Angefühlt. Jona Mondlicht

Angefühlt - Jona Mondlicht


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bestimmt wäre es vorteilhaft gewesen, Brunos Bemühungen regelmäßig mit meinen Forderungen zu vergleichen. Auszuprobieren, ob meine Vorstellungen sich überhaupt umsetzen ließen. Trotzdem musste ich ihm widersprechen. Es gab keine Möglichkeit, das Korsett vor seiner Fertigstellung anzuprobieren.

      »Nein«, antwortete ich also, »es tut mir leid. Die Frau, die ich in dieses Korsett verschließe, wird es spüren. Aber nie zu Gesicht bekommen.« Das stand für mich fest. Der wunderbare Anblick meiner ledergewordenen Fantasien sollte allein mir vorbehalten bleiben. Die Trägerin würde sich mit dem Gefühl begnügen müssen. Dieses Geschenk erschien mir wertvoll genug.

      Bruno legte noch immer gedanklich Maß an Julias Taille. Er redete mit mir, ohne mich anzusehen. »So meine ich es nicht.« Er hielt den Kopf schräg und ich bemerkte, dass seine Blicke Julias Rücken hinauf und hinab wanderten. »Ich denke«, fuhr er fort, »wir haben hier eine vortreffliche Möglichkeit, das Korsett zu probieren. Zu jeder Zeit.«

      Überrascht sah ich zu der Frau, die mit den Händen im Nacken neben dem Tisch stand. Ich war froh, dass sie scheinbar teilnahmslos an mir vorbei blickte – und so nicht sehen konnte, dass ich zurückhaltend ihren Körper begutachtete. Es war mir trotzdem unangenehm. Gewiss ahnte sie, was ich in diesem Augenblick tat.

      »Also, was meinst du?«, fragte mich Bruno erneut, während er sich nach vorn beugte und die Augenbrauen nach oben zog.

      Julia war schlank, fürwahr. Das konnte auch nicht das weiße Hemd verbergen, welches ihre Taille locker umhüllte. Trotzdem zweifelte ich. Mein Korsett sollte eine Frau tragen, die geschätzt fünfzehn Jahre jünger sein würde als Julia. Vielleicht sogar zwanzig. Es fiel mir schwer, Bruno darauf hinzuweisen. »Du kennst die genauen Maße«, antwortete ich ihm salomonisch. Das konnte er sowohl auf Julia beziehen als auch auf die Angaben, die ich ihm zur Anfertigung des Korsetts gegeben hatte.

      Er nickte, aber beteiligte sich nicht an meiner Feinfühligkeit. »Sie wird in den nächsten Tagen abnehmen«, legte er wenig distinguiert fest. »Dafür sorge ich.«

      Ein Seitenblick zu Julia bestätigte mir, dass sie diese Verhandlung über ihre Körpermaße – nicht anders musste es ihr vorkommen – regungslos hinnahm. Ich gebe zu, dass mich das beeindruckte. Sie hatte offensichtlich die Kontrolle und Bestimmung über ihren Körper abgegeben. In Brunos Verantwortung gelegt. Wie sehr musste sie ihm Vertrauen entgegenbringen. Und wie weit hatte sie ihm ihre Seele geöffnet, dass er davon Gebrauch machen konnte.

      Bruno klatschte in die Hände und riss unser aller Aufmerksamkeit an sich. »Wann beginnen wir?«, fragte er tatendurstig und es schien, als wolle er auf der Stelle einen Lederballen aus dem Regal holen.

      »Und wann beginnst du?« Alexander zeigt auf die Tasse, die vor Sarah auf dem Tisch steht. »Dein Tee wird kalt, wenn du länger wartest.« Er reckt den Kopf, als könne er die Temperatur optisch prüfen. »Wenn das nicht schon passiert ist«, ergänzt er dann.

      Wortlos greift Sarah zu der Tasse, hebt sie an ihren Mund und trinkt einen Schluck. Sie bemerkt nicht, dass Alexander während des Erzählens – wenn auch spät – den Teebeutel für sie aus der Tasse gehoben hat. Sie spürt nicht, dass der Tee tatsächlich schon kälter geworden ist. Sie nimmt nicht einmal den leicht herben Geschmack auf der Zunge wahr. Sie begreift nur, dass sie schon wieder in dieses faszinierende Universum aus Bruno und Lia eingetaucht ist. So, wie es ihr geschah, als auch Bruno von ihm erzählte. Ebenso vor einem Vierteljahr, als sie bei Julia weilte. Sie fühlt sich in die feinstofflichen, geheimnisvollen Erlebnisse hineingezogen wie in einen übermächtigen Strudel. Ein nicht enden wollender Vortex, dem man ein Leben lang nicht entrinnen wird und dessen Fuß auf dem tiefsten Grund dunkler Leidenschaften aufsetzt. Faszinierend und gefährlich zugleich wie der Marianengraben. Lia hatte oft erwähnt, wie sehnsüchtig sie sich dorthin gewünscht hatte, nur ein einziges Mal, auch auf die Gefahr hin, dabei ohnmächtig zu werden. Erschrocken überlegt Sarah, ob sie selbst ebenso von einem Sog aus tiefem, dunklen Grund angezogen wird. Einer, der sie ins Verderben führen wird.

      Als Alexander sie unvermittelt anspricht, verschüttet sie fast vor Schreck ihren restlichen Tee.

      »Weißt du, Sarah«, beginnt er, »ich habe dich beobachtet. Als wir im Sommer bei Julia waren und sie aus ihrem Leben erzählte. Du wirktest auf mich wie ein junges, zartes Pflänzchen, dessen Wurzel zum ersten Mal die Nähe eines Flusses spürt. Du warst so aufmerksam, so sensibilisiert, dass du jeden Tropfen der Erzählungen von Julia herbeigesehnt und aufgesaugt hast. Damals dachte ich, dass du deinen Nährboden gefunden haben und auf ihm gedeihen wirst.« Alexander lehnt sich zurück. »Das ist schon ein Vierteljahr her.«

      Sarah nimmt noch einen Schluck Tee. Als sie schluckt, empfindet sie das Geräusch furchtbar laut.

      »Während ich dir eben erzählt habe, wie ich Julia kennenlernte, beobachtete ich dich erneut.« Alexander wirkt wie ein Juror, der das Zustandekommen eines Prüfungsergebnisses erläutern möchte. Seine linke Hand liegt auf einem Oberschenkel, mit der rechten reibt er konzentriert Daumen und Zeigefinger aneinander. »Was glaubst du, welchen Eindruck du heute vermittelst?«

      Sarah setzt sich aufrecht. »Ich war etwas gedankenversunken«, antwortet sie schnell und will sich für den fast verschütteten Tee entschuldigen. »Bitte verzeih mir das.«

      »Unsinn.« Alexander sieht ihr scharf in die Augen. Er legt seine Hand flach auf den Tisch und sie klopft wie der Hammer eines Richters, der das Urteil verkündet. »Du bist das gleiche zarte Pflänzchen wie vor ein paar Monaten. Vollkommen identisch. Das meine ich. Du sehnst und reckst dich weiterhin. Aber obwohl du längst weißt, wie greifbar nah das Flussbett ist, wächst du nicht.« Die Hand klopft ein letztes Mal. Laut. »Du hast Angst, dass dich die Strömung in die Tiefe reißt.«

      Marianengraben, denkt Sarah. Immer wieder. Marianengraben. Der dunkle Grund. Nie hat sie Julias Faszination für den Sog nach unten besser nachempfinden können als jetzt. Es fehlt nur ein Windhauch, um sie endlich in die Fluten zu stürzen. Innerlich bettelt sie darum, dass Alexander auch das erkennt. Mit zittrigen Fingern stellt sie ihre Tasse ab.

      Alexander beugt sich nach vorn. »Ich verrate dir etwas«, raunt er. Seine Augen werden schmal und sein kantiges Gesicht besteht aus tief überzeugter Ernsthaftigkeit. »Du wirst es anfühlen.«

      Da ist er, der Hauch. Sarah weiß, dass sie gerade jede Form von Halt verliert. An diesem Nachmittag mit seinem unscheinbar trüben Herbstwetter ändert sich ihr Leben. Sie wird den Fluss kennenlernen. Der Mann, der ihr gegenüber sitzt, hat sich hinter ihren Rücken geschlichen und sie vom Ufer gestoßen. Die Frage, wann sie sich in das kalte Wasser traut, stellt sich nicht mehr.

      »Aber wie?«, flüstert Sarah und schaut ihm in die Augen. In ihrer rechten Halshälfte pumpt ein bleischwerer Puls, der fast keine Kraft zum Atmen lässt.

      Alexander verschränkt die Arme. Überlegt. Mindestens sechzig Pulsschläge lang. Dann beginnt er, langsam mit dem Kopf zu nicken. »Ich kann dir helfen«, sagt er. Es klingt nicht wie eine Option, sondern wie ein Entschluss.

      Sarah sitzt regungslos. Ihr »Wie« behält Gültigkeit. Stocksteif wartet sie auf sein Angebot. Und die Bedingungen.

      Alexander greift mit der Hand nach hinten. Als er sie wieder auf den Tisch legt, hält sie ein dünnes Notizbuch in schwarzem, weichem Einband. Es ist kaum größer als eine Streichholzschachtel. Sorgsam schiebt Alexander einen Zeigefinger zwischen die Seiten und klappt das Büchlein auf. »Ich denke, Sarah«, sagt er langsam, während er blättert und sich in den Winkeln seiner Augen Fältchen bilden, »ich denke, dass ich dich mitnehme auf eine kleine, private Feier.« Er tippt mit dem Finger auf einen kritzeligen Eintrag in dem Büchlein. »Da haben wir es doch«, meint er zufrieden. »Dort begegnest du Menschen, die deine Fantasien nicht nur tolerieren, sondern auch verstehen.« Alexander hebt den Kopf und pfählt seinen Blick direkt in Sarahs Augen. »Und ausleben.«

      Sarah weicht zurück. Ausleben? Sie stellt sich fremde, nackte Körper vor, die sich klebrig verschwitzt an sie drängen. Nach ihr greifende, fleischige Hände. Das unangenehm aufkeimende Bewusstsein, nicht mehr »Nein« sagen zu können. Das geht ihr zu weit. Das ist ihr zu schlammiges Wasser. Für den Moment jedenfalls.

      »Du


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