Angefühlt. Jona Mondlicht

Angefühlt - Jona Mondlicht


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Worte dringen zu ihr durch. »Er braucht das Fahrtziel.«

      Natürlich, die Adresse. Sarah sagt sie ungelenk auf wie einen auswendig gelernten Text, während sich Alexander in das Fahrzeuginnere beugt.

      Er nickt, dann reicht er dem Taxifahrer einen Geldschein. »Das stimmt so.«

      Sarah greift nach Alexanders Unterarm. Im gleichen Moment verstummt ihr Dschungel aus Wurzeln, Krokodilen und reißendem Wasser. »Ja«, sagt sie unvermittelt in die Stille und sieht herauf. »Ja. Ich nehme dein Angebot an.«

      Sein Blick wandelt sich in ein Lächeln. Aber diesmal empfindet es Sarah nicht als dämonisch. Eher als wissend. Als habe er längst geahnt, wie sie sich entscheiden wird.

      »Wir sehen uns«, antwortet er und nickt ihr zu. Nicht mehr und nicht weniger. Dann schließt er die Tür von außen und bleibt mit den Händen in den Taschen am Straßenrand stehen, bis das Taxi den Platz verlassen hat.

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      Kapitel Zwei

      Der Abend ist klar und kalt wie pures Eis. Sterne stechen wie glänzende Nadelspitzen Licht in den tiefschwarzen Nachthimmel.

      Sarah schließt ihren Mantel, aber die frostige Luft kriecht von unten herauf, beißt sich an den Waden vorbei bis in die Oberschenkel. Elegant, hatte Alexander gebeten, elegant solle sie sich kleiden, und als sie gefragt hatte, was er darunter versteht, hatte er ihr einen außergewöhnlichen Theaterbesuch als Vergleich genannt. Nicht glamourös sollte sie wirken, aber besonders.

      Nach einigen Überlegungen hatte sie sich für das lange, ärmellose Neckholderkleid entschieden, aus unschuldig weißem Taft, mit einem nicht zu weiten Ausschnitt, dafür im Rücken geschnürt mit breiten, sich überkreuzenden Stoffstreifen. Die Haare hat sie eingedreht und hochgesteckt, sodass der Verschluss des Kleides sichtbar bleibt, der ein breites Band um ihren Hals bildet. Als sie sich vor dem Spiegel drehte und dabei erahnte, wie sehr sie auf dem Weg zur Veranstaltung die kalte Luft aufwirbeln wird, mussten ihre Pumps Schnürstiefeletten mit Absatz weichen. Und schließlich griff sie im letzten Moment noch zu einem schmalen Gürtel, den sie locker um die Taille legte.

      Alexander streckt sich, beugt den Körper vor und zurück. Eine Stunde sind sie gefahren bis hierher, in seinem flachen Sportwagen, dessen Schnelligkeit er lobte, während er die Enge verschwieg. »Du kommst zurecht?« Seiner Stimme folgt ein feiner, hauchgewordener Atem.

      Sarah nickt. »Mir ist ein wenig kühl«, untertreibt sie und verschränkt die Arme vor dem Mantel. Unter ihm verbirgt sie ein Zittern, das nicht nur von Kälte, sondern auch von Aufregung getrieben wird. Sie war noch nie zu einer Veranstaltung eingeladen, auf der ihre Leidenschaft eine wesentliche Rolle spielt. Es geschieht überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie sich zu ihrer Neigung so öffentlich bekennt. Seit Tagen hat sie überlegt, wie es sich anfühlen wird, plötzlich Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein. Nicht nur von Anderen zu wissen, sondern auch damit umzugehen, dass man über sie weiß. Stets erlag sie kleinen, aber hinterhältigen Panikattacken, wenn sich der näherrückende Termin im Kalender aufdrängte. Mehrfach erwog sie, die Einladung doch noch auszuschlagen, ihre Zusage zurückzunehmen, sich notfalls zu verkriechen. Aus Angst vor den Menschen, denen sie begegnen wird. Was, fragt sie sich, sollten es lauter Krokodile mit Gelfrisur sein, die sich im Schlamm abartiger Fantasien suhlen und auf Frischfleisch warten? Wie soll sie mit ihrer blütenweißen Neugier vom Flusswasser probieren, während es von unten her nach ihr schnappt?

      »Sie sind alle wie du«, versichert Alexander. Ihm ist Sarahs Zittern nicht entgangen und er weiß, dass ihr die Kälte nur ein Vorwand ist. »Du brauchst dich niemandem erklären.« Kurz überlegt er und lächelt dann. »Wenn du in die Oper gehst, musst du deinen Musikgeschmack nicht vor dem Sitznachbarn rechtfertigen, oder?«

      »In der Oper«, kontert Sarah, »gibt es keine Krokodile.« Es klingt schärfer, als es gemeint ist, weil ihr die Kälte auf den Oberkörper presst.

      Alexander überlegt kurz, dann begreift er. »Du stehst heute unter meinem Schutz. Das habe ich dir versprochen.« Er legt eine Hand an Sarahs Oberarm und reibt über den Stoff des Mantels. »Vertrau mir.«

      Würde sie das nicht tun, denkt Sarah, bliebe sie nicht hier. Bislang hat sie keinen Grund, misstrauisch zu sein. Letztendlich wäre es dafür ohnehin zu spät, nachdem sie Alexander im Taxi unfreiwillig ihre Adresse genannt hatte. Als er sie heute abholte, überzeugte er in einem feinen Smoking, mit einer weißen Fliege, die unabgesprochen zu ihrem Kleid passte. Und mit einem Kompliment, das so spontan aus seinem Mund kam, dass es nichts anderes als ehrlich gemeint sein konnte. »So schön und geheimnisvoll wie eine Seerose siehst du aus«, hatte er gesagt. »Fürwahr. Wunderschön.« Und dann fehlten ihm einen Moment lang die Worte, bis er sich schließlich guter Manieren entsann und sie höflich begrüßte.

      »Ich vertraue dir«, bestätigt Sarah. Sie schaut zu Alexander auf und versucht ein sicheres Lächeln. Es gelingt ihr halbwegs.

      »Eines noch. Ich werde dich heute Abend nicht mit deinem richtigen Namen anreden. Jeder hier macht das so. Selbst wenn man sich persönlich bekannt ist.« Alexander sieht sie eindringlich an. »Es geht um Diskretion. Und um Sicherheit. Auch um deine.«

      Sarah holt tief Luft. Plötzlich fühlt sich der Abend doch nach Risiko an. »Ich vertraue dir«, wiederholt sie schnell. Ein Mantra, mit dem sie sich selbst Mut zuspricht. »Aber das hättest du mir wirklich früher sagen können.«

      »Wozu?«, entgegnet Alexander ungerührt. »Es ist rechtzeitig genug.« Er schaut an ihr herab, überlegt kurz und kneift dabei die Augen zusammen. »Rose wirst du heißen. Das passt.« Er spricht das Wort amerikanisch, höhlt das O und unterdrückt das E. »Rose.«

      Das klingt furchtbar pathetisch, denkt Sarah und kann sich trotz ihrer Unruhe ein Lächeln nicht verkneifen.

      »Dein Kleid«, erklärt Alexander, »fiel mir zuerst auf, als ich dich heute Abend abholte.«

      Sarah nickt verlegen. »Eine frierende Seerose in eiskaltem Wasser«, komplettiert sie sein Bild. Bereits bis zur Hüfte hinauf fühlt sie sich unterkühlt.

      Alexander reibt die Hände aneinander und atmet eine weitere Nebelwolke in die Luft. »Du hast recht. Wie unaufmerksam von mir. Wir sollten gehen.« Entschlossen reicht er ihr den Arm. »Bist du bereit, Rose?«

      »Bringen wir es hinter uns«, antwortet Sarah diplomatisch. Als würde sie zu einer Schlachtbank gebracht. Und ein wenig kommt sie sich auch so vor. Sie hakt sich ein und lässt sich von Alexander führen.

      Sie verlassen den kleinen Parkplatz durch ein seitlich gelegenes, offenstehendes Tor. Ein Kiesweg, der nur spärlich von alten Laternen beleuchtet ist und beständig unter den Schuhen knirscht, führt durch ungepflegte Ligusterhecken. Ihre blattlosen Äste werfen knöchrige Schatten, die sich – während man an ihnen vorübergeht – ineinander verhaken und ein lebendiges Spinnennetz aus Strichen bilden. Sarah findet das gruselig und rückt näher an Alexander. Gerade will sie ihn an seinen Vergleich mit dem außergewöhnlichen Theaterbesuch erinnern und fragen, ob er sich vielleicht in der Vorstellung vertan hat, als sich der Weg unerwartet nach rechts wendet.

      Sarah bleibt stehen. Überrascht und beeindruckt zugleich. Sie hat die Spinne entdeckt, die im Zentrum des schaurigen Netzes aus Ligusterhecken wartet. Denn vor ihr öffnet sich eine Wiese, über die der Kiesweg zu einer einzeln stehenden Villa führt. Er ist gesäumt mit Kerzenlichtern, deren Flämmchen aufgeregt zappeln und mit Schatten um sich werfen. Wie kleine Leuchtfeuer, die zum Eingang des Gebäudes locken.

      »Das ist …« Sarah fällt kein passendes Wort ein. Ihre Aufregung vervielfacht sich.

      »Romantisch?«, versucht es Alexander. »Opulent? Damit hättest du nicht gerechnet?«

      Sarah schüttelt den Kopf.

      »Dann warte ab, bis wir drinnen sind.« Alexander setzt sich schmunzelnd in Bewegung und zieht Sarah ungefragt mit sich.

      Jeder


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