Angefühlt. Jona Mondlicht
der Hand zu behalten. Geübt schlängelt sie sich an den wenigen Tischen vorbei und als sie schließlich ankommt, ist sie außer Atem von dem kleinen Stück Weg. »Darf ich«, fragt sie gehetzt, »etwas bringen?«
Alexanders Mimik verändert sich augenblicklich. Langsam wechselt er den Blick von Sarah zu der jungen Frau und sein Lächeln vertrocknet. »Einen schönen Tag wünsche ich«, entgegnet er schließlich konzentriert und mit tadelnder Stimme. »So viel Zeit und Höflichkeit sollte sein, da geben Sie mir sicherlich recht, oder?«
Sarah senkt ihren Kopf und schaut auf die Tischdecke. Sie fühlt sich unwohl. Kurz erwägt sie, die unangenehme Situation mit einem Scherz zu entschärfen. Aber sie unterlässt es. Es ist Alexanders Auseinandersetzung. Nicht ihre.
Die Frau dreht ihren Notizblock in der Hand und schlägt die erste Seite nach oben. »Es empfiehlt sich hier nicht immer, einen schönen guten Tag zu wünschen«, sagt sie selbstbewusst. »Jedenfalls nicht, wenn die Gäste von einem Besuch auf dem Friedhof kommen.« Mit einer Kopfbewegung deutet sie in Richtung der Glastür. »Entschuldigen Sie bitte, das ist nicht unhöflich gemeint. Aber uns begegnen überdurchschnittlich oft Menschen, die gerade eine Urnenbeisetzung bedauern mussten. Es irritiert, wenn ich ihnen einen großartigen Tag wünsche.« Ihr überlegenes Lächeln senkt sich unerbittlich auf Alexander hernieder, der von seinem Stuhl heraufschaut und die Augenbrauen wölbt.
Sarah riskiert einen Blick zu ihm und bemerkt mahlende Wangenknochen. Brodelnd wägt er eine Antwort ab. Es schmeckt ihm offensichtlich nicht, auf eine Belehrung hin selbst belehrt worden zu sein.
»Einen Tee. Rooibos. Heiß. Für die schweigende Dame mir gegenüber«, knirscht Alexander schließlich und weist mit der Hand auf Sarah. »Und einen Kaffee für mich. Schwarz, pur und stark. Den brauche ich jetzt. Danke.«
»Prima! Kommt sofort!« Die Frau lässt ihr Lächeln genussvoll über den Tisch schwappen, schaut sich triumphierend um und fließt dann gemeinsam mit ihm ab. Während sie sich entfernt, kritzelt sie fahrig auf ihren Notizblock. Als notiere sie stolz, gerade einen Löwen erlegt zu haben.
»Sie«, sagt Alexander langsam und wendet sich Sarah zu, »ist ganz anders als du.« Sein Blick hellt sich wieder auf. »Niemals hättest du dich so verhalten.«
Sarah hebt ruckartig den Kopf und räuspert sich. Sie weiß nicht, ob die Bemerkung als Kompliment gemeint ist oder nicht. Schätzt er sie wenig selbstbewusst ein? Glaubt er, sie würde alles hinnehmen? Hält er sie für eine Frau, die nicht ihre Meinung vertritt?
»Moment«, widerspricht sie protestierend. »Ich sage durchaus, was ich denke!«
»Das will ich hoffen«, entgegnet Alexander. »Aber darum geht es nicht.« Er lehnt sich nach hinten und lässt sich nicht von der knarzenden Stuhllehne irritieren. »Du würdest dich niemals so verhalten in der gleichen Situation.«
»Wie dann?« Sarah überlegt, was sie anstelle der blonden Frau geantwortet hätte. Außer, dass sie andere Worte gewählt hätte, fällt ihr keine bessere Antwort ein. Immerhin, ihr Gegenüber war davon beeindruckt. Ganz offensichtlich.
Alexander wiegt den Kopf. »Machen wir ein Experiment. Ich werde es dir beweisen.«
Neugierig rutscht Sarah auf dem Stuhl nach vorn und lehnt sich gegen den Tisch.
»Ich bin gespannt«, sagt sie aufgeregt und bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was muss ich tun?«
»Nichts.« Er reibt sich die Hände, verschränkt dann die Finger und stützt seinen Kopf ab. »Weißt du eigentlich, wie ich Julia kennengelernt habe?«
Sarah erinnert sich, dass Lia von einem Korsett erzählte, welches Alexander bei Bruno in Auftrag gegeben hatte. Lia war es, an der es entworfen und anprobiert worden war. »Ich weiß, dass du in Brunos Lederwerkstatt warst. Vielleicht dort?«
»Das ist richtig.« Er nickt bestätigend. »In der düsteren Werkstatt traf ich tatsächlich zum ersten Mal auf Lia. Es muss irgendwann im Herbst gewesen sein, denn ein heftiger Sturm drückte gegen die schmalen Oberlichter des hohen Raums.«
»Lia, komm bitte hierher!« Bruno strich mit den Händen über die Lehnen seines großen Sessels, der wie ein Thron wirkte. Er tat es beiläufig, als wolle er Staub von ihnen wischen. Dabei war das abgewetzte Leder so sauber wie das alte Sofa auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem ich es mir gemütlich gemacht hatte. Doch die Geste passte zu Bruno, wie er da saß in einer Strickjacke, die großväterlich anmutete, mit großen Knöpfen auf der Vorderseite und zwei ausgebeulten Seitentaschen, in der er eine ganze Hand hätte vergraben können. Stattdessen kramte er eine geschwungene Pfeife hervor und einen kleinen, braunen Lederbeutel. Beides legte er bedächtig vor sich auf den Tisch.
Ich hatte es mir gemütlich gemacht, die Beine übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Lehne gestützt.
Hinter mir vernahm ich eilige Schritte und blickte erstaunt über die Schulter hinweg. Ich sah den Vorhang, der die Werkstatt vom Wohnbereich trennte, und ich sah eine Hand, die den Stoff beiseitezog.
»Oh«, entfuhr es mir. Nicht nur, weil ich bis dahin geglaubt hatte, mit Bruno allein zu sein. Wir hatten Geschäftliches besprochen und Details unserer Unterredung waren – sagen wir – so individuell, dass ich sie nicht im Beisein von Dritten hätte erwähnen wollen. Schon gar nicht vor der Frau, die sich eben zwischen Durchgang und Vorhang hindurchschlängelte. Ich kannte sie nicht.
Während ich mich erhob, um sie zu begrüßen, nutzte ich meine Bewegung für einen flüchtigen Blick. Das schnell skizzierte Bild zeigte Wollsocken, Jeans und eine schlanke Taille, an die sich eine weiße Bluse schmiegte. Schwarze, lange Locken umflossen ein hübsches Gesicht und fielen über ein dunkelgrünes Tuch, das leger auf ihren Schultern lag. Ich schätzte die Frau auf fünfunddreißig Jahre – deutlich älter, als ich selbst war zu diesem Zeitpunkt. Zu mehr war keine Gelegenheit, wenn ich nicht den Sekundenbruchteil verpassen wollte, in dem aus höflichem Wahrnehmen Aufdringlichkeit wächst.
»Ich möchte dir Julia vorstellen«, erklärte Bruno mit zufriedener Stimme. »Sie ist …« Er überlegte kurz und ich erwartete, dass er mich über ihre Beziehung zueinander aufklären wollte. Er entschied sich anders. »Sie ist eine ganz bemerkenswerte Frau.«
Als ich fragend zu ihm sah, schmolz sein Gesicht zu einem amüsierten Lächeln. Ich ahnte, dass sie weder der Familie noch dem Kundenkreis angehörte.
Julia ließ mir keine Zeit für weitere Mutmaßungen. Sie senkte kurz den Kopf und ich wertete es als Verlegenheit, anschließend schenkte sie mir neben einem leise gesprochenen »Guten Tag« ein herzliches Lächeln.
Bruno wies mit der Hand in meine Richtung. »Das ist ein guter Kunde von mir«, fuhr er fort, »und ich denke, wir werden in den nächsten Wochen deine Hilfe benötigen. Du nennst ihn Alexander.«
Ich war nicht überrascht. Dass Bruno ihr diesen Namen nannte, bestätigte meine Vermutung, dass ihn mit Julia eine besondere Beziehung verband.
Sarah ist irritiert. »Moment bitte«, unterbricht sie die Erzählung und stört sich auch nicht daran, dass Alexander die Augenbrauen nach oben zieht.
»Julia sollte dich Alexander nennen?« Sie lehnt sich zurück und knetet ihre Unterlippe zwischen Zeigefinger und Daumen.
»Ja.« Er wiegt den Kopf hin und her. »Er hat mich vorgestellt, mehr nicht. Das macht man doch so, oder?«
Sarah gibt sich damit nicht zufrieden. Wenn man stolpert, schaut man sich schließlich nach dem Hindernis um. Auch wenn es nur eine Formulierung ist, an der man hängenblieb. Sie kneift die Augen zusammen. »Welchen Namen hätte er sonst nennen sollen?«
Alexander richtet den Blick an ihr vorbei. Als Sarah Schritte hört, begreift sie den Grund seiner Ablenkung.
»Einen Tee, einen Kaffee«, rezitiert die Blondine die Bestellung. Auf ihrer linken Handfläche balanciert sie ein kleines Tablett aus buntem Plastik. Geübt greift sie mit der anderen Hand die Tassen und schiebt sie auf den Tisch. »Heiß und frisch«, ergänzt sie lächelnd, während sie neben der Kaffeetasse ein Milchkännchen