Angefühlt. Jona Mondlicht

Angefühlt - Jona Mondlicht


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von Skulpturen, zu einer massiven Holztür. Rechts und links des Eingangs leuchten Fackeln unruhig gegen die Wände und manchmal spiegelt sich ihr Lichtschein in einem der dunklen Fenster der unteren Etage. Im ersten Stock dagegen sind die zugezogenen Vorhänge von Licht durchdrungen. Auf ihnen mäandern Schatten aus unscharfen Umrissen von Menschen.

      »Hast du noch Fragen?« Alexander schaut kurz zu Sarah, während sie sich der Villa nähern. »Gibt es etwas, das du jetzt geklärt haben möchtest?«

      Sarah fühlt sich aus ihrer Faszination über das alte Gebäude gerissen. Fragen? Natürlich hat sie Fragen, sehr viele, und sie ahnt, es werden nicht weniger heute Abend. Aber sie versteht nicht, was mit Alexander zu besprechen wäre, bevor sie sich von dem Eingang oberhalb der Steintreppe schlucken lassen. Für was es nach diesem Moment zu spät sein könnte. Was sie Alexander nicht mehr mitteilen könnte, wenn sie sich erst in sein Fahrwasser begeben hat. Plötzlich erheben sich in ihrem Magen unzählige saure Monster und stellen unverdauliche Fragen. Was hat Alexander mit ihr vor? Wie wird er sie überhaupt vorstellen und gegenüber den anderen Gästen erklären? Als was betrachtet er selbst sie? Welche Rolle spielt sie hier für ihn? Warum, um alles in der Welt, hat sie sich auf diesen Abend eingelassen?

      Und dann entdeckt sie das Schild, nicht breiter als zwei Handflächen nebeneinander in den Steinen der Mauer neben der Treppe. Die eingravierte Schrift ist bemoost, aber gut lesbar. »Villa Crocodile«, liest Sarah und erinnert sich an alles, was sie zuvor über Krokodile gesprochen hatten.

      Sie spürt ihren Magen krampfen. Atmet tief ein, aber die eiskalte Luft schmerzt in den Lungen. Unvermittelt stoppt sie. Sie kann nicht in diese Villa. Die massive Tür erscheint ihr wie ein Damm, der beim Öffnen alles Flusswasser mit einem Mal entfesseln wird. Sie wird ertrinken darin, denn sie hat doch gar nicht schwimmen gelernt. Noch gar nichts hat sie gelernt und der Mann an ihrer Seite, der sie am Arm hält, stellt sich ihren Sprung ins Wasser vielleicht ganz anders vor als sie.

      »Sarah?« Alexander schaut sie an. Überrascht und besorgt. »Was ist?«

      »Ich kann nicht mitkommen. Tut mir leid«, presst sie heraus und hat Mühe, sich dabei nicht zu übergeben. »Ich glaube, ich bin gar keine richtige Sklavin. Oder was immer erwartet wird. Das waren doch alles nur Geschichten.« Sie drückt sich die Hand vor den Mund.

      »Das kommt gar nicht in Frage«, antwortet Alexander resolut und greift ihren Arm fester. »Du gehst jetzt weiter.«

      Sarah schüttelt den Kopf. »Bitte«, versucht sie es noch einmal, »können wir heute Abend etwas anderes unternehmen?«

      »Nein.« Alexanders schroffe Antwort fällt im gleichen Moment, in dem er sich wieder in Bewegung setzt und Sarah mit sich zieht.

      »Ich bezahle dir die Karte.« Sarah starrt wie gebannt auf die erste Stufe aus Stein, der sie immer näher kommen. Villa Crocodile. Der Kies unter ihren Schnürstiefeletten knirscht kurz und unregelmäßig.

      Alexander lacht. »Ich muss hier doch keine Eintrittskarte kaufen.« Er zieht Sarah unbeeindruckt weiter. »Das würde übrigens auch nichts an meinem Entschluss ändern. Wenn ich dir jetzt das Recht einräume, über den Abend zu bestimmen, wirst du falsch wählen. Dann verpasst du die beste Gelegenheit für den Sprung in den Fluss. Das werde ich nicht zulassen.«

      Sarah riecht bereits die Fackeln, welche an den Seiten der Tür aufgestellt sind. Ihr rußiger Duft überlagert die kalte Luft wie Öl das Brackwasser.

      »Am Ende des Abends will ich dich anhören. Wenn du mir dann sagst, dass all das nichts für dich ist, dass sich deine Fantasien anders anfühlen und dass du künftig an Land bleiben möchtest, werde ich es akzeptieren.« Alexander setzt den ersten Fuß auf die Stufe. »Aber nicht vorher. Nicht jetzt. Nicht hier.« Wie ein Vater seine bockige Tochter zieht er Sarah die Treppe hinauf und stellt sie vor der Tür ab. »Ich bin überzeugt, du wirst mir später sehr dankbar sein, dass ich dir keine Wahl ließ.«

      Sarah fühlt sich wie im Taumel. Dass sie schon auf dem Treppenpodest steht, bemerkt sie nur am Rande. Es ist wie im Sprung: Hat man einmal den sicheren Boden verlassen, stürzt man auf das Wasser zu. Villa Crocodile. Eine Umkehr gibt es nicht mehr.

      Alexander klopft mit der Faust fest gegen das massive Holz der Tür. Mit der anderen Hand hält er Sarah an ihrem Arm. Nicht grob, aber entschlossen.

      Knarrend öffnet sich der Türflügel. Erst einen handbreiten Spalt, dann mehr. Alexander beugt den Oberkörper kurz vor, bis er erkannt ist.

      Ein buckliger Mann zieht die Tür nach innen. Er hält einen dreiarmigen Kerzenständer aus Metall, der schwer und antik aussieht. Die Flammen der Kerzen beugen sich der Zugluft. Sarah schätzt den Mann auf Mitte fünfzig, ist aber nicht sicher, denn das flackernde Licht scheint trügerisch. Sie erkennt dennoch einen schwarzen Anzug, aus dessen Brusttasche die Spitze eines weißen Tuches hervorschaut.

      »Oh, Alexander«, sagt der Bucklige und nickt erfreut mit dem Kopf. »Du wirst oben bereits erwartet.« Dann entdeckt er Sarah. Sein prüfender Blick gleitet an ihr herab. »Und das ist? Ein unbekanntes Gesicht?« In seiner Neugier vergisst er den Kerzenständer und kleine Rinnsale aus Wachs stürzen zu Boden.

      »Eine Novizin«, erklärt Alexander zügig, noch bevor Sarah selbst antworten kann. »Sie begleitet mich heute.« Er greift an den eisernen Kerzenständer und richtet ihn mitsamt der Hand des Mannes wieder auf. »Sie steht in meiner Obhut.« Eindringlich schaut er den Buckligen an. »Und sie verlässt dieses Haus ausschließlich in meiner Begleitung!«

      »Guten Abend«, wispert Sarah gerührt. Sie ist dankbar, dass Alexander ihr zuvorkam. Denn sie selbst hätte vor Aufregung vergessen, ihren neuen Namen zu nennen.

      Der Mann in der Tür entgegnet ihren Gruß nicht. Stattdessen wendet er sich unbeirrt Alexander zu. »Ich wünsche dir viel Vergnügen. Passt auf der Treppe auf, es ist düster hier.« Als er zur Seite tritt, schwanken die kleinen Flammen der Kerzen erneut, richten sich dann aber wieder auf.

      Alexander fasst wortlos Sarahs Arm und schiebt sie durch die Tür. Vorsichtig gehen sie bis zu einer Treppe, die wie eine herabhängende Zunge aus dem oberen Stockwerk lechzt. Über die Holzstufen fließen Wärme, Stimmengewirr und mattes Licht herab.

      »Rose?«

      Sarahs Blicke wandern entlang des geschnitzten Geländers gegen den Strom, bis sie jenen Punkt erreichen, an dem sie auf gleicher Höhe sind mit dem Obergeschoss. Dort oben, denkt sie, warten die Krokodile. Ausgelassen, aber hungrig feiern sie ihre Frischfleisch-Party und gieren nach Nichtschwimmerinnen. Mitten unter ihnen wird sie auftauchen. Und alle werden es sofort bemerken, dass sie neu ist. Und nicht schwimmen kann.

      »Rose!« Alexander drückt kräftig in ihren Arm. »Würdest du jetzt bitte vorangehen?« Er spricht den Satz in ungeduldigem Staccato. Feuert mit seiner Salve in ihren Nebel aus Gedanken. »Du träumst vor dich hin!«

      »Entschuldige«, antwortet Sarah reflexartig und lauter, als gewollt. Vor Schreck entschuldigt sie sich dafür gleich noch einmal.

      Der Mann mit dem Kerzenständer zieht hörbar scharf die Luft ein. Sein Körper strafft sich dabei und seine Augen werden größer als die Flammen der Kerzen. Als hätten ihm die Worte gegolten.

      »Was ist mit dir los?«, flüstert Alexander dicht an Sarahs Ohr. »Erinnere dich, was dir Bruno in seinem letzten Brief geraten hat. Dass du einen Menschen suchen sollst, der zu dir passt.« Er sieht sie an, als schwebe irgendeine Erkenntnis bereits so deutlich zwischen ihren Köpfen, dass Sarah sie endlich bemerken müsste.

      Sie greift instinktiv in ihre Manteltasche und ertastet Papier. Der Brief. Sie hat ihn nach dem Besuch auf dem Friedhof nicht zurück an seinen Platz gelegt. Nun ist er ihr ein unerwarteter Begleiter.

      Alexander nickt mit dem Kopf. »Wenn du Bruno gefragt hättest, wo du mit deiner Suche beginnen sollst, hätte er dich genau hierher geschickt.« Mit einem Arm deutet er auf die Treppe. Den anderen legt er um Sarahs Hüfte. »Wäre er hier«, raunt er dann, »würde er dich wie eine dem Licht zustrebende Seerose hinaufsteigen und an der Wasseroberfläche erblühen lassen.«

      Sarah


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