrer Leidenschaft. Sie muss nichts verheimlichen vor ihm. »Dem ich mich unterwerfen kann.«

      Er fixiert sie mit seinem Blick, dann schaut er wieder nach vorn. »Fürwahr, das solltest du tun«, meint er schließlich. Aus einer Manteltasche zieht er eine kleine Pappschachtel hervor. Kurz dreht er sie zwischen den Fingern und drückt er den Deckel nach oben. »Lakritzbonbons«, erklärt er Sarah. »Sie schmecken dir nicht.« Dann schiebt er sich eine der schwarzen Kugeln in den Mund.

      Sarah ist beeindruckt. Sie hat Alexander in Lias Haus kennengelernt. Das war im Sommer. Obwohl sie sich erst heute ein zweites Mal treffen, hat er sich ihren Geschmack eingeprägt. Mehrere Monate lang. Tief unter ihrem Erstaunen und viel intensiver trifft sie der Umstand, dass er aus seiner Erinnerung heraus für sie entschieden hat. Zielsicher und wie selbstverständlich.

      Alexander schiebt die Pappschachtel zurück in die Manteltasche. »Hast du eine ungefähre Vorstellung von dem, was auf dich zukommt?« Er schaut sie ernst von der Seite an. Forschend. Abschätzend. Seine Wangen wölben sich nach innen, während er an dem Bonbon lutscht.

      Sarah ist unsicher, was sie antworten soll. Viel hat sie gehört in den Erzählungen von Bruno. Über Unterwerfung, Vertrauen und tiefe Gefühle. Sie hat aus Lias Geschichten gelernt, wie gefährlich verletzbar sie sein wird und wie einfach ausnutzbar. Erlebt hat sie selbst bislang nichts. Weder das eine noch das andere. Sie kann kaum einschätzen, wie wertvoll all das Erzählte sein wird, wenn sie eigene Erfahrungen zu sammeln versucht. Sie weiß nicht einmal, wie und wo sie damit überhaupt beginnen soll.

      »Also nicht«, kommentiert Alexander die ausbleibende Antwort. Er sagt es, als vermerke er es in einem Notizbuch und streiche mit spitzem Bleistift und hochgezogener Stirn das Feld für individuelle Voraussetzungen. Wie ein Immobilienmakler, der kühl kalkulierend den Interessentenkreis bereinigt.

      Sarah schweigt resigniert.

      »Draußen am Tor ist ein kleines Café. Ich lade dich ein.« Alexander reckt den Kopf, als wolle er sich vergewissern, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Dabei ist der Ausgang nicht weit entfernt. Nur noch wenige Koniferen säumen den Kiesweg, bevor er in einen breiten Platz mündet. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein großes, geschwungenes Eisentor offen. »Ich spendiere dir einen warmen Tee oder eine heiße Schokolade. Die Entscheidung überlasse ich dir.«

      Immerhin, denkt Sarah. Wenn ihr schon keine Wahl bleibt, die unerwartete Einladung auszuschlagen. »Danke«, sagt sie also und fühlt sich dabei auf eine seltsame Weise artig und beruhigt.

      Schweigend überqueren sie den Platz, der mit hellen Steinplatten belegt ist. Er wirkt wie ein Portal zwischen den Welten der Lebenden und Toten. Sarah dreht sich noch einmal um, aber sie kann Lia nicht mehr sehen. Zu weit sind sie entfernt.

      »Schau nach vorne«, meint Alexander plötzlich und Sarah bemerkt erst, als sie vor sich kein Hindernis findet, dass es symbolisch gemeint ist.

      Sie durchqueren das Tor, dessen schwarze Farbe gegen Rostflecken kämpft und an den Stellen ihrer Niederlage kraftlos abblättert. Der Ausgang grenzt an einen Zaun aus verbundenen Eisenstangen, die bis zu einem kleinen Haus reichen. Dort klammert sich Efeu herbstmüde an hell getünchte Außenmauern. Noch so ein Kontrast, denkt Sarah.

      Alexander schreitet zielstrebig auf das Café zu. Die zwei Steinstufen zur Glastür nimmt er mit einem Schritt. Er öffnet schwungvoll die Tür und deutet Sarah mit einer leichten Kopfbewegung an, voranzugehen.

      »Dort drüben!« Bestimmend weist er in eine Ecke des kleinen Raums, den sich fünf runde Tische mühevoll teilen. »Das sieht gemütlich aus.« Er greift ungefragt und mit beiden Händen Sarahs Mantel, hebt den Kragen leicht von ihren Schultern. »Den legen wir besser beiseite. Es ist recht warm hier.«

      Sie nickt und schlüpft aus dem schweren Stoff. Als sie sich nach Alexander umdreht, um ihm aus Dankbarkeit für seine Fürsorge ein Lächeln zu schenken, kümmert er sich bereits um die Garderobe. Also durchquert sie den kleinen Raum und nimmt an dem Tisch Platz, den er ausgewählt hat. Der enge, gepolsterte Holzstuhl unter ihr knarrt leise.

      Neugierig greift Sarah nach der gefalteten Karte, die auf der Tischdecke liegt. Sie betrachtet Bilder mit Eisbechern und überlegt, was Alexander sagen würde, wenn sie sich für einen der riesigen Becher entscheidet. Als plötzlich zwei Finger das Papier greifen und ihr kommentarlos entziehen, erschrickt sie. Aber sie protestiert nicht und lässt ihre Hände sinken.

      »Einen Tee? Schokolade?« Er legt das Faltblatt beiseite und schiebt sich einen Stuhl zurecht, sodass er ihr gegenüber sitzt. »Du hast dich bestimmt längst entschieden, oder?« Lächelnd schaut er zu Sarah. »Jedenfalls benötigst du dazu keine Eiskarte, denke ich.«

      »Tee«, antwortet sie gepresst. Sie erinnert sich an die Lederwerkstatt von Bruno, in der sie so gern gesessen hat. Auf dem Tisch vor seinem Thronsessel stand immer ein heißer, duftender Tee. »Rooibos«, fügt sie zügig an und lehnt sich zurück. Einen kurzen Moment später korrigiert sie ihre Haltung und bemüht sich, aufrecht zu sitzen.

      Alexander quittiert es mit einem freundlichen Nicken. »Wenn man dich beobachtet«, beginnt er und verschränkt die Arme vor dem Körper, »wenn man dein Verhalten analysiert, dann erkennt man deine Neigung.« Sein Lächeln fließt breit. »Wusstest du das?«

      Sarah reibt sich mit den Händen über die Oberschenkel. Sie hat nicht damit gerechnet, nach dem Treffen auf dem Friedhof in eine Privataudienz mit Alexander zu geraten. Auch nicht damit, ausgerechnet solchen Fragen ausgesetzt zu sein. Vereinbart war lediglich, Lia an das Grab von Bruno zu führen und sie zu begleiten, solange sie es


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